Hexenwerch

Chimäre Ich

Ich habe nur, was ich kann. Bringe mit, wie ich atme. Sonst nichts. Habe nicht einmal mich. Niemand hat irgendetwas. Ich bin absichtslos. Ich habe Bedürfnisse, Sehnsüchte, Ängste und Freuden. Ich habe ein Bild von mir. Das Bild bin nicht ich. Das ist jemand, den ich annehme für mich, und das tue ich nur, weil es jemand anderen gibt, der nicht ich ist, der mir Spiegel ist, dem ich Spiegel bin, der nicht nur sich mitbringt, sondern auch diesen Menschen, den er sieht, wenn er auf mich reagiert. So bin ich etwas, was ich nicht bin. Bin eine Chimäre. Für mich und den Anderen. Nichts sonst. Habe nur das. Weil ich sie sehe durch dich, siehst du deine durch mich. Doch ist eine Chimäre immer eine Chimäre. Der Wunsch eines Werdens, einer durch Austausch erzeugten Annahme von mir. Das ist es, was ich kann, und ich kann es auch nur durch dich, durch deine, die ich sehe, deiner nicht gleich. So habe ich nichts. Habe eine Annahme, habe ein Bild von mir. Meine Bedürfnisse, Sehnsüchte, Ängste und Freuden inkarnieren es.

Habe nichts. Nicht einmal mich. Nur das: Den Wunsch eines Werdens. Das könnte eine Absicht sein, die ich doch nicht haben kann, denn: Die Illusion ist, so sagte Aragon es schon, das Fleisch auf den Dingen. Und so werde ich niemals ganz werden, was ich für mich annehme, sein will. Ich würde zu einer Illusion, in der sich meine Seele löst, wieder einswird mit dem Universum, weil alle meine Bedürfnisse, Sehnsüchte, Ängste und Freuden dann nicht mehr sind. Ich wäre die Ausgeburt meiner Phantasie. Wäre eine Erdichtung. Wäre eins mit dem Universum, wäre Alles und wäre gleichzeitig nicht. Ich wäre wohl heil. 

Hexenwerch

Subsistenz ( I put a spell on you)

Ich zog meinen Mantel aus, steckte die Hörgeräte in eine der Taschen. Hatte den Tag, jedes Wort nun bewältigt, obwohl ich nichts bewältigen wollte. Nein, ich wollte nichts bewältigen. Auch gingen mich diese Worte nichts an. Ich versuchte wieder etwas fern der Regulierung wahrzunehmen. Meine Ohren haben solchen Dingen immer den Vorzug gegeben. Das Unhörbare wahrgenommen. Das Nichtgesagte. Die stumme Liebkosung, die sich manchmal durch ein labendes Flüstern verrät, zu dem sie wird und so doch zur Welt kommen will. Ich sehnte mich alltäglich nach dem großen Hörverlust, der mich endlich ausgliederte. Ich lief durch den Flur unserer Gespräche. Das dauerte. Dauerte, je mehr ich mich in ihnen verlor. Draußen wuchs Schnelleres. Hier drinnen wuchs ich. Der Teppich dämpfte meine Schritte. Die Muster durchwandelten sich gegenseitig, durchwandelten ihren roten Wirt, formierten sich jedoch gleich wieder, die Energien, die Wärmen, die meine Fußabdrücke hinterließen, zu nutzen, sie zu speichern. Sie wollten nicht den Körper, der in sie schritt. Er gehörte nicht zu ihnen. Hier, wo wir waren, waren wir. Hier wurde der Alltag nicht bewältigt, wurde nichts hart berührt. Wurde nichts unempfänglich gemacht. Hier streiften wir die Dinge mit unserer Anwesenheit. Ich kniete mich ins Rot hinein. Die Wärme gab die Haut wieder frei. Muster leckten sie wach.

Hexenwerch

Stille

A: Fangen Sie einfach an. 
D: Ich habe Angst.
A: Vor was?
D: Vor nichts.
A: Was ist nichts?
D: Die Ungebärde. Der musiklose Automat. Laute Frauen zerstückeln Orpheus.
A: Haben Sie das denn gesehen?
D: Ja! Sie nicht?
A: Wieso sind die laut?
D: Sie kennen die Stille nicht. Stille ist Empfang.
Ich empfange dich in meiner Stille. Ich zerstückele dich nicht.
Nicht in meinem Haus. In meinem Hauthaus hält die Sprache an.
Bewegen sich Zweige. Bewege ich mich.
Manchmal instabil. Weil Lärm droht.
A: Was für Lärm? Und wieso droht er Ihnen?
D: Applaus!
Weil die klatschen und applaudieren wollen.
Weil sie analysieren wollen, was von der Musik übrig geblieben ist.
Für ihr Gehör.
Deswegen sind die so laut, wenn sie ihn zerstückeln.
Sie hören die Musik der Stille nicht mehr.
Nicht den Wald. Nicht den Berg. Das Meer. Die Wüste.
Sie müssen selbst laut sein.
Sonst sind sie nirgends.

