Kemptener Tagelohn

Ein Stück New York in Kempten

New York
Aufbau der Kirmes

Ein Parkplatz wird gerade ausgerollt wie ein gilber Teppich, um für den Kathreinemarkt, der am 20. Oktober beginnt, darauf vorbereitet zu sein, Leute durch die Gegend schütteln zu müssen. Bei einigen setzt sich dann ihr Menü neu zusammen (und vielleicht setzt sich auch etwas Grobgemahlenes auf ihre Zunge). Ein Scooter freilich schüttelt nicht, sondern scootet und bumst wie einst im Jahre 1906 in Coney Island, wo Neville’s Automobile Railroad diesen erschütternden Spaß zum ersten Mal präsentierte. Nur war es damals ein viel größeres Wunder und eine Bewertung dieses kleinen Fleckens käme einem Zerpflücken flauschiger Zuckerwatte gleich. Man darf natürlich wissen, dass ich mit den fränkischen Wiesen- und Schützenfesten aufgewachsen bin, weshalb mir nur ein bedauerliches Lächeln bleibt. Aber immer wenn ich den Königsplatz (ein spannender Name für einen Parkplatz) durchschreite und der angedachten Buntheit gewahr werde, kann ich mich zumindest an Zeiten erinnern, als solcherart hingepflanzte Buden einen Zauber verströmten, der – wie alle Zauber – über die Jahrzehnte hinweg ausradiert wurde.

Ich kennte Gnade, gäbe es eine Geisterbahn.

Kemptener Tagelohn

Auch in Kempten gab es Eis

Wollmammut
Zum Anlass der Sonderausstellung im Kemptener Marstall vom 28. Oktober bis zum 14. April 2024 postiertes Eiszeitwesen.

Vor 26.000 Jahren kam er hier an und erstarrte. Das kleine Wollmammut fraß wahrscheinlich gerade eine Dino-Heuschrecke (um sich nach getaner Wanderschaft und einer Menge frischer Luft belohnt zu fühlen), und da spürte er es: hier würden irgendwann die Römer (was sind Römer?) eine der schönsten Kleinstädte errichten (was sind Kleinstädte?). Es war diese Vision, die er kurz darauf wieder vergessen würde, aber später – viel später, würde er in die Geschichte eingehen als Dr. Kalle Mamm, jenes Wollwesen nämlich, das die Science Fiction in der Mastodon-Familie begründete. Man hatte ja nicht viel in der Eiszeit. Das Feuer war zwar schon bekannt, aber es zeigte sich nie dort, wo man es brauchte: im Kamin der eigenen Höhle nämlich.

Brouillon

Schutz vor dem Autor

Es ist, wenn man über Bücher schreibt, nicht anderes,  als ob man über sich selbst schriebe; nur ein Vorwand zwischen sich und dem Gedanken, den man formuliert. Auch sucht man selbstverständlich sich selbst, wenn man nach Büchern sucht, die man zu lesen beabsichtigt. Man wartet auf ein Signal, eine Merkwürdigkeit, die aus einem selbst kommt. Bücher sind natürlich keine Lebewesen, auch wenn das ab und zu behauptet wird, sie können nichts leisten ohne unser Zutun, und was wir tun, ist ein Abgleich unserer Selbst mit dem, was ein anderer stellvertretend für uns gedacht hat. Im günstigsten Fall gibt es keine Distanz zwischen dem Leser und dem, der für ihn, unwissentlich, geschrieben hat. Es ist nie verkehrt, wenn der Autor, den man liest, bereits verstorben ist oder zumindest ganz und gar unerreichbar, weil er etwa auf einem anderen Kontinent lebt. Auf diese Weise kann man sich am besten vor ihm schützen und vor all dem, was er über uns weiß.

Kemptener Tagelohn

Der Hexenschuss am Abend

Es ist die dritte Nacht, in der mich die Poltergeister drangsalieren. Heute war es die Hexe mit ihrem Hexenschuss (wahrscheinlich habe ich mir einen Nerv im Steiß eingeklemmt), so dass ich bei jeder Drehung aufwachte. Als ich schließlich den Abort aufsuchen musste – ein Drang, der weißgott nicht zu ignorieren ist, will man überhaupt noch ein Auge zutun – kam ich nicht in die Höhe. Nach einer Viertelstunde hatte ich mich zumindest an der Bettkante aufgesetzt. Es gelang mir, mich in die Küche zu schleppen, um etwas Voltaren aufzutragen und siehe da, es wurde zumindest in der Weise erträglich, dass ich mich Bewegen konnte.

Tagsüber war davon überhaupt nichts zu spüren, das Flanieren über den Flohmarkt an der Allgäuhalle war sogar wieder sehr ertragreich. Drei Plattenstände abgegrast und bei jedem fündig geworden. Selbst Raritäten wie Larry Coryells The Restful Mind waren zu finden. Eine wirklich erstaunliche Entwicklung für Kempten.

