Bouquinist

Grimscribe / Thomas Ligotti

Es gibt in unserer heutigen Zeit viele, die glauben, sie verstünden sich auf den echten „Horror“, aber ob sie unter dieser Flagge schreiben oder lesen: sie täuschen sich. Täuschen sich dann, wenn sie Ligotti entweder gar nicht kennen, oder keinen Zugang zu ihm finden. In der von „Handlung“ ausgehenden Welt der modernen Veröffentlichungsfabriken hat Spannung den Schrecken als primäre Komponente des modernen Horrors abgelöst.

Poe und Lovecraft zeigen in ihren besten Arbeiten, was Schrecken, was wirklicher Horror bedeutet. Thomas Ligotti und sein „pure horror“ ist der dritte im Bunde, der einzige Autor, der neben den beiden anderen Giganten Platz nehmen darf. In „Grimscribe – Sein Leben und Werk“ dürfen wir den Nervenkitzel des reinen, unverdünnten Schreckens noch einmal erleben. Allerdings ist es oft die literarische und philosophische Unkenntnis einiger Rezensenten, die Ligotti nach wie vor mit dem Lovecraft-Kosmos verbinden. Thomas Ligottis stilistische Bandbreite ist bemerkenswert und übertrifft bei weitem den limitierten Klang Lovecrafts (ohne dessen Einfluss schmälern zu wollen, der gerade in Ligottis Anfängen exorbitant vorhanden war). Was beide Autoren tatsächlich miteinander verbindet, sind die Weltanschauungen. Dazu gehört die Überzeugung vom Untergang der abendländischen Kultur (und in dieser Phase befinden wir uns gegenwärtig, wie leicht zu erkennen ist). Lovecraft als auch Ligotti sehen die Menschheit in einem sinnlosen Universum treiben, manipuliert von Mächten, die weder zu begreifen noch in irgendeiner Form zu nutzen sind. Wo Lovecraft jedoch trivial wird, unterstreicht Ligotti seinen intellektuellen Rang, was nicht zuletzt seiner gewaltigen philosophischen und literarischen Bildung zu verdanken ist (man denke nur, dass etwa „Cioran“ zu seinen gedanklichen Haupteinflüssen zählt).

Robert M. Price (u.a. Herausgeber von „The New Lovecraft Circle“) nennt Ligotti gar einen Gnostiker, was die intellektuell-philosophische Linie sogar noch unterstreicht.

Wieder einmal ist es Frank Festa zu verdanken, dass wir eines der wichtigsten Werke der modernen Horror-Literatur nun auch in deutscher Sprache vorliegen haben. All jene, die des Englischen nicht mächtig sind, sollten ihm auf Knien danken.

„Grimscribe“ ist der Name, den Ligotti seiner Stimme gibt, die Quelle seiner wunderbaren Prosa. Es handelt sich dabei nicht notwendigerweise um eine einzelne Person, sondern um eine bestimmte Art des Sehens, um eine Verbindung zwischen den dunklen, süßen Orten der Seele und der gedruckten Seite.

„Ich erkenne seine Stimme, wenn ich sie höre, denn stets spricht sie von schrecklichen Geheimnissen. Sie spricht von den bizarrsten Mysterien und Erlebnissen, manchmal mit Verzweiflung, manchmal mit Freude, und manchmal mit einer Laune, die sich jeder Beschreibung entzieht“,

erklärt er uns in der Einleitung; und zum Schluss: „Unser Name lautet GRIMSCRIBE. Das ist unsere Stimme.“

Das macht Grimscribe mehr zu einer Reihe von unheimlichen Chören als zu einer Sammlung miteinander verbundener Geschichten.

Es sind dies subtile Variationen über Finsternis, Verfall, Tod, und den Schrecken des Unbekannten.