Lumiere

Minga 1

Um uns auf der Metalbörse, vor allem für Vinyl, unserer Taler zu erleichtern, sind wir Zwei mit dem Zug nach München gefahren. Du seit 5 Jahren einmal wieder, ich zum ersten Mal. Nebenher drehten wir eine neue Folge für unseren Metal-Youtube-Kanal, der seit Anfang Februar diesen Jahres besteht. Wir hatten jede Menge Spaß und so verflog die Zeit in Windeseile. Daher ist bereits beschlossen: Wir kommen wieder! Die Pinakothek, der Englische Garten und noch anderes wartet.

Kluge Hausfrau

Früher hatte man noch Namen

Emma, gib‘ Mamas Handy her! Emma! – Gott, was für ein Gekreische, das da von den heute typisch ungeschminkt blasswangigen Weleda-Gesichtern durch das Wartezimmer der Praxis meines Gynäkologen galoppiert. Weleda? Das war doch ein Wischmopp, nach dem alle Hausfrauen der 90er Jahre gegriffen haben, weil die Werbung ihnen versprach, sich nach dem Lappen nicht mehr bücken zu müssen. Alles sauber aus dem Stand!

Und so soll’s wohl heute modern sein, sich abgeschminkt zu zeigen, und sein zopfiges Balg, dem man im Fettzwergenalter, in dem man noch mehr schwankt als selbstbewusst von A nach B sein Dasein fortzusetzen, offenbar affige Haarlänge zugesteht, während man sich selbst mit Ende Zwanzig alle zwei Wochen zur Schur begibt, weil Frau sich heute kurzhaarsportlich an den Mann und Arbeitgeber bringt. Statt der Zeitung die Faszienrolle unter’m Arm. Und die habe ich mir, als ich mal wieder Lust hatte im Sanitätshaus nach atmungsaktiven ledernen Damenschuhen zu schnuppern, gleich einmal zeigen und erklären lassen. Das ist eine Art Yoga-Indien-Brahma-Kautschuk-Rolle, mit der man sich die verkleisterte Muskulatur wieder glattwalzen kann. Nur das man selbst das Nudelholz ist, das man über die Rolle ziehen muss.

Unsereins brauchte früher nichts anderes als Merz Spezial Dragees, eine kleine Pulle Rotbäckchen in der Handtasche und ein nach Zitrone duftendes Erfrischungstuch. Ach ja, und früher, da hatte man ja noch Namen. Da hie? man Hedwig, Berthamaria-Lilli oder eben Renate. Aus dem Lateinischen stammend (Moment, ich muss erst voller Stolz Atem holen): Renata, die Wiedergeborene! Man hat ja schließlich als Kluge Hausfrau der 4buchstabigen Teufelsbrut durch die Jahrhunderte einen Exorzismus entgegenzusetzen. Nomen est Omen. (Ich frage mich ohnehin, warum man die kleinen Dinger nicht einfach ABCD ruft). Man gönnt seinen Kindern ja heute Alles und Nichts.

Emma heißt ja nix. Na gut, nix stimmt jetzt auch nicht. Ich habe mal nachgeschaut, es bedeutet allumfassend (ich stell mir da die plautzigen Hände von meinem Männchen vor) und soll ein eigenständiger Name sein. Ja nun.

Aber – um dem Teufel mal aus dem Bett zu kraulen – wenn wir Weiber das Ganze rückwärts lesen, schiebt doch glatt die AMME ihr Schnäuzen aus dem Namen hervor, mit Zitzen wie eine birnenförmige Apfelsine. Von welcher Eigenständigkeit sprechen wir denn da? Und allumfassend? Meiner Seel! Das entspricht ja nur dem Entschluss, sich schon elterlicherseits für gar nichts entschieden zu haben. Was soll dann aus dem Kinde werden? Vielleicht braucht es auch schon eine Faszienrolle.

Ich sag nur: Á la belle poule! Die Damen im 17 Jh. haben sich, als das mit der Hygiene nicht so en vogue war, weil man noch keine Runst empfand, dem auf den Pelz zu schauen, was da inkognito keimte, sogar Flaggschiffe in ihre aufgetürmten Haarhauben setzen lassen, um die Nackenmuskulatur zu stärken.