Selbst ein kleines Spitzweg-Gemälde fand seinen Umschlag. Der gute alte Biedermeier-Stil – hier der „ewige Hochzeiter“, was ja nun wirklich kein unbekanntes Gemälde ist. Interessant ist die Rahmung, die aus alten österreichischen und schweizer Abbruchhäusern aus dem 16ten bis 19ten Jahrhundert rührt und zusammengesetzt wurde. Leider ist das Gemälde nicht komplett gefasst, sondern nur die Blumengabe an der Treppe. Natürlich ist ein Begriff so gut wie der andere; wenn man bedenkt, dass der Biedermeier vor dem „Realismus“ angesetzt war – eine Epoche, die im Grunde zur Verlogensten überhaupt gehörte (was der Name „Realismus“ ja schon aussagt), ist es kein Wunder, dass in permanenter Unstetigkeit ein Elysium aus Behaglichkeit auch heute noch bei empfänglichen Menschen durchschlägt, vor allem deshalb, weil sich heute mehr das Irrationale und völlig Menschenverachtende des Realismus durchgesetzt hat.

Brouillon

Traum vom Zahnarzt-Urinal

Zum Zahnarzt kam ich durch eine dünne, aber hohe Hintertür, die in einer billigen hellen Pappwand eingelassen war. Zunächst sah ich überall nackte Patienten auf Tragen und Tischen liegen, teils mit in die Höhe gereckten Extremitäten. Der Arzt erschien in Schweiß gebadet, mit fettigen Haaren und vollkommen übernächtigt.

Ich musste aufs Klo, betrat die Praxis also zunächst nicht, sondern das Damenklo, wo eine dicke Frau in der linken äußersten Kammer in einem schwarzen Kleid auf dem Boden lag und sich entleerte. Allerdings war nur ihr Arm zu sehen, der aus der Tür lugte. Ich pisste in ein Urinal, was in einem Damenklo merkwürdig fehl am Platze wirkte. Es erhob sich – aus braunem Sandstein – vor einem großen Schaufenster, an dem Leute auf der Straße vorbei gingen, die aber nicht ihren Kopf in meine Richtung wendeten. Später rutsche ich vom Dach, hielt mich fest und erinnerte mich, dass ich schon einmal da war, allerdings mit einem Freund, der mich wieder nach oben zog. Diesmal blieb mir nichts anderes übrig, als hinunterzuklettern. Ich wusste allerdings, dass es mir nicht gelingen und ich fallen würde.

Brouillon

Das Ende eines Plattenspielers

Der Fisher, dessen Direktantrieb seit 1979 rotiert, hat nun Schwierigkeiten bekommen, mitzuhalten. Was sich so belanglos anhört, ist nichts weiter als das Ende eines alten Plattenspielers, der jetzt einem Pro-Ject weichen muss. Sicher könnte ich mir eine alte Maschine zum Ausschlachten besorgen – was ich zunächst auch wollte; aber auch dieser Motor wird 40 Jahre auf dem Buckel haben, das Ende also nur verschleppt. Außerdem wird es ohnehin Zeit für ein Lift-Off. Das war all die Jahre nicht klar, aber es stehen einige Blue Note-Veröffentlichungen an, die ohne eine Verbesserung der ganzen Anlage kaum ihren Preis wert wären. Mehr später.

Brouillon

Jazz ist dem Dichter am nächsten

Jazz zu hören ist eine ganz andere Form des Lebens. Seine Geschichte ist ebenso dunkel wie lang. Und auch wenn Puristen die akustischen Traditionen bevorzugen (die es im Jazz tatsächlich nur schwerlich zu finden gibt, weil dessen Form alles destillieren und neu erschaffen kann), fühle ich mich auch in der Fusion-Welt recht wohl. Ich glaube, der Jazz ist jene Musikform, die dem Dichter am nächsten steht. Der Jazz hat es natürlich zu etwas gebracht, die Dichtung eher nicht. Ich bin mir nicht sicher, behaupte aber, dass John Ashbery der letzte war, dem man vertrauen konnte.

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Brouillon

Hermann Szobel, unbekannt

Andy Edwards erzählte mir von einem österreichischen Musiker namens Hermann Szobel, der 1976 im Alter von 18 Jahren ein einziges Album aufnahm. Beim Einspielen seines zweiten Albums wurde er verrückt und verschwand. Bis heute konnte er nicht aufgefunden werden. Ich habe die Platte gefunden und sie auch sofort im Amerika bestellt. Wenige Exemplare gibt es, aber warum das Album selbst in Jazz-Fusion-Kreisen so unbekannt ist, bleibt ein ebensolches Rätsel wie Hermanns verschwinden.