Anders als die meisten der heutigen Horror-Autoren, die einen anatomischen Ansatz verwenden, hebt Ligotti seine Vorstellungen über Tod und Verfall auf die Ebene des Abstrakten, Akademischen und hüllt sie in eine delikate, elegante Sprache. Im Einklang mit dem hohen literarischen Ton seiner Prosa führt er die Grundideen der Stories in Richtung des leicht Anekdotischen, aber Ligottis Talent für den Wechsel des Ausdrucks sorgt dafür, dass diese Wechsel ebenso fesselnd wie elegisch sind.

In „Nethescurial“ erhält der Erzähler einen Brief von einem Freund, der auf ein beunruhigendes Manuskript gestoßen ist.

„Stellen Sie sich die gesamte Schöpfung als eine bloße Maske für das größtmögliche Böse vor, ein absolut Böses, dessen Realität allein durch unsere Blindheit ihm gegenüber gemildert wird, ein Übel im Herzen der Dinge … natürlich … wir müssen Distanz wahren zu solchen Gespenstern wie Nethesurical, aber das ist in der Regel durch das Medium der Worte schon gewährleistet … und doch scheint das Manuskript in dieser Hinsicht nur eine schwache Barriere zu bilden.“

Der Erzähler träumt sich in einen kafkaesken Bibliotheks-Alptraum, in dem er zu folgender Erkenntnis gelangt:

„Ich konnte auch sehen, was sich unter jeder Oberfläche windet, mein Blick durchdringt die übliche Rüstung der Objekte und erkennt in ihnen allen das gleiche heraussprudelnde Zeug, wo immer ich auch hinsehe …“

Ligotti erreicht seine Größe als Horror-Schriftsteller nicht zuletzt dadurch, wie er mit Bedacht auswählt, was er dem Leser zeigen möchte. Seine Prosa erreicht nahezu Perfektion und stärkste emotionale Kraft, wenn er ein Bild des Schreckens zeichnet, den Leser darauf hindeutet, dass es da etwas gibt, das er vielleicht nicht vollständig wahrgenommen hat.

Zu Grimscribe sagte der Meister selbst folgendes:

„Ich muss anmerken, dass ich mit Grimscribe begann, mich weiter und tiefer in symbolische Erzählungen und Landschaften zu wagen, während ich mich trotzdem an die für eine Horrorgeschichte typische „Realität“ halte. Ich möchte darauf hinweisen, dass ich Das letzte Fest des Harlekin und Träumen in Nortown bereits geschrieben hatte, bevor meine erste Sammlung erschien.“

Das war 2011, als Grimscribe bei Subterranean Press erneut erschien, überarbeitet und mit Variationen versehen im Gegensatz zur 1991 bei Carroll & Graf erschienenen Urform.

Trotz der kultischen Verehrung, die Ligotti genießt, wird es noch dreißig oder vierzig Jahre dauern, bis man vollumfänglich zu schätzen weiß, wie Ligotti die Horrorliteratur um eine neuartige Dimension bereichert hat.

Brouillon

Höllenkapinski

Ein Höllenkapinski. Das ist ein erfundenes Wort (der Witz liegt darin, dass alle Wörter erfunden sind). Die Sprache verändert sich. Liegt das an der Evolution der Zungen und Backen? Ich habe ein Instrument im Hals, das sich archaisch anhört, wenn ich normal-täglich spreche (ich rede schnell und vervollständige die Sätze nicht); sobald ich mich konzentriere, höre ich mich an wie ein Sprachanfänger; also bleibe ich beim Lallen. Nein, ich bin kein Redner. Wenn mir gerade nicht schwindelig ist, bin ich allerdings ein Quasselbold. Das ist ein Kompositum (der Witz liegt darin, dass man auf diese Weise tiefer und tiefer gelangen kann). Weil ich also eher still und scheu bin, bin ich laut und rumpelig. Ich nehme Witze für bare Münze und mit dieser bezahle ich mein Emmerkornbrot.

Journal

Die Bildsprache des Alfred Kubin

Auf der nördlichen Seite des Hauses liegt eine schattige Terrasse. Hierhin verirrt sich ab und an ein Vogel, der beim Überflug gegen eine Scheibe knallt und dann tot auf den Steinen liegt. Gerade gibt es Streit, wer ihn dort wegräumt.