Bouquinist

Krabat / Otfried Preußler

Wie viele der klassischen (und guten) Kinderbücher hat auch Krabat von Otfried Preußler das Potenzial, Leserinnen und Leser unterschiedlichen Alters anzusprechen.

Der in der Tschechoslowakei geborene Preußler war einer der beliebtesten und bekanntesten Kinderbuchautoren Deutschlands. Noch als Jugendlicher wurde er zur Armee eingezogen und musste nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fünf Jahre als Kriegsgefangener in der Sowjetisch- Tatarischen Republik überstehen. Danach wurde er Schullehrer, ein Beruf, dem er trotz seines Erfolges als Schriftsteller viele Jahre lang treu blieb. Sein Debüt im Jahre 1951, Das kleine Spiel vom Wettermachen, verkaufte sich weltweit 7,5 Millionen Mal. Seine Geschichten, die in 55 Sprachen übersetzt wurden, beschwören magische Welten herauf, die von übernatürlichen Wesen bevölkert sind; seine Lebensaufgabe, so erklärte er einmal, war es, Nahrung für die Fantasie zu liefern. Für Krabat zeichnete er die Volksmärchen nach, die er als Kind liebte, und gründete das Buch auf einer wendischen Legende. Aber es ist Preußlers eigene Erzählkunst und Atmosphäre, die diesen Bildungsroman, der auf gotischen Horror trifft, zeitlos und prächtig zu einem unheimlichen Original machen.

Nach dem Ende der Welt im späten siebzehnten Jahrhundert, wandert ein vierzehnjähriger Waisenjunge namens Krabat bettelnd von Stadt zu Stadt. Er ist nicht etwa verbittert aufgrund seines Loses. Schließlich kennt er nur dieses Leben am Rande eines Krieges, der später der Dreißigjährige Krieg genannt werden wird.

Als Krabat vom weltlichen Lehrling zum Schüler in der schwarzen Meisterschule übergeht und mehr über seine Situation erfährt, beginnt er zu erkennen, dass die Macht, die die Lehrlinge ausüben, und die relative Sicherheit ihres Lebens in der Mühle einen schrecklichen Preis haben. Niemand kann der Mühle wirklich entkommen, und jedes neue Jahr stirbt einer der Männer des Meisters unter mysteriösen Umständen. Dunkle Magie, zunächst nur in heimlichen Schimmern sichtbar, unterstützt das isolierte Unternehmen der Flucht.

Man kann Krabat auch als postapokalyptische Fiktion lesen. Der Dreißigjährige Krieg, geboren aus unzähligen verschleierten Gründen, führte zu tiefgreifenden Verwüstungen in der Mitte Europas. Die Sterblichkeitsrate im Heiligen Römischen Reich belief sich auf bis zu achtzig Millionen Menschen. Ausländische Söldnerarmeen sollten vom Land leben (bellum se ipsum a let – der Krieg wird sich selbst ernähren), und die Armeen schändeten es bis auf die blanken Knochen. Kämpfe, Hungersnöte, unmögliche Steuern, Staatsbankrott und Krankheiten zerstörten ganze Stadtteile. Kannibalismus (vor allem fraßen Erwachsene Kinder) wurde 1638 in der belagerten Stadt Breisach dokumentiert. Zeugnisse sprechen von ganzen entleerten Dörfern, von Wölfen, die in riesigen Rudeln durch die Straßen der Stadt streiften und Vieh, Haustiere und Menschen ohne Furcht töteten. Das Ausmaß der Zerstörung war erschütternd, entsetzlich, schwer zu ergründen.

Allerdings ist Krabat eine sanftmütige Geschichte. Die Katastrophen des Krieges sind nur gedämpft vorhanden. Die Eltern von Krabat sind an der Pest gestorben, und die Armee ist bestrebt, sich den kostbaren Ressourcen der Mühle zu versichern und ihre Burschen in ihre Reihen zu zwingen. Der Meister der Mühle hat als junger Mann vor einer Generation selbst im Krieg gekämpft, und er benutzt seine schwarzen Künste, um noch immer mitzumischen. Der Schrecken ist zu einem festen Bestandteil des Lebens geworden.

