Wem gehört ein Gedanke, der vergessen wurde?

Alle Lichter verwandelten sich in eine strafende Ebbe. Ich saß, von der
Windigen Dunkelheit eingehüllt, auf der Brüstung des Rathauses und
Beobachtete die von hier aus einsehbare Fläche unter mir, denn wir alle
Waren abkommandiert, um die Schatten zu beobachten, die in immer
Größerer Zahl in die Stadt einfielen. Sie waren uns all zu ähnlich, und was
Wir zu berichten hatten, wurde mit großem Interesse verfolgt, wenn auch
Wir mit keinem unserer Auftraggeber direkt sprachen, ein Beobachter ist
Nun einmal kein Sprecher.

Wir notierten alles in einer Sprache des Untergangs,
Denn das war es, was wir sahen und was den Empfängern verständlich war.
Die bizarren Zwischentöne des Schreckens auch nur einiger Sekunden
Mussten wir in Geschichten ausformulieren, um eine Verhältnismäßigkeit
Für das Unbegreifliche zu finden.

In Teseo Albinesis Aufzeichnungen aus dem Jahr 1539 wird beschrieben,
Wie der Okkultist Ludovico Spoletano den Satan beschwor, weil er –
Ähnlich wie Doktor Faustus glaubte – alles bereits zu kennen, aber doch
Nichts zu wissen. Das dringliche Bedürfnis, zumindest ein Ding so zu
Fassen, wie es beschaffen ist, treibt die Schwärme des Verzweifelns aus
Staubwolken heraus und ermuntert jeden Schläfer, festzuhalten, was
Weniger noch als ein Quellstrom nicht zu greifen ist mit fünf oder zehn oder
Fünfzehn Fingern.

Der Teufel aber blieb unsichtbar. Womöglich hatte er seine vorrangige
Garderobe gerade in der Wäsche, oder ihm fehlte ein Knopf an seinem
Feurigen Jackett. In Ludovicos Körper wollte er nicht fahren, zu viele
Klammern, Tunnel und Abzweigungen standen dem im Wege,
Also griff er sich den Stift des Gelehrten, und fungierte wie man ihm das oft
Nachsagt als körperloser Autor diabolischer Kritzeleien, die von links nach
Rechts zu lesen sind. Bald verschwand der Text auf wundersame Weise in
Der Versenkung. Einige Lore sollte darin enthalten sein, das Gewürz eines
Laibes, Kardamom des Brotes.

Ludovico wusste ohnehin mehr, als ihm erlaubt war, nichts davon
Kann sich in irdischen Gefilden auszeichnen, wirklich gewusst zu werden
In der Nacht des 3. November 1666 traf er eine Gestalt, die sich selbst nicht
Beim Namen nannte, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, keine Spur,
Kein Eisen. Mit drei Fragen wirkte er den Benediktiner ein:
„Wie viele Stufen führen zur Erkenntnis?“
„Was trennt das gesprochene Wort vom geschriebenen?“
„Wem gehört ein Gedanke, der vergessen wurde?“

Spoletano tat sich mit der Beantwortung der ersten Frage nicht schwer,
Die zweite wusste er mit einem lateinischen Zitat zu umgehen – doch bei
Der dritten habe er geschwiegen. Die Gestalt antwortete: „Dann wirst du
Zwar sehen, aber das Gesehene nicht deuten können.“
In den darauffolgenden Jahren schrieb Spoletano ein Werk mit dem Titel
„De Umbris Pactis“, von dem nur drei Fragmente erhalten geblieben sind:
Eines befindet sich in der Bibliothek des Escorial, ein anderes in einem
Privaten Archiv in Mailand und das dritte ist auf dem Index der verlorenen
Bücher von Borges’ imaginärer Biblioteca de Babel verzeichnet.
Die Fragmente selbst bestehen aus Diagrammen, abgebrochenen
Aphorismen und einer sich endlos wiederholenden Fußnote:
„Der Pakt ist ein Spiegel. Wer hineinblickt, sieht nicht sich selbst,
Sondern das, was ihn sieht.“

Ich saß in kühler Höhe im stramm anbrandenden Wind und beobachtete
Einen verwaisten Reisigbesen, der keine Anstalten machte, sich zu erheben,
Um sein Tagwerk zu Ende zu bringen, und fragte mich, ob das eine
Einladung für einen Schatten sein könnte, denn waren es nicht die
Liegengebliebenen Fragmente, die zurückgelassenen Taten, die von einer
Unvollkommenheit zeugten, deren grob errichteter Spalt sich
Dazu eignete, die Welt zu zerreißen?

Der Reisigbesen blieb noch lange Zeit allein, ich hatte ihn zur Genüge
Beobachtet und war imstande, das Bild präzise wiederzugeben, sollte das
Eines Tages der Fall sein. Dann nämlich, wenn wir dazu angehalten waren,
Die Welt aus möglichst vielen Details unserer Beobachtung wieder neu
Entstehen zu lassen.

