Yuggoth 28 – Erwartung

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

Ich kann nicht sagen, warum manche Dinge in mir
Ein Gefühl von unergründeten Wundern hervorrufen
Oder von einem Riss in der Wand des Horizonts,
Der sich zu Welten öffnet, in denen es nur Götter gibt.
Da ist eine atemlose, verschwommene Erwartung,
Wie die an riesige alten Prunkstücke, an die ich mich halbwegs erinnere,
Oder auf wilde Abenteuer, unkörperlich, ekstatisch
Und so ungebunden wie ein Tagtraum.

Das Rätsel liegt in Sonnenuntergängen und fremden Stadttürmen,
Alten Dörfern und Wäldern und Nebelschwaden,
In Südwinden, dem Meer, sanften Hügeln und beleuchteten Städten,
Alten Gärten, halbgehörten Liedern und dem Mondfeuer.
Aber obwohl jede dieser Verlockungen allein schon das Leben lebenswert macht,
Errät oder vermutet keiner, was sie zu geben bereit sind.

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Roderers Eröffnung / Guillermo Martinez

Roderer ist ein „zerebraler Held“, der eifrig und manisch nach der Möglichkeit eines „neuen Denkens“ sucht, das der aristotelischen binären Logik (Sein oder Nichtsein), die er als starres Korsett und philosophisches Gefängnis betrachtet, entkommt, um das „ausgeschlossene Dritte“ zu finden. „Etwas“, wie er sagt, zwischen Sein und Nichtsein, vermutet er in den Schöpfungen der Kunst. Es ist eine Analyse des Seins des Menschen und des Seins der Sprache, die die tiefe Verbindung zwischen ihnen berücksichtigt, wie Michel Foucault sie in den 1970er Jahren vorschlug und ihr den Status einer entscheidenden Frage des zeitgenössischen Denkens zuschrieb. Im Schatten dieses Gedankens (und des Poststrukturalismus im Allgemeinen) scheint Roderers einsames und herzzerreißendes Genie zu wachsen, der binären Logik zu entkommen, Nietzsche folgend, sich im Wandel, in den Fluktuationen zu behaupten und die verlorenen Verbindungen, die Zwischenzustände des Denkens wiederzufinden.

Roderers intellektuelles Bemühen gerät auf eine schiefe Bahn, wenn er sich seinen „Erleuchtungen” hingibt, sich im Konflikt mit den Göttern und der Zeit des Todes wähnt und mit seiner Krankheit, seinem Schmerz und seiner unvorstellbaren Einsamkeit nicht zurechtkommt. Das narrative Design, das Roderers Leben umgibt, folgt einer binären Logik, die in Gegensätzen und Zwielicht verharrt – wie das Leben selbst –, von dem er sich zu isolieren versucht, um seinen „Blick in den Abgrund“ zu wagen. Das luzide Schachspiel, das schulische Wissen und die Selbsterziehung, die Intelligenz und das Genie, Cambridge und die Falklandinseln, das universitäre Wissen und die heilige Vision von Machu Picchu, der Himmel und die Hölle – kurz: die Funktionsweise und Vereinfachung der Intelligenz – wiederholen sich bis zur Hartnäckigkeit. Roderer kämpft gegen diese Tradition an – allein und krank.

Man könnte meinen, dass die Handlung dieses Romans ausschließlich aus der intellektuellen Beziehung zwischen Roderer und dem Erzähler besteht. Da es sich jedoch um eine Allusion handelt, ist dies ein guter Ausgangspunkt, um den Inhalt einer Beziehung zu verstehen, die nicht in den Bereich der Freundschaft, sondern in den eines eventuellen Wettstreits ungewöhnlicher Intelligenzen fällt und somit in die letzte Bedeutung der Suche nach Antworten auf den Schmerz des Daseins eintaucht.