Anstatt sich auf eine harte, moralisierte Konfrontation zu konzentrieren, beschäftigt sich Krabat mit den subtilen Nexuspunkten, an denen sich Macht, Wissen und Schuld treffen. Die Magie, die der Meister ausübt, hält ihn am Leben und verewigt die Arbeit der Mühle, aber diese Arbeit ist beunruhigend zwecklos. Einmal im Mondzyklus kommt der Mann mit der Hahnenfeder, der scheinbare Chef des Meisters, der nie explizit als der Teufel bezeichnet wird und der nur einmal im Roman überhaupt spricht, um Säcke mit einer mysteriösen Substanz abzuholen. Krabat erblickt auch nur ein einziges Mal, was in diesen Säcken ist – Knochensplitter und Zähne – bevor er auf magische Weise gezwungen wird, zu vergessen.

Abgesehen von der Aufgabe, die von einem Gefühl der Dringlichkeit umgeben ist, scheint die ganze andere Arbeit, um die Mühle am Laufen zu halten, eine Art grausame Farce zu sein. Die Männer mahlen Getreide, aber es ist nie die Rede davon, es auch zu verkaufen, und es gibt keinen regelmäßigen Kontakt zu den Dorfbewohnern oder zu anderen Mühlen, um dies zu tun. Die Mühle existiert ausdrücklich, um die Unsterblichkeit des Meisters zu sichern. In dieser sinnlosen, schweren Arbeit liegen die Echos von faschistischen und kommunistischen Arbeitsprojekten, von Stalins kilometerlangen Kanälen, die letztendlich nur dazu gedacht waren, den Gefangenen in den Gulags, die diese Kanäle gegraben hatten, ihre Wertlosigkeit vor Augen zu führen. Die unmarkierten Gräber der Männer, die in der Mühle gestorben sind, um den Meister zu erhalten, und der Konsens der Gruppe, dass die Toten vergessen werden müssen, scheinen unheimlich aktuell zu sein.

Die Männer lernen Magie, aber nur so viel, wie sie wollen – es gibt keinen Anhaltspunkt für klare Ziele, und der Meister kümmert sich nicht darum, wie sie vorankommen. Sie hecken unschuldige Streiche aus, aber ihre Wesen sind eher individuell als kollektiv bösartig. Der verdrießliche Spion, der das Verhalten der Männer dem Meister meldet, ist nicht wie der anständige Vorarbeiter der Mühle, der auf die Probleme anderer mit Empathie reagiert. Es gibt keine faustische Selbstherrlichkeit, die mit diesem Teufelsgeschäft verbunden ist, und in der Tat gibt es wenig Beweise für einen konkreten Pakt.

In der Welt von Krabat ist Anstand letztlich das Einzige, worauf man sich verlassen kann. Irgendjemand wird immer klüger sein, und es wird immer Dinge geben, die man nicht versteht – alles, was man tun kann, ist, einen persönlichen Gerechtigkeitssinn zu entwickeln und zu hoffen, dass das ausreicht, um größere Veränderungen zu bewirken. Einfache menschliche Verbindungen, die den deformierenden Auswirkungen situativer Unterdrückung unterliegen, können erlösend sein und sind es wert, kultiviert zu werden.

Vielleicht ist das Nützlichste für einen erwachsenen Leser von Krabat der traurige und düstere Trost, der sich in der Inszenierung nach dem Ende der Welt verbirgt. Die Welt ist schon mal untergegangen. Wir selbst leben mit und in einer Geschichte, die von vergangenen Apokalypsen geprägt ist. Alle von ihnen waren schrecklich. Als Genre-Leser und Bürger in schlechten, unruhigen Zeiten sind unsere Gedanken voller katastrophaler Möglichkeiten. Es ist vielleicht nützlich, sich vor Augen zu halten, was bereits geschehen ist, und die arrogante Unmittelbarkeit unserer Probleme mit einem vernünftigen Maß an historischem Relativismus in Einklang zu bringen.

Journal

Alien – Xenomorphe

Giger Alien von Pablo Municio
HR Giger-Ausstellung in Wien; (c) Pablo Municio

Starbeast sollte es ursprünglich heißen, wie auch der erste Film selbst. 6 Hauptfilme kann es seit 1979 bereits verbuchen. Nicht alle stammen von Ridley Scott, es drehte auch David Fincher (Alien 3), sowie James Cameron (Aliens – Die Rückkehr.) Auch 2 Crossoverfilme (Alien vs. Predator I / II) gehören dazu. Science-Fiction ist es. Und doch entspringt es offenbar einem uns sehr nahen Horror, der nicht erst das Jahr 2122 braucht. Eine Mutter und zwei Väter hat es. Ein Elterntrio, das sich namentlich sehen lassen kann: HR Giger, Ridley Scott und Sigourney Weaver. Einen Oscar hat es Giger eingebracht, in der Kategorie Visuelle Effekte. Selbst ist es sehr daran interessiert, viele viele Abkömmlinge zu haben. Derlei viele, dass wir sehr schnell verstehen, dass es dieser Spezies allein um die Zeugung neuer und eigenständiger Nachkommen geht, um die Sicherung seiner Art, um die Sicherung eines Bestandes, der die ultimative Vermehrung der Anzahl der eigenen Exemplare ins Auge gefasst hat.