Alfred Kubin
(c) Alfred Kubin

Auf der Südseite scheint trotz Kälte und Schnee der Frühling ausgebrochen, denn eine Schaar von Spatzen zwitschert recht munter und macht fröhlich Beute auf dem Balkon mit dem Vogelfutter.

Beute machen…

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Journal

Schreiben wie Lovecraft

Im Juni 2013 bekam ich per Post die neueste Ausgabe von Famous Monsters of Filmland, die ich mir bestellte, weil S.T. Joshi zwei Artikel dafür geschrieben hat. Ich war erstaunt darüber, dass kein einziger Artikel von einer Filmadaption eines Lovecraftschen Themas handelte. Zwei Artikel (“Lovecraft’s Acolytes,” von Robert M. Price und “The New Mythos Writers,” von S. T. Joshi) behandelten jene Schriftsteller, die von seiner Arbeit beeinflusst wurden und unter diesem Einfluss selbst schrieben, angefangen von der Zeit, als Lovecraft noch am Leben war, bis heute; und ein Artikel (“The Language of Lovecraft,” von Holly Interlandi) sah sich Lovecrafts Stil und Satzstruktur etwas näher an! Dass Lovecrafts Einfluss gegenwärtig reiche Blüten treibt, kann anhand solcher großartigen Anthologien wie Lovecraft Unbound (herausgegeben von Ellen Datlow), Black Wings (aka Black Wings of Cthulhu, herausgegeben von S. T. Joshi), New Cthulhu: The Recent Weird (herausgegeben von Paula Guran) und The Book of Cthulhu (herausgegeben von Ross E. Lockhart) abgelesen werden.

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Brouillon

Die Mitternacht zeigt immer nur mich

Wie weit müssen sich Gedanken mit der Umgebung decken, die ein Produkt dieser Gedanken ist? Im Historischen zu leben bedeutet, in einem Narrativ zu leben, das man selbst wählt, obwohl es schon da ist. Es ist nicht ausgeschlossen, in die Zukunft zu blicken, nur gilt es zuvörderst, die Symbole zu betrachten und zu entwirren. (Nein, wirr sind diese Symbole nicht, jedoch kann nur eine Verdichtung dafür sorgen, dass Chaos und Nichts überhaupt dargestellt werden können – innerhalb eines Symbols, das dann zurück in den Urzustand gleitet, wenn hier von „entwirren“ die Rede ist).

Es ist nicht möglich, ein Letztes zu denken, so wenig wie einen Anbeginn. Also denke ich nicht an einen Anfang, sondern an eine Folge. Welche das heute ist, darüber rätsele ich mehr als über das, wie es ausgeht. Ich könnte mich noch als wandelndes Paradoxon erkennen, hätte ich einen angemessenen Spiegel vor mir. Meistens schaue ich nur in die Mitternacht hinein, sie aber zeigt immer nur mich, als gäbe es keine weiteren Gesellen, die sich die Epochen abstreifen, um heute zwar gegenwärtig zu sein, aber auch in jedem Damals fischen gehen zu können. Wir haben noch nicht genug herausgefunden, um uns bereits um einen Zeitgeist scheren zu müssen. Ich picke mir aus den Zeiten das Malz heraus – Weichen, Keimen, Darren -; so viel unvergessliche Masse für den Faszikel-Baukasten!

Hexenwerch

Vom Erinnern (Inspiriert von: El lado oscuro del corazón. Von Eliseo Subiela.)

K: Du bist die Frau, mit der Oliverio fliegen kann, stimmt’s? 

F: Ja. Woher weißt du das? 

K: Er hat vorhin gelächelt als er dich gesehen hat. Da war ich bei ihm. Hat mitten im Satz aufgehört zu sprechen. Und dann schaute er ganz traurig. Hat auch nicht wieder angefangen. Ist einfach weitergelaufen. 

F: Und da kommst du zu mir? 

K: Ja! Weil ich von dir wissen will, wieso er dort ist und du hier? Versteckt ihr euch voreinander?