Ich verfluchte die Laternen, die zwar das Beobachten erleichterten, aber
Gleichzeitig die Nacht verfälschten, denn in ihrem Glimmen entstand ein
Nebel, der genauso gut ein Schatten hätte sein können, längst befallen von
Der Absicht, das Auge zu narren und dann die Szenerie verschwinden zu
Lassen. Ich beugte mich nach vorne und betrachtete den Lichthof, bis ich
Mir Sicherheit darin verschafft hatte, das Pulsieren zu zählen. Durch diese
Zählung entstanden selten neue Bilder und ich tat meiner Aufgabe damit
Nichts Gutes, jedoch konnte eine kleine Abweichung des Taktes bereits ein
Geheimnis offenbaren und diese Geheimnisse waren unsere Nahrung.

Die Schatten wussten darum und so spielten sie nicht selten mit diesen
Unregelmäßigkeiten, um uns zu füttern und so an der Konzentration zu
Hindern, die ihnen gelten sollte. Es musste sich dabei nicht
Notwendigerweise um eine Lichtquelle handeln, alle Arten der
Augenwischerei waren schließlich denkbar, und da wir nicht fähig waren,
Eine Mirage von einem handfesten Geschehen zu unterscheiden, fiel es den
Schatten leicht, genau dort einzufallen, wo wir am empfindlichsten waren.
Ich selbst beobachtete nahezu ausschließlich Zweideutiges, eine Analyse
War nicht vorgesehen, denn diese hätte ein Weltbild erfordert, das sich mit
Dem jener zur Deckung bringen ließ, die meine Beobachtungen empfingen.

Als ich mich schließlich von der Laterne lösen konnte, sah ich, dass der
Reisigbesen nicht mehr auf der Straße lag. Da ich jedoch lange genug in das
Licht geblickt hatte, erkannte ich sein Negativ dort liegen, was mit einem
Kühlen Blick nicht möglich gewesen wäre. Ich wusste, dass die Schatten
Das, was ich sah, manipuliert hatten. Es war vorgesehen, bei einem
Derartigen Zwischenfall den Standort zu wechseln, aber ich fühlte mich
Wohl auf dem Balkon des Rathauses, der die gesamte Vorderfront
Dominierte, und so blieb ich vorerst, wo ich war.

Ich spielte mit dem Gedanken, die Vergangenheit anzuzapfen, um mich
Etwas zu amüsieren und zu beobachten, was ich zwar schon kannte, aber nie
Genossen hatte, weil mein Eifer mich zur Neutralität zwang, zu der ich nie
Ein freundschaftliches Verhältnis pflegte. Ich könnte mir den Abrieb der
Schuhe, die tagsüber hier flanierten und eilten, etwas genauer ansehen und
Darüber dann vielleicht besser verstehen, warum der Reisigbesen überhaupt
Dort gelegen hatte, und schließlich – noch einen Schritt weiter – warum er
Von den Schatten genommen worden war, die nicht dafür bekannt waren,
Etwas willkürlich und grundlos zu verkehren, auch wenn ihr Ziel die
Verunglimpfung der Ordnung zu sein schien. Da wir uns also ähnlich waren,
Konnte es also sein, dass ich ihre Beweggründe besser verstand, wenn ich
Etwas nicht Vorhergesehenes tat, wenn ich blieb wo ich war und den
Schuhabrieb einer bestimmten Spanne studierte.

Ich wendete also meinen Blick erneut der Laterne zu und blätterte das Licht
Zurück, und als dies nicht mehr möglich war, weil die Sonne vom Abend
Zum Mittag zog und also noch kein künstliches Licht nötig war, erhaschte
Ich die Summe des vor mir liegenden Platzes, wie er war, bevor die
Abendbeleuchtung startete. Viele Menschen gingen durcheinander und
Gruben ihr Gewicht in den Asphalt. Ich benötigte nur eine kleine Weil und
Sah, dass sehr viel Schuhwerk zurückgeblieben war. Das mochte schon
Vorgestern so gewesen sein – Schuhwerk war billig – aber zu diesem
Zeitpunkt war ich nicht hier und wusste also nicht zu sagen, ob man
Vielleicht jeden Abend hier kehrte.

Trotzdem fand ich keine Spur von einem Kehrer, geschweige denn von
Einem Besen. Erst dadurch wurde mir klar, dass es wohl eines Putzvorgangs
Bedurft hätte, dieser aber nicht vorbereitet und schon gar nicht ausgeführt
Worden war. Folglich hatte es nie einen Reisigbesen gegeben und ich hatte
Etwas beobachtet, das nur als Nachbild einer vermuteten Erinnerung präsent
War. Diesen Defekt nahm ich mir vor zu verschweigen, denn das Schüren
Eines Zweifels wäre gleichbedeutend mit dem Verlust meines Aufenthalts in
Der Nacht. Niemand hätte mich mehr unbeobachtet gelassen, so dass mir
Gar nichts anderes übrig bleiben würde als dazuliegen und zu warten. Es
Wäre mir nicht mehr möglich, einen eigenen Antrieb aufrecht zu erhalten.
Ich würde warten, auf den nächsten Tag, die nächste Nacht, auf Nachricht
Vom Geschehen um mich herum, dem ich nicht mehr beiwohnen könnte.

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