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Brouillon

Manchmal suche ich etwas in den alten Notaten

Nur um die Maschine zu wechseln war ich in den Keller hinabgestiegen, aber wie immer, wenn ich in den Katakomben aus Büchern und Notizen krame, nehme ich etwas mit nach oben. Diesmal war es neben der Maschine eine Tüte, in die ich vor langer Zeit an mich gerichtete Briefe und Karten gestopft hatte; außerdem einige Notizbücher aus den 1990er Jahren, vorrangig jene, die meine „Mexikanischen Impressionen“ von 1993 enthielten.

Sie scheinen mir heute genauso wenig wichtig zu sein wie die Dokumente, die ich während meiner zweiten Europareise 1996 unterwegs verfasste, und doch zieht mich das billige Papier – zumindest ästhetisch – an. Manchmal suche ich etwas in den alten Notaten, etwas, das ich vergessen haben könnte, zum Beispiel den Grund meiner Rastlosigkeit und des Aufbruchs. Aber ich finde meist nur ein längst vergangenes Leben und schlecht geschriebene Phrasen. Mir fällt auf, dass ich vor 2005 zwar viel geschrieben, aber nichts fabriziert hatte, dessen man sich nicht schämen müsste. Immerhin war ich 35 Jahre alt, als ich die ersten Sätze zu Papier brachte, denen ich auch heute noch Gültigkeit zuerkenne, alles was vor meinem Leben in der Schweiz lag, ist nahezu eine Katastrophe.


Ich lese, um etwas über das Leben herauszufinden (um ehrlich zu sein, ist mir das bis heute nicht gelungen), eine andere Möglichkeit hat sich mir nie erschlossen. Ich hatte das Glück, viele Drogen nehmen zu können, was ein dürftiger Ersatz ist, aber ein Ersatz – einerseits für die Lektüre, andererseits für das Träumen. Heute gelingt mir letzteres auch am Tag und ich benötige keine Drogen mehr. Der Schlaf aber ärgert mich mittlerweile, weil ich in diesem Zustand nicht lesen kann, und an meine Träume erinnere ich mich nicht, weil ich schreibe, was ich schreibe, also einen Ersatz dafür habe. Erst wenn ich etwas aufgeschrieben habe, weiß ich, was ich geträumt hätte.

Journal

Suspiria / Dario Argento

Suspiria
Suspiria
©Gloria

Über 40 Jahre alt glauben viele Cineasten, dass das Original ein heiliges Kunstwerk ist, dem man nicht das Wasser reichen kann. Die satten Farben, die höhlenartigen Sets, der haarsträubende Soundtrack und der erschreckende Ton des Films machen ihn zum Zentrum eines wahrhaftigen Kults. Für mich ist SUSPIRIA ohnehin einer der besten Filme aller Zeiten.

Drehbuchautor und Regisseur Dario Argento hat, um es gelinde auszudrücken, eine ungewöhnlich entsetzliche Lebenseinstellung, und die kraftvollsten Momente seines Films lassen einen über eine Operation am offenen Herzen nachdenken.

Erstens ist der visuelle Charakter des Films unglaublich. Die lebendigen Farben sind weit entfernt von den üblichen dunklen und düsteren Szenen, die wir aus vielen Horrorfilmen gewohnt sind. Jedes Set ist üppig und hell ausgeleuchtet, aber die verwendeten Farben sind meist beunruhigende Schattierungen der Grundfarben – tiefe Rottöne, dunkles Gelb und sattes Blau.

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Brouillon

Handbuch für Detektive / Jedediah Berry

Borges lobte an der Detektivgeschichte dass sie „in einer Epoche der Unordnung eine gewisse Ordnung aufrechterhalten kann“. Dieser Gedanke wird im Handbuch für Detektive von Jedediah Berry spielerisch und surrealistisch umgesetzt. Berry ist bei uns ein Unbekannter, in Amerika kennt man ihn als stellvertretenden Redakteur eines kleinen Verlags, der sich mit Phantastik sehr gut auskennt.