F: Nein, das tun wir nicht. Aber das ist auch nicht so einfach zu erklären. Oliverio und ich, wir beide brauchen Asyl, sind sehr schutzbedürftig, und auch nur, weil wir das bemerkt haben. 

K: Versteckt ihr euch vor ihr, dem Tod? 

F: Ja, das kann man wohl so sagen. Du musst wissen, wir haben beide vom langen Vergessen getrunken und uns erinnert. Zwei, das macht eine ganze Welt aus, weißt du. Auch du verstehst das einmal. Irgendwann. Ganz sicher. 

K: Ich weiß, er hat gesagt, ihr müsst euch wie Hunde auf der Straße herumtreiben. Das ist traurig. Habt nichts als den Himmel über euch. Er sagt, das ist grauenhaft. Flucht auch sehr viel deswegen. Ich mag das nicht. Er erzählt auch immer irgendwas von einer Unverborgenheit. 

F: Ja, das ist leider so! Wir sind unverborgen. Sind nicht geborgen. Immer dann, wenn wir zusammen sind. Alle sehen uns das an. Obwohl wir etwas sehen. A-létheia. Etwas, das den Spross will. Etwas, das die Blüten beleckt, ihre Farben, sie mit roten Fingerkuppen der Sonne öffnet. Es ist ein Blick. Einer, den man hat, wenn man im Herzen glücklich ist. 

K: Deswegen schaut Oliverio immer so komisch! Das will er also sehen? 

F: Das hat er längst. 

K: Malst du mir meine Fingerkuppen rot? 

F: Du willst wieder zu ihm, nicht wahr? 

K: Ja! Ich will meine Hände wie ein Dach über ihn halten. 

F: Ja dann …

(K: Kind; F: Frau, mit der Oliverio fliegen kann)

Hexenwerch

Vom Fliegen (Inspiriert von: El lado oscuro del corazón. Von Eliseo Subiela. Und dir.)

K: Oliverio hat gesagt, sie, der Tod, kann ihn noch nicht haben. Verstehst du das?  

F: Ja, ich kann Oliverio verstehen.  

K: Wieso?  

F: Er sucht die Frau, mit der er fliegen kann. Deswegen kann sie ihn noch nicht haben.  

K: Fliegen ist toll!  

F: Ja, sehr sogar! Alle wollen fliegen. Brauchen den Anderen dazu. Nur Kinder allein können das noch und nur für sich. So wie du. Sonst nur Vögel, Insekten und Fabelwesen. Erwachsene brauchen sich gegenseitig.  

K: Aber was ist mit der Frau, mit der er fliegen kann? Wo ist sie?  

F: Sie sitzt im Dunkeln, nackt auf einem Stuhl, die Beine gespreizt. Sie weiß, wie wunderschön das Fliegen ist. Hat ihre Hand auf ihr Geschlecht gelegt. Damit es nicht wegfliegt, weißt du. Sie muss es schützen. Für sich und Oliverio. Lauscht den Geräuschen der Welt. Spürt nur die Wärme. Die Brustkorbhebung. Die Brustkorbsenkung. Sie denkt an Oliverio. Weint. Auch weil sie weiß, wenn sie ihre Hand auf die Brust legt, dass sich durch die abgegebene Wärme ihre Milchgänge weiten. Gänge, durch die vielleicht nie etwas fließt. Strahlenförmige Galaktogänge sind das. Denn Milch, erst wenn sie austritt, erhält durch das Sonnenlicht ihre stillende Farbe, in der alle Farben sind.  

K: Warum aber ist sie wegen ihm traurig, wenn sie doch mit ihm fliegen kann?  

F: Na, weil das Fliegen eben schön ist. Weißt du doch! Und manchmal weinen wir Erwachsenen auch dann. Weinen, wenn uns etwas stärkt, wenn es uns gut tut. Aber du hast Recht! Denn ja, sie ist deswegen auch traurig. Weil sie noch mehr als mit ihm zu fliegen auch den Boden mit ihrem Geschlecht berühren will. Auch dafür braucht sie ihn. Allein kann sie das nicht. Und sie will es auch nur, weil sie beide fliegen können. Weil er ihr diese Kraft gibt. Ich kann Oliverio verstehen. Verstehst du ihn jetzt auch?  

