
Juan Carlos Onettis Erzählung „Ein verwirklichter Traum” (1941) zählt zu den rätselhaftesten und atmosphärisch dichtesten Kurzgeschichten der lateinamerikanischen Literatur. In dieser meisterhaft komponierten Erzählung verschwimmen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, Theater und Leben, bis sie vollständig verwischen. Die Geschichte einer namenlosen Frau, die den gescheiterten Theaterunternehmer Langman beauftragt, ihren Traum auf der Bühne zu inszenieren, wird zu einer tiefsinnigen Meditation über Sehnsucht, Selbsterkenntnis und Tod.
Langman, ein heruntergekommener Theaterdirektor, der in einer heißen Provinzstadt gestrandet ist, erzählt die Geschichte selbst. Eine mysteriöse Frau in Schwarz sucht ihn auf und hat ein ungewöhnliches Anliegen: Sie möchte ein kurzes Theaterstück aufführen – allerdings nicht vor Publikum, sondern nur für sich selbst. Das Stück, das sie „Ein verwirklichter Traum“ nennt, basiert auf einem Traum, der ihr einst ein Gefühl intensiven Glücks vermittelt hat, dessen Bedeutung sie jedoch nicht versteht.
Obwohl Langman die Frau zunächst für verrückt hält, willigt er ein, da er das Geld braucht. Er engagiert Blanes, den einzigen verbliebenen Schauspieler seiner Truppe, der ständig betrunken ist, sowie eine Prostituierte für eine kleine Nebenrolle. Die Aufführung findet im leeren Theater statt und zeigt eine simple Szene, in der Blanes der Frau über das Haar streicht, während sie auf dem Bordstein einer ärmlichen Straßenkulisse liegt.
Die Geschichte gipfelt in einem tragischen Finale: Während der Aufführung stirbt die Frau. Erst in diesem Moment begreift Langman die wahre Bedeutung ihres Anliegens – sie wollte einen Moment vergangenen Glücks noch einmal erleben, bevor sie starb.
Onetti konstruiert eine dreifache Verschränkung von Traum, Theater und Tod, die das Herzstück der Erzählung bildet. Der Traum der Frau ist keine fantastische Vision, sondern eine simple, alltägliche Szene – dennoch erfüllt er sie mit einem Glücksgefühl, das sie rational nicht erklären kann. Indem sie diesen Traum theatral inszenieren lässt, versucht sie, das Unbewusste ins Bewusste zu überführen, das Flüchtige festzuhalten, das Vergangene zurückzuholen.
Das Theater wird hier zum Medium der Selbsterkenntnis und zugleich zum Übergangsraum zwischen Leben und Tod. Die Frau benutzt die Bühne nicht zur Unterhaltung oder künstlerischen Expression, sondern als rituellen Raum, in dem sie ihre eigene Endlichkeit inszenieren und annehmen kann. Die theatrale Maske erlaubt es ihr paradoxerweise, ihre wahre Identität zu offenbaren – sie ist zugleich Hamlet und Ophelia, Regisseurin ihres eigenen Todes.
Die Figur der Frau: Rätsel und Interpretation
Die namenlose Protagonistin verkörpert jenen „dunklen weiblichen Kontinent”, den Onettis männliche Erzähler immer wieder zu ergründen versuchen, ohne je zu einem endgültigen Verständnis zu gelangen. Sie bleibt ein Rätsel: Ist sie verrückt, wie Langman zunächst annimmt? Oder ist sie eine Lehrerin aus gutem Haus, wie die Dorfbewohner berichten? Oder ist sie eine Frau, die ihren eigenen Tod bewusst orchestriert?
Onetti verweigert eindeutige Antworten. Die Frau besitzt ein Wissen, das sich der rationalen Erfassung entzieht: ein Wissen um den Tod, um vergangenes Glück und um die Notwendigkeit, bestimmte Erfahrungen zu wiederholen, um sie endlich verstehen oder loslassen zu können. Ihre schwarze Kleidung, ihre Ruhe und ihre Entschlossenheit deuten darauf hin, dass sie mit ihrem Schicksal längst abgeschlossen hat.