Seine Kurzgeschichten fanden nicht selten den stürmischen Beifall der Kritiker. Das Handbuch allerdings ist sein Debüt. 2009 geschrieben, erschien es erstaunlicher Weise 2010 bereits bei uns. In diesem Roman ist die Detektivarbeit mehr als ein Job, sie verkörpert einen geordneten Zugang zum Leben. Rätsel müssen gelöst werden, um Wahrheit und Illusion voneinander zu trennen. Sogar die Verbrecher scheinen sich hauptsächlich für das Verbrechen als Mission, als Kunstform, als Mittel zur Beeinflussung der Welt zu interessieren. Ihre Anführer sind Magier, Meister der Verkleidung, Illusionisten. Der Konflikt zwischen Detektiven und Kriminellen ist ein Aufeinanderprallen philosophischer Positionen, ein metaphysischer Kampf um die Vorherrschaft.

Unser Held ist Charles Unwin, freundlicher Aktenschreiber von Detective Travis Sivart. Er arbeitet bei der Agentur, einem Monolith der Seriosität, der seine Stadt schützt, indem er fest gegen das kriminelle Element steht. Unwin ist ein sanfter, bescheidener Kerl und nie ohne Regenschirm (es regnet immer in der Stadt). Er zeichnet sich vor allem durch die Organisation und Katalogisierung von Akten aus, die er in seiner Funktion komfortabel und zufriedenstellend erledigt. Aber als Detective Sivart verschwindet, wird Unwin unerwartet zum Detektiv befördert und als Agent ins Feld geworfen. Da er völlig ungeeignet für den Job ist, protestiert er gegen seine Beförderung, aber als er wegen Mordes verdächtigt wird, muss er den Hinweisen folgen, um herauszufinden, was vor sich geht. Als er widerwillig anfängt, Fragen zu stellen, stellt er fest, dass viele Fakten in Detective Sivarts Akten falsch dargestellt sind. Bald taucht er aus seinem Schlummer auf und versinkt in Rätseln. In der sich verdichtenden Handlung findet er Beweise, die sich nicht nur auf den vorliegenden Fall beziehen, sondern auch auf Geheimnisse, die alles untergraben könnten, was er für wahr hält.

Unwins anfänglicher Ansatz bei seinen Ermittlungen ist der eines Sekretärs: Er versucht mechanisch, das zu tun, was er denkt, was von ihm erwartet wird, sortiert die Fakten und blufft sich durch eine Reihe merkwürdiger Entdeckungen. Seine Verwandlung in einen Agenten beginnt, als er ein Exemplar des Handbuchs für Detektive – die Bibel der Agentur über Theorie und Praxis der Detektivarbeit – öffnet und seinen ersten Ratschlag liest (unter der Überschrift „Kriminalfall, Erste Schritte“):

Der unerfahrene Agent, der auf ein paar erste vielversprechende Spuren stößt, wird wahrscheinlich den Drang verspüren, ihnen so direkt zu folgen wie möglich. Doch ein Kriminalfall ist wie ein dunkles Zimmer, in dem ihn alles erwarten könnte. In diesem Stadium des Falles wissen Ihre Gegner mehr als Sie – genau das macht sie erst zu ihren Gegnern. Deshalb ist es von höchster Bedeutung, dass Sie mit Vorsicht und Raffinesse vorgehen, besonders zu Beginn Ihrer Arbeit. Jede andere Vorgehensweise wäre gleichbedeutend mit einer Kapitulation; dann könnten Sie auch gleich Ihre Taschen ausleeren, eine Lampe über Ihrem Kopf anschalten und sich eine große Zielscheibe auf die Brust malen.

Auch für die Leser dieses Romans ist es ein guter Ratschlag, anders vorzugehen. Die Erzählung treibt uns nicht vorwärts, der Eroberung entgegen, sondern zieht uns langsam tiefer in eine geheimnisvolle Welt. Die Grenzen zwischen Realismus und Traumbildern sind verschwommen. Die Zeit, in der die Ereignisse stattfinden, wird nie genau festgelegt, obwohl die Geschichte durchweg eine vage Atmosphäre des frühen zwanzigsten Jahrhunderts aufrechterhält. Und doch fühlt sich das Buch frisch und modern, ja sogar experimentell an. Es ist ein Roman, der Vergleiche mit anderen Romanen provoziert, weil es so schwierig ist, ohne einen einzigen Bezugspunkt auszukommen, was aber auch einfach daran liegt, dass das Handbuch für Detektive eine einzigartige Schöpfung ist, die selbstbewusst in ihrer Genre-synthetisierenden Originalität konstruiert wurde.