Roderer kommt in die Stadt Puente Viejo, um dort die weiterführende Schule zu besuchen. Er lebt allein mit seiner Mutter, einer aufopferungsvollen Frau, die versucht, alle Bedürfnisse des wissbegierigen Teenagers durch die zahllosen Bücher zu decken, die ihn überallhin begleiten – auch in die neue Schule. Dort sucht er Zuflucht in ihnen und versucht, seinen Platz und seinen Sinn im Leben zu entschlüsseln. Zu Beginn wird er in einem komplexen Kräftemessen in einer Schachpartie mit dem Erzähler konfrontiert. Dieser ist ein hervorragender Spieler und erlebt mit, wie Roderer ihn nach und nach geistig erstickt und schließlich besiegt – fast so, als wäre es eine reine Formalität gewesen.

Doch ab diesem Moment wird der Protagonist und Erzähler Teil von Roderers Existenz – und umgekehrt. Die beiden befruchten sich in einem bisweilen einseitigen Dialog gegenseitig, denn Roderer scheint ein tragischer Erleuchteter zu sein. Er nimmt die Wirklichkeit jenseits des Unmittelbaren mit einer verblüffenden Klarheit wahr. Was Roderer bei diesem Kräftemessen wirklich antreibt, ist der Wunsch, eine Art Resonanzboden vor sich zu haben. Seine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt erfordert jemanden, der die Tiefe seines Verstandes begreift.

Roderer beschäftigt sich mit Autoren, die der Mehrheit unbekannt sind und die sein ungewöhnliches Wissen nähren. Zusammen mit seiner besonderen Intelligenz bringt es ihn an den Rand des Ungleichgewichts. Aus der Geschichte unseres Protagonisten ergibt sich, dass die anderen, weil sie substanzlose Wesen sind, eine banale Realität gestalten, die ihnen aber zusagt. Andererseits trägt Roderer den untrüglichen Stempel einer bestimmten Sorte von Genies, die sich nicht in ein menschliches Universum einfügen können und wollen, da sie dieses in Form und Inhalt verabscheuen.

In der Schule wird er als seltsames, zurückgezogenes Individuum wahrgenommen, das sich von seinen Mitschülern entfernt. Dennoch übt er eine unausweichliche Anziehungskraft auf Frauen aus. Cristina, die schöne Schwester des Erzählers, ist schließlich von der geheimnisvollen Atmosphäre, die Roderer ausstrahlt, geblendet, ohne es zu wollen. In dieser Perspektive wird auch Daniela Rossi, ein junges Mädchen, eine ungesunde Verehrung für Roderer empfinden. Diese geht so weit, dass sie auf alarmierende Weise an Gewicht verliert, was in einer fulminanten Magersucht mündet, die mit ihrem Tod endet. Dieses beunruhigende Ereignis führt zu Roderers dauerhaftem Rückzug vom Studium.

Seine Misanthropie verschlimmert sich. Er schließt sich in seinem Zimmer ein und verlässt es kaum noch. Tag und Nacht ist er in seine beklemmende Lektüre vertieft. Der Erzähler kommt zu ihm und sie führen umständliche Gespräche über Roderers unstillbare Suche. Dabei gehen sie Spinoza, Thomas de Quincey und seine Ausflüge in das Opium als Wunderdroge, Hölderlins Texte und seine strengen Analysen der Verbindung mit dem Teufel als Substrat seiner Werke sowie schließlich Nietzsche, Goethe und Heidegger durch. Schließlich gelangen sie zu dem großen fiktiven Satz von Seldom, der die Mathematik revolutionierte und den der Erzähler Roderer nach seinem Eintritt in die Universität nahebrachte.

Dies ist auch ein wesentlicher Teil des unvorhersehbaren Schlusses des Romans. Roderers obsessive Suche nach dem Sinn des Daseins ist das, was Nietzsche als „die neue menschliche Erkenntnis” bezeichnete. Das Werk verführt uns nicht nur mit dem Talent seines Autors, sondern berührt uns auch mit dem trostlosen Leben Roderers: eine einzigartige Figur, die es nicht geschafft hat, irgendwo hinzugehören, obwohl sie vielleicht ihre eigene Welt gewonnen hat.