Die Geschichte wird konsequent aus der Perspektive Langmans erzählt. Er ist ein zynischer, gescheiterter Mann, der die Frau zunächst nicht ernst nimmt. Seine Blindheit ist symptomatisch für die männlichen Figuren in Onettis Werk, die unfähig sind, die Tiefe weiblicher Subjektivität zu erfassen. Langman sieht in der Frau zunächst nur eine „Verrückte”, eine Kuriosität, eine Geldquelle.
Blanes hingegen, der betrunkene Schauspieler, entwickelt eine intuitive Verbindung zu ihr. Nach einer gemeinsam verbrachten Nacht behauptet er, sie sei nicht verrückt. Durch seine körperliche Nähe zu ihr ist er in der Lage, sie jenseits der Worte zu verstehen, was Langman erst im Moment ihres Todes gelingt.
Die beiden Männer repräsentieren unterschiedliche Formen der Entfremdung: Langman ist durch zynische Rationalität entfremdet, Blanes durch Alkohol und gesellschaftlichen Verfall. Beide sind „gescheiterte” – entwürdigte, zerbrochene Männer in Onettis typischer Manier. Die Frau hingegen bewahrt bis zuletzt ihre Würde und Souveränität.
Onettis Prosa ist dicht, atmosphärisch und subtil mehrdeutig. Er arbeitet mit Andeutungen, lässt vieles im Unklaren und schafft so eine traumartige Stimmung, in der Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Wirklichkeit ineinanderfließen. Die drückende Hitze der Provinzstadt, das verfallene Theater und die nächtliche Aufführung vor leerem Publikum tragen zu einer Atmosphäre der Fatalität und Melancholie bei.
Die Erzählweise ist fragmentarisch und perspektivisch gebrochen. Langman erzählt retrospektiv mit dem Wissen um den tödlichen Ausgang, dennoch bleiben zentrale Aspekte der Geschichte unklar. Diese narrative Unsicherheit spiegelt die existenzielle Unsicherheit der Figuren wider: Niemand versteht vollständig, was geschieht; jeder interpretiert die Ereignisse anders.
Scheitern, Sehnsucht, Tod
Die Erzählung ist durchzogen von jenen existenziellen Themen, die Onettis gesamtes Werk prägen: die Last zerbrochener Träume, die Erfahrung des Scheiterns, die Sehnsucht nach einem verlorenen Glück, die Konfrontation mit dem Tod. Die Frau ist getrieben von dem Wunsch, einen Moment intensiven Glücks noch einmal zu erleben – nicht um ihn festzuhalten, sondern um ihn zu verstehen, um mit ihm abschließen zu können, um in Frieden sterben zu können.
In dieser Hinsicht erinnert die Geschichte an Albert Camus‘ Konzept des „glücklichen Sisyphos“: Die Frau akzeptiert die Absurdität ihres Unternehmens und findet gerade darin ihre Freiheit und Würde. Sie inszeniert ihren eigenen Tod nicht als Tragödie, sondern als Erfüllung – als Realisierung ihres Traums im doppelten Sinne des Wortes.
„Der verwirklichte Traum“ ist eine Erzählung von beunruhigender Schönheit und rätselhafter Tiefe. Onetti schreibt über die Grenzen menschlicher Erkenntnis, über die Unmöglichkeit, den anderen – insbesondere das „Andere“ des Weiblichen – vollständig zu verstehen. Zugleich ist es eine Geschichte über die transformative Kraft der Kunst: Das Theater wird zum Raum, in dem Leben und Tod, Traum und Wirklichkeit zusammenfallen, in dem eine letzte Wahrheit sichtbar werden kann.
War die Frau von Anfang an todkrank? Plante sie ihren Tod? Oder geschah er zufällig im Moment der intensivsten Erfüllung? Onetti lässt diese Fragen offen. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen mysteriösen Moment, in dem ein Mensch seinen Traum verwirklichte – und dafür mit dem Leben bezahlte.
In ihrer Kompaktheit, ihrer atmosphärischen Dichte und ihrer existenziellen Tiefe gehört „Un sueño realizado“ zu den eindrucksvollsten Kurzgeschichten der lateinamerikanischen Literatur und zeigt Onetti auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Könnens.