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Seit ihrem Durchbruch 2015 mit „The Girl on the Train“ hat sich Paula Hawkins als meisterhafte Erzählerin psychologischer Spannungsromane etabliert. „Die blaue Stunde“ bleibt dieser Linie treu und bietet eine Geschichte, die sich langsam entfaltet, dabei aber zunehmend an Intensität gewinnt. Es ist kein klassischer Krimi oder Thriller, sondern vielmehr ein atmosphärisch dichter Roman, der einer kunstvoll geknüpften Intrige gleicht: Man weiß, dass man irgendwann das Zentrum erreichen wird, doch was einen dort erwartet, bleibt lange ungewiss.
Die Inspiration für den Schauplatz des Romans kam Paula Hawkins während eines Urlaubs, als sie wegen einer Verletzung ans Bett gefesselt war. Sie sah eine Insel und begann darüber nachzudenken, welche Geschichten sich dort abspielen könnten. Ihre Liebe zur Kunst spielte ebenfalls eine große Rolle bei der Entwicklung der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander.
Natürlich erfahren wir auch, was es mit dieser „blauen Stunde“ auf sich hat:
… wenn die Nacht langsam näher rückte und der Himmel sich allmählich mit Sternen zu füllen begann …
Im Mittelpunkt steht die Künstlerin Vanessa Chapman, die bereits seit fünf Jahren tot ist. Doch durch ihre Tagebücher, ihre Kunstwerke und die Erinnerungen der Menschen, die ihr nahestanden, bleibt sie weiterhin präsent. Einer dieser Menschen ist James Becker, Kurator am Fairburn House, der sich intensiv mit ihrem Werk beschäftigt. Als in einer von Vanessas Skulpturen ein menschlicher Knochen entdeckt wird, droht ein Skandal. Wer war der Tote? Und wusste Vanessa von der makabren Einlage in ihrer Kunst?
Die Spur führt Becker auf die abgelegene Insel Eris, wo Vanessa einst mit ihrer engen Freundin und Mitbewohnerin Grace lebte. Grace, eine ehemalige Ärztin mit schroffer Art, hütet die Geheimnisse von Vanessas Vergangenheit und zögert, Becker alle Antworten zu geben. Doch nach und nach fügen sich die Bruchstücke eines düsteren Puzzles zusammen: das mysteriöse Verschwinden von Vanessas Mann Julian, die Abgründe ihrer Ehe und die Spuren ihres inneren Kampfes, die sich in ihrer Kunst widerspiegeln.
Die Atmosphäre des Romans ist von einer ständigen Unruhe durchzogen. Vanessas Schlaflosigkeit, ihre nächtlichen Wanderungen am Strand, das bedrohlich glitzernde Meer – all das schafft eine surreale, traumartige Stimmung, die sich in ihren Werken manifestiert. Ihre Kunst ist düster, von persönlichen Tragödien geprägt und offenbart tiefe seelische Risse.
Gleichzeitig ist „Die blaue Stunde“ eine vielschichtige Charakterstudie. Nicht nur Vanessa, sondern auch Becker und Grace stehen im Zentrum einer psychologisch fein gezeichneten Erzählung. Während Becker versucht, die Wahrheit hinter Vanessas Leben und Werk aufzudecken, kämpft er mit seinen eigenen Dämonen: Seine Frau erwartet ein Kind, doch er ist zunehmend besessen von Vanessas Geschichte. Grace wiederum ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Loyalität zu Vanessa und den düsteren Wahrheiten, die sie mit sich trägt.
Paula Hawkins gelingt es meisterhaft, die Spannung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten. Das Buch verlangt (wie jedes gute Buch) Geduld – es entfaltet sich langsam, aber mit jeder Enthüllung werden die Leserinnen und Leser dann durchaus belohnt. Und letztlich stellt sich die entscheidende Frage: Was bleibt von einem Menschen, wenn er geht? In „Die blaue Stunde“ lebt Vanessa Chapman weiter – in ihrer Kunst, in den Erinnerungen anderer und in den Schatten der Geheimnisse, die sie hinterlassen hat.