K: Ja! Er ist ein bisschen wie ich.

(K: Kind; F: Frau, mit der Oliverio fliegen kann)

Brouillon

Im Anderen gespeichert

In uns scheint immer auch der Andere gespeichert zu sein (so seine Form, so seine Gesänge), dem wir kaum zuerkennen können, nichts mit uns zu tun zu haben als die condicio humana, eine Ähnlichkeit, die ständig variiert, sich aber niemals gleich gestalten wird, sollte die Sehnsucht danach auch noch so groß sein. So trügt uns stets das Bild, weil wir uns über uns selbst schon irren. Wir irren uns jedoch nicht, wenn wir an allem Zweifeln – und vor allem an unserem Verstand.

Das Außergewöhnliche ist das Ideal.

Ich denke an einen Menschen und bilde mir ein, wie er in mir in einer bestimmten Form tätig ist. So nämlich sehe ich ihn, wie er leidet an meiner Unzulänglichkeit, einer von mir ausgelösten Welle; mich gekannt zu haben, bedeutet, einer dunklen Stelle nahe gewesen zu sein, von der man nichts wusste.

Journal

Der Nihilismus des Rust Cohle

Rust Cohle von Ruiz Rust

Es gibt Filme und Serien, die pumpen die Erwartungshaltung von Beginn an über jeden erwartbaren Horizont. Die meisten ambitionierten Werke – und das trifft ebenso auf Literatur zu – scheitern, wenn sie scheitern, am Ende. True Detective 1 scheitert nicht wirklich, aber die letzte Folge der Mini-Serie hält der unglaublichen Dichte nicht stand, was wirklich schade ist, denn bis dahin hat man nicht weniger als das Beste, was eine Mystery-Serie überhaupt aufs Parkett bringen kann vor Augen. Nicht weniger als eine Sensation.

Ein Tatort @HBO
Ein Tatort @HBO

Die Storyline, die sich an das moderne Erzählen durch Verschachtelung hält, die erzeugte, dichte Atmosphäre, die Wahl der Musik, sowie die fabelhafte Leistung der beiden Hauptdarsteller (Woody Harrelson, Matthew McConaughey) sind in der Summe nicht weniger als perfekt.

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Journal

Coelho Neto, ein brasilianischer Autor unheimlicher Phantastik

Coelho Neto

Man könnte nicht sagen, dass die brasilianische Phantastik im deutschen Sprachraum sehr bekannt oder populär wäre – es sei denn, man zählt den unsäglichen Kitsch-Mystiker Paulo Coelho zur phantastischen Literatur. Ich habe seinerzeit mit wenig Erfolg bei Suhrkamp zwei Bände moderner brasilianischer Autoren veröffentlicht: die Sammlung unheimlicher Erzählungen Die Struktur der Seifenblase. Unheimliche Erzählungen, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Alfred Opitz, von Lygia Fagundes Telles (1923- ), als Bd. 105 der „Phantastischen Bibliothek“ (suhrkamp taschenbuch 932) und 1993 Der Feuerwerker Zacharias (Os dragões e outros contos). Aus dem. brasilianischen Portugiesisch mit einem Nachwort von Ray-Güde Mertin, von Murilo Rubião (1916-1991), („Phantastische Bibliothek Bd. 292, suhrkamp taschenbuch 2151, als Nachdruck der Buchausgabe bei Suhrkamp von 1981). Das waren, trotz täuschender Einfachheit und paradoxer Klarheit der Formen komplexe modernistische Texte, die wenig mit klassischen Gespenster- oder Horrorgeschichten zu tun haben, sondern vielmehr das Absurde als Metapher für das Absurde menschlicher Existenz verwenden.