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Thermostatus

Es war heiß an diesem Tag, aber auch nicht so heißt, dass man gesagt hätte: Es ist heiß heute. Das wäre den wirklich heißen Tagen gegenüber nicht gerecht gewesen, die sich immerhin bemühten, durchs Fleisch zu dringen, um die Knochen zu Gelatine zu verarbeiten. Aber es war verdammt viel wärmer als es hätte sein sollen, was impliziert, dass es da jemanden gab, der den Regler nach Herzenslust hin und her drehten konnte. Schau, es gibt da diese Kluft zwischen all den mittelalterlichen Marotten und den fliegenden Strümpfen, zwischen all den Heinis, die in Windeseile Verbrechen aufklären und Mädels, die mit Vampiren vögeln. Die Zeit der Megasuppen ist gekommen, nichts hält uns mehr auf, Sherlock Holmes gegen Graf Dracula in den Kampf zu schicken.

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Yuggoth 27 – Der alte Leuchtturm

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

Von Leng kommend, wo Felsgipfel trostlos und kahl
Unter kalten Sternen krabbeln, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben,
Dort schießt in der Dämmerung ein einziger Lichtstrahl hervor,
Dessen ferne blaue Strahlen die Hirten im Gebet wimmern lassen.
Sie sagen (auch wenn es keiner hört), dass sein Ursprung
In einer Kammer aus Stein zu finden sei, ein Leuchtturm,
Wo der letzte der Älteren für sich alleine vegetiert
Und durch Trommelschläge mit dem Chaos spricht.

Das Ding, so flüstern sie, trägt eine seidene Maske
Von gelber Farbe, deren seltsame Linien ein Gesicht zu verbergen scheinen,
Das nicht von dieser Erde stammt, obwohl niemand zu fragen wagt,
Was das für Züge sind, die sich im Inneren offenbaren.
Viele haben in der Frühzeit des Menschen dieses Leuchten gesucht,
Aber niemand wird je erfahren, was sie wirklich fanden.

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Yuggoth 26 – Die Vertrauten

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

John Whateley lebte etwa eine Meile von der Stadt entfernt,
Dort oben, wo die Hügel anfingen, dichter zu werden;
Wenn man sah, wie er seinen Hof verkommen ließ,
Wollte und musste man an seinem Verstand zweifeln.
Er vergeudete seine Zeit mit einigen seltsamen Büchern,
Die er auf dem Dachboden seines Hauses gefunden hatte,
Bis sich merkwürdige Linien in sein Gesicht gruben,
Und sich alle darin einig waren, sein Aussehen als Abstoßend zu empfinden.

Als er mit diesem nächtlichen Heulen begann, beschlossen wir,
Ihn besser vor Schaden zu bewahren,
Also gingen drei Männer von der Stadtfarm in Aylesbury zu ihm –
Kamen aber zurück: allein und verängstigt und ohne ihn.
Sie hatten ihn im Gespräch mit zwei kauernden Dingern gefunden,
Die auf großen schwarzen Flügeln augenblicklich davon flogen.

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Yuggoth 25 – Tsathoggua

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

„Hüte dich vor dem zerrütteten Glockenspiel der Kröte!“, hörte ich
Ihn schreien, als ich mich in diese verrückten Gassen stürzte,
Die sich südlich des Flusses, wo die alten Jahrhunderte träumen,
In dunkle und verdrehte Labyrinthe teilen, alle ohne Ziel.
Er war eine verstohlene Erscheinung, gebückt und zerlumpt,
Und in einem Nu war er aus dem Blickfeld entschwunden,
Also grub ich mich weiter durch die Nacht,
Dorthin, wo sich die bösartig-zackigen Dachgaupen erheben.

Es gibt keinen Leitfaden, in dem verzeichnet steht, was hier lauert –
Doch nun hörte ich einen anderen Alten schreien: „Hüte dich vor
Dem zerrütteten Glockenspiel der Kröte!“ Und als mich die Schwäche überkam,
Hielt ich inne, als ein dritter Graubart voller Angst krächzte:
„Hüte dich vor dem zerrütteten Glockenspiel der Kröte!“ Voller Entsetzen
Floh ich dann – bis plötzlich diese schwarze Spitze drohend vor mir ragte.