Trotz dieser interessanten Eigenschaften muss man sich an die Erzählweise erst einmal gewöhnen. Die Handlung wird schnell unüberschaubar und halluzinatorisch, so dass es alles andere als leicht ist, ihr zu folgen. Die manierierte, schwach altertümelnde Prosa erscheint zunächst übermäßig raffiniert; Leichen türmen sich auf, und doch fühlt sich ein großer Teil der Handlung seltsam blutleer an, dem Traum näher als einer greifbaren Form.

Im Jahr 1924 schrieb André Breton im ersten Manifest des Surrealismus von seinem Versuch, das Bewusstsein zu erweitern und eine Überrealität zu finden, indem er die Assoziationsmöglichkeiten des unbewussten Geistes erforschte.

In Berrys Roman wird ein ähnlicher Begriff zu praktischen Zwecken von Detektiven der Agentur verwendet, indem sie in der Lage sind, verdächtige Personen in ihren Träumen auszuspionieren und dadurch Hinweise zu entdecken, die das Unbewusste über ihre Verbrechen preisgeben kann. Während Unwin diese Überwachungsmethode benutzt, um Hinweisen zu folgen, driftet die Geschichte mehr und mehr ins Surreale ab. Merkwürdigerweise taucht Unwin immer mehr in die Traumwelt ein und wird dadurch lebendiger und wacher als jemals zuvor in seinem Leben. Als wir ihm zum ersten Mal begegnen ist Unwin weit vom Modell eines hartgesottenen Detektivs entfernt, ist sanftmütig und bescheiden, so zugeknöpft und vorsichtig, dass es schwierig ist, ihn zu fassen. Während er sich jedoch bemüht, seine Gegner zu verstehen, beginnt er damit, seine eigenen Instinkte zu entwickeln. Von diesem Augenblick an fließt Leben in die Geschichte ein.

In ähnlicher Weise wird die Überlagerung von präziser, schicker Prosa in einem bizarren Kontext hypnotisch. Die Präzision von Unwins Perspektive verleiht jeder Szene einen Realismus, der ständig untergraben wird. Die Geschichte geht nie in bloße Merkwürdigkeiten über, sondern bleibt in der unerbittlichen Traumlogik ihrer Welt verankert. Sie erreicht und verunsichert den Leser auf unbewusster Ebene. Science-Fiction-Fans sprechen gerne über den „Sense of Wonder“, der sich aus der Begegnung mit neuen Konzepten und Kreationen ergibt, hier aber wird das heikle Gefühl dargestellt, das entsteht, wenn etwas Vertrautes völlig fremd erscheint: ein Gefühl des Mysteriums. Nehmen wir zum Beispiel diese Szene, als Unwin bemerkt, dass man ihn ausspioniert:

„Er versucht sich zu konzentrieren“, sagte der Mann am Telefon.
Unwin legte das Handbuch weg und erhob sich von seinem Stuhl. Er hatte sich nicht verhört. Der Mann mit dem blonden Bart sprach Unwins Gedanken laut aus. Seine Hände zitterten bei dem Gedanken; er hatte angefangen zu schwitzen. Die Männer am Tresen fuhren erneut herum und sahen dabei zu, wie Unwin in den hinteren Teil des Raumes ging und dem Mann auf die Schuter tippte.
Der Mann mit dem blonden Spitzbart blickte auf. In seinen hervorquellenden Augen war zu lesen, dass er zu Handgreiflichkeiten bereit war. „Such dir ein anderes Telefon“, zischte er. „Ich war zuerst hier.“
„Haben Sie gerade über mich geredet?“, fragte Unwin.
Der Mann sagte in den Hörer: „Er will wissen, ob ich gerade über ihn geredet habe.“ Er lauschte, nickte, nickte noch einmal und sagte dann zu Unwin: „Nein, ich habe nicht über Sie geredet.“
Unwin wurde von einer schrecklichen Panik ergriffen.

Kurz gesagt, Berry hat einen Roman mit der sinnlich herausfordernden Wirkung eines Magritte-Gemäldes zusammengestellt, und jedes Element der Geschichte arbeitet zusammen, um diesen Effekt zu erzeugen. Es ist Unwins empfängliche, ungeformte Eigenschaft, die es ihm erlaubt, die Landschaft als eine Art luzider Träumer zu durchqueren und Informationen vorurteilsfrei so zu sichten, wie sie ihm zufliegen, ohne sich zu sehr in dem zu verzetteln, was er weiß, und vielleicht fälschlicherweise für wahr hält. Er setzt seinen klaren, methodischen Ansatz fort, auch wenn die Realität um ihn herum dekonstruiert wird. Damit ist es folgerichtig, dass die Geschichte in dem Tempo voranschreitet, in dem sie das tut, denn es liegt in der Natur dieses Buches, dass es den Leser nicht mit Gefühlen, Aktionen oder schillernden Bildern bombardiert. Hier ist das Geschichtenerzählen das Gegenteil von Bombast, es lädt in eine stilvolle Welt ein, und es gibt hier nur spärlich Hinweise. Es ist eher ein stimmungsvolles Buch, in dessen Atmosphäre man versinken und sich fortspülen lassen kann. Und es dringt in das Gemüt.