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Carnivale

Es gibt wohl kaum eine Serie, die den Begriff der „Weird Fiction“ neben Twin Peaks jemals so verkörperte wie Daniel Knaufs Carnivale, die im Jahre 2003 wohl noch etwas zu ambitioniert für die Serienlandschaft war, um sich durchsetzen zu können. Magie, Drama, Science-Fiction und Fantasy wurden in diesem Juwel zu einem einzigartigen Mix verschmolzen, der bis heute in keiner ähnlichen Weise mehr erblickt wurde. Würde man die Serie heute herausbringen, würde dieses einzigartige Juwel des Geschichtenerzählens wohl spielend der Hit des Jahres werden.

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Revival / Stephen King

Stephen Kings großartiger neuer Roman „Revival“ bietet das atavistische Vergnügen, in der Dunkelheit näher ans Lagerfeuer zu rücken, um einer Geschichte von jemandem zu lauschen, der genau weiß, wie er seinen Zuhörern eine Gänsehaut verschaffen kann, indem er ihnen zuflüstert: „Schau nicht hinter dich“.

King war immer großzügig, wenn es darum ging, die Autoren zu nennen, die ihn inspiriert haben. Diesmal nennt er Arthur Machens The Great God Pan (1894), eine der besten Fantasy-Geschichten, die je geschrieben wurden.

Es mag schwierig erscheinen, auf Anhieb zu beurteilen, was man von King in letzter Zeit zu erwarten hat. Galt er in den 70er Jahren noch als Meister des Horrors, so hat er dieses Etikett längst an eine jüngere Generation abgegeben und wird allgemein als „Chronist des amerikanischen Alltags“ anerkannt. Die Grotesken, die übersinnlichen Spinnereien etc. hat man ihm längst verziehen. King ist eindeutig im Mainstream angekommen, er erhält den Beifall des literarischen Establishments, über das er sich gerne lustig macht. Der große amerikanische Roman 11/22/64 war nicht der einzige Grund dafür, aber er hat geholfen. Die Meinung der literarischen Torwächter geht eindeutig dahin, dass King einer der ganz großen amerikanischen Erzähler wäre, wenn er nur auf seine exzentrischen Ausbrüche verzichten könnte. Im Umkehrschluss heißt das natürlich nichts anderes, als dass er es längst ist. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen Harold Blooms unermüdlicher und scharfer Kritik an Kings Sprache und den feierlichen Adjektiven, die sich in den letzten zehn Jahren angesammelt haben, um Kings Bedeutung als Schriftsteller zu beschreiben.

Beides führte dazu, dass die Torwächter widerwillig anerkannt haben, den Kerl nicht einfach aussperren zu können.

King hatte schon immer mehr mit Ray Bradbury gemeinsam als mit Chuck Palahniuk, und er sitzt trotzdem komfortabel im Kanon der „amerikanischen Verrückten“ wie etwa David Lynch, hat indes eben wenig gemein mit dem einfach gestrickten Ergüssen eines Dean Koontz oder Wes Craven.

In Revival aktualisiert King Machens fin-de-siecle-Setting und den erotischen Subtext, in dem ein 17-Jähriges Mädchen aufgrund einer primitiv ausgeführten Lobotomie die Befähigung erhält, in die erschreckenden Abgründe zu blicken, die unserer Welt zugrunde liegen. „Revival“ öffnet sich an einem Ort, der unserer modernen Welt beinahe so fern ist wie Machens gaslichtbeschienenes London: dem ländlichen Harlow, Maine, in den frühen 60er Jahren. Jamie Morton, der Erzähler des Romans, erinnert sich an einen Vorfall, der geschah, als er sechs Jahre alt war, das jüngste von fünf Kindern einer ausgelassenen, großherzigen Kinderschar. Er ist draußen, spielt mit seinen Spielzeug-Soldaten, als ein Fremder auftaucht.

Der Fremde ist Charles Jacobs, der neue Pfarrer von Harlow, glücklich verheiratet mit einer hübschen Frau und Vater eines kleinen Kindes. Jacobs freundet sich schnell mit Jamie an (King lenkt hier sofort von jeder Anspielung auf Kindesmissbrauch ab, denn darum geht es nicht). In seiner Garage zeigt er dem Jungen ein Wunder: ein realistisches Tischmodell der Umgebung, mit einem echten Miniatursee und Strommasten. Mit einer Handbewegung erhellt Jacobs die Szenerie. Straßenlaternen leuchten auf, eine Jesusfigur wandelt über die Wasseroberfläche des Sees.