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Frightened / Flynn Berry

Der etwas befremdliche deutsche Titel „Frightened“ – im Original treffender „Under the Harrow“, ein Wortspiel aus „Unter Qualen“ und „Unter der Egge“ – markiert Flynn Berrys Debütroman, der für den Edgar Award nominiert war. Häufig wird das Buch mit Bestsellern wie „Gone Girl“ oder „The Girl on the Train“ verglichen. Und tatsächlich gibt es Parallelen, insbesondere die unzuverlässige Erzählerin. Doch Berry gelingt es mit ihrem eigenwilligen Schreibstil, der gleichermaßen die Geschehnisse enthüllt und verschleiert, eine eigene Stimme zu finden und sich von der überfüllten Landschaft der Psychothriller abzuheben – wenn auch ohne die Wucht der genannten Vergleichstitel zu erreichen.

Die Geschichte beginnt mit Nora, unserer Ich-Erzählerin, die mit dem Zug von London aufs Land reist, um ihre Schwester Rachel zu besuchen. Doch kaum betritt sie das Haus, wird sie mit einem grausamen Anblick konfrontiert: Rachel und ihr Hund wurden brutal ermordet.

Bemerkenswert ist Berrys Entscheidung, die Geschichte in Präsens zu erzählen – eine eher seltene, aber hier durchaus gut umgesetzte Wahl. So gelingt es ihr, die Handlung zugleich intim und distanziert wirken zu lassen. Wir erleben die Geschehnisse hautnah mit, doch unser Wissen bleibt begrenzt auf das, was Nora preisgeben will. Ihre wahren Gedanken bleiben verborgen, und wir müssen ihre Gefühle aus den Reaktionen der Menschen um sie herum selbst deuten. Das Lesen gleicht dem Schälen einer Zwiebel – Schicht für Schicht werden neue Facetten enthüllt, doch das Zentrum bleibt lange im Dunkeln.

Der Roman spielt gekonnt mit den Erwartungen des Lesers. Wir sind es gewohnt, unseren Erzählern zu vertrauen, doch Nora entzieht sich dieser Gewissheit. Dadurch entsteht eine permanente Unsicherheit, die perfekt zum Genre des Psychothrillers passt. Der ungewöhnliche Schreibstil verstärkt diese Wirkung zusätzlich. Die Erzählweise im Präsens vermittelt ein Gefühl der Rastlosigkeit und Vorahnung – wir wissen nicht, was als Nächstes passiert, und auch Nora hat keine Gewissheit, wie alles enden wird. Es gibt kein reflektierendes Zurückblicken, keine Sicherheit, kein Versprechen, dass sie unversehrt aus der Geschichte hervorgeht. Alles ist möglich.

„Frightened“ erinnert eindringlich daran, wie selbstverständlich wir eine bestimmte Erwartung beim Lesen eines Romans vor uns aufbauen – und wie leicht sie uns entzogen werden kann. Zudem thematisiert das Buch, dass wir die Fehler der Toten oft wohlwollender übersehen als die der Lebenden und dass die gefährlichsten Lügen oft jene sind, die wir uns selbst erzählen. Nora verliert sich in Erinnerungen an die Vergangenheit, insbesondere an einen gewaltsamen Übergriff, der Rachel nie losgelassen hat und zu ihrer Obsession führte, den Täter zu finden.

Als Nora die Fäden von Rachels geheimer Suche aufnimmt, taucht sie immer tiefer in eine gefährliche Wahrheit ein. Die Handlung entwickelt sich wie ein ins Rollen geratener Felsbrocken – unaufhaltsam und mit wachsender Intensität. In dem verschlafenen Städtchen, das Nora aufmischt, werden zu viele Geheimnisse ans Licht gezerrt, die viele Leben unwiderruflich verändert. Alles steuert auf ein Finale zu, das alles Vorangegangene auffliegen lässt.

Flynn Berry gelingt mit „Frightened“ ein spannender, atmosphärisch dichter Thriller, der das Genre um eine interessante Stimme bereichert. Wer unzuverlässige Erzählerinnen, subtile Psychologie und ein langsames, aber unaufhaltsames Aufdecken düsterer Wahrheiten schätzt, wird hier auf seine Kosten kommen.

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