Das Handbuch für Detektive ist glänzende surreale Kunst und zweifellos auch ein gutes Stück altmodischer Detektiverzählung, wo alles miteinander verbunden ist und dem Leser die Befriedigung eines zu entziffernden Rätsels geboten wird, in dem ineinander greifende Teile zu einem logischen Ganzen zusammengefügt werden. Doch etwas Größeres verweilt hinter den einzelnen Rätseln, die Unwin erforscht: Ein Mysterium, fremd und unbekannt.

Unwin wird an einer Stelle als „akribischer Träumer“ beschrieben, und dieses elegante, komplizierte, ehrgeizige Buch hinterlässt das Gefühl, dass es eine wunderbare Sache ist, ein akribischer Träumer zu sein.

Brouillon

Die Stimmung des Suchens

Die Stimmung des Suchens. Als ob immer etwas verloren bleiben müsste, um das Leben in Gang zu halten. Als ob man es nie finden dürfte, um diese Gewisse Stimmung nicht zu verlieren, die sich in der Oktoberweite verliert, die sich in Herbstgedanken über die Unterweltsonne eines Cromm Cruach äußert. Hat man verloren, was man nie sah, an das man sich nicht erinnert, kann auch das Vergessen nicht trösten. Das Phantom bleibt uns, huscht aus dem Blick, wenn wir die nächste Schneise erreichen, den nächsten Gipfel passieren, das nächste Meer überqueren. Mir kommt das Nichts ungeheuerlich vor, ein Nie-gewesen-sein, aber ein Nichtmehr zermartert dann doch das Gemüt.

So viele Bücher gibt es, die sich mit der Suche beschäftigen. Wie die Stationen eingesetzt werden, ist bedeutend. Hier kann sich eine ganze Sphäre verändern.

Kluge Hausfrau

Tee anstatt Insektengift

Seit die Erde rotiert und durch eine dunkle Kartonage schlingert, dreht sich alles um dieses Insektengift, das auf jedem Altweibertisch vor sich hin dampft, schwarz wie ein Sumpfloch, saubitter und mulchig wie ein Maul voller Blumenerde, kurz bevor der April die Rentner in den Garten lockt. Selbstverständlich kann man sich Kaffee auch auf die Haut schmieren, wenn die vor lauter Allergie aussieht wie eine billige Pizza, und muss nicht nur fette Schnecken von den noch fetteren Erdbeeren? abhalten. Man will, so dünkt es mir, gar nicht an die eigentliche schwarze Brühe ran, sondern an das, was drin ist, im Kaffee also das Koffein, bei dem die Basedowschen Kranken zwar mit Pulsbeschleunigung, Herzklopfen und folgender Gedankenflucht, Nervosität, und quälender Schlaflosigkeit reagieren, das gesellschaftliche Leben aber nahezu still stehend würde.

Ja, ich schwadronierte einst über unsere steinbrüchig gewordene Kaffeekultur, und bin noch immer davon überzeugt, dass manche Mauken wieder nach frisch geschleuderter Butter duften, wenn man das, was vom Weiberkranz übrig geblieben ist, in ein Fußbecken quirlt.

Als Höllenweib gesunder Praxis beobachte ich natürlich sehr genau, was sich im Land der Dichter, von denen ich bestochen werde, so tut – und, was soll ich sagen: da zeichnet sich eindeutig ein Trend nach englischem Vorbild ab. Theophyllin bringt, wie alle Welt bezeugen kann, ein langes Leben in jede echte Queen hinein. Und wer möchte nicht, gebückt und runzlig, gewandet in bunte Farben und steinalt, noch so eine rüstige Fotografie abgeben?

Ob im Palast auch wirklich Twinings of London auf den schicken Tischen in den noch schickeren Kesseln zieht, vermag ich nicht zu sagen, obwohl ich gerade bemerke und mich frage, warum ich dort noch nie geladen war; gesagt aber werden kann, dass es hier in Dichters Grüften solch ein Getränk – von mir höchstselbst bereitet – zu jeder Tag und Nachtzeit gibt. God save Tee-in.