Jamie ist begeistert, auch als Jacobs das Geheimnis des scheinbaren Wunders lüftet: „Elektrizität“, sagt der Geistliche später, „ist eines von Gottes Toren in die Unendlichkeit“. Jamie wird zum Ersatzsohn für Jacobs, eine Rolle, die Jamie auch nach der Tragödie und dem Verschwinden Jacobs beibehält.

Alle Themen des Romans sind in dieser frühen Szene angelegt: das Tauziehen zwischen Wissenschaft und Glauben; die Fähigkeit eines guten Krämers, sei es ein Prediger oder ein Schausteller, eine Menschenmenge mit dem Versprechen auf Heilung in seinen Bann zu ziehen. Vor allem aber untersucht der Roman die Natur des Machtmissbrauchs, sei es durch Liebe, Religion oder durch Jacobs lebenslange Obsession: Elektrizität.

Wie so oft entwickelt King die Geschichte schleichend und mit viel Gefühl für seine Figuren. Viele von ihnen sind gezeichnet von Trauer und Verlust, von Abhängigkeit und Enttäuschung. Der Zahn der Zeit hinterlässt seine Spuren, nagt an der Jugendliebe ebenso wie an den einstigen Ambitionen. Der Detailreichtum von Jamies Kindheit in den 60er Jahren – Vanille-Schoko-Erdbeer-Eiscreme, der Geruch von Regenwürmern, ein halb gerauchter Joint, der in einer Zuckerdose versteckt wird, die Freuden, die das Erlernen des E-Gitarrenspiels bereitet, während Jamie sich auf eine Karriere als Sessionmusiker vorbereitet – ist wie immer bei King mit außergewöhnlicher Liebe zum Detail ausgearbeitet.

Glück ist bekanntlich literarisch schwer interessant darzustellen. Idyllen werden nur zu dem Zweck konstruiert, sie zu zerstören. Aber Kings Erzählung gibt die Sehnsucht nicht auf, um eine kaputte Welt zu verachten, in der Jamie wie wir alle leben muss.

Jahrzehnte nach Jacobs Verschwinden aus Maine, begegnen sich er und Jamie auf einem Jahrmarkt wieder. Der ehemalige Prediger überrascht seine Zuschauer dort mit elektrischen Kunststücken. Später, in seiner Garage, benutzt Jacobs seine geheime Elektrizität, um Jamie per Elektrokrampftherapie von seiner Heroinsucht zu heilen. Aber die beiden trennen sich, als Jamie die wahren Absichten seines ehemaligen Freundes erkennt. „All deine Kunden sind nichts weiter als Versuchskaninchen“, sagt Jamie. „Sie wissen es nicht. Ich selbst war ein Versuchskaninchen.“

Aber das war noch nicht ihre letzte Begegnung. Jamie findet sich in Jacobs bösartige Umlaufbahn gezogen. Er findet immer mehr heraus, was mit den Menschen geschah, die sich von Jacobs „heilen“ ließen, denn es kam zu verheerenden Nebenwirkungen.

Und hier beginnt sich der Roman mit Machens Meisterwerk zu verzahnen. Kings zurückhaltende Prosa explodiert förmlich in ein Ende, das modernen Realismus mit dem kosmischen Schrecken, der an H.P. Lovecraft und an den Filmklassiker „Das grüne Blut der Dämonen“, erinnert. Die quälende Beziehung zwischen Jamie Morton und Charles Jacobs erreicht die Trauerschattierung einer großen Tragödie.

Was dem Buch ebenfalls gut bekommt, ist, dass man, wie bei den letzten King-Veröffentlichungen, den Originaltitel beibehalten hat, anstatt wie in der Vergangenheit puren Schwachsinn zu fabrizieren.

Originaltitel: Revival
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 512 Seiten