In jeder Erzählung steckt ein dramatisches Element, das auf dem Wechselspiel von Spannung und Entspannung beruht. Ob Stephen King oder Sally Rooney, die zentrale Frage bleibt immer dieselbe: Was wird geschehen? Spannungsromane und Krimis treiben diese Dynamik auf die Spitze, indem sie in die Schattenwelt der menschlichen Psyche eintauchen. Figuren, die sich moralisch relativieren und in kriminelle Machenschaften verstrickt sind, erhöhen den Einsatz und sorgen für eine kathartische Erfahrung. Eskapismus kann sowohl der Entlastung von den Schrecken des realen Lebens dienen als auch diese allegorisch verarbeiten. Denn das Erzählen solcher Geschichten spiegelt die Grundmechanismen unseres Gehirns wider: Informationen zusammenfügen, unsichere Szenarien antizipieren und – im besten Fall – daraus lernen.
„Genre“ selbst ist ein schwer fassbarer Begriff, der oft ebenso sehr von kommerziellen wie von kreativen Interessen geprägt ist. Das spezifische Vergnügen, in die Archetypen eines geliebten Milieus einzutauchen – vorausgesetzt, sie werden klischeefrei inszeniert -, bleibt jedoch unbestritten. Die Vermischung verschiedener Genres kann jedoch ein riskantes Spiel sein, da sie gelegentlich zu einem tonalen Ungleichgewicht führt. Dennoch ist der Spannungsroman eine der beständigsten und wandlungsfähigsten Formen des Erzählens. Er übersetzt das zentrale Strukturelement der Erzähldynamik auf vielfältige Weise und verwickelt die Leserinnen und Leser in kunstvoll austarierte Gedankenspiele. Im Kern geht es dabei immer um die Erkundung der Persönlichkeit – um das, was uns als Menschen ausmacht.
Der traditionelle Kriminalroman nimmt dieses Konzept wörtlich. Der einzigartige Charakter – oft in Gestalt eines Berufs- oder Amateurdetektivs – dient als Vehikel für die Erkundung der Handlung. Während sich die Erzählstränge allmählich zu einer Auflösung verdichten, erhalten wir gleichzeitig einen tiefen Einblick in die Weltsicht einer exzentrischen Hauptfigur. Doch diese Perspektive ist letztlich nur so faszinierend wie die Linse, durch die sie betrachtet wird. Die verschlungenen Plots eines Raymond Chandler verblassen hinter Philip Marlowes lakonischen Kommentaren zur Welt. Sein zynischer Heroismus entlarvt in präzise geschliffener Prosa persönliche und gesellschaftliche Heucheleien. Chandler erweitert die Grenzen des Kriminalromans, indem er Geschichten entwirft, die in ihrer Komplexität oft paradoxerweise näher am Realismus sind als stringenter konstruierte Erzählungen. So bleibt etwa das ungeklärte Schicksal eines Chauffeurs in „Der große Schlaf“ ein schwebender Faden – eine offene Frage, auf die nicht einmal Chandler selbst eine Antwort wusste. Aber auch bei eher klassischen Autoren wie Agatha Christie oder Georges Simenon sind es weniger die Details der Handlung, die in Erinnerung bleiben, als vielmehr die prägenden Charakterzüge ihrer Protagonisten – ein Beleg für die überragende Bedeutung der Figur gegenüber der Handlung.
Wer Spannung subtiler und abstrakter einsetzt, zeigt die Vielseitigkeit des Genres. Die Harlem Detectives von Chester Himes zum Beispiel schaffen dramatische Ironie, indem sie traditionelle Krimielemente mit Action und Sozialkritik verbinden. Während seine Detektive ihren Fällen nachgehen, enthüllen parallel erzählte Szenen Ereignisse, die ihnen immer einen Schritt voraus sind. Len Deightons Spionageromane wiederum beziehen ihre Spannung aus verwirrenden, undurchsichtigen Handlungssträngen, in denen selbst die Figuren selten genau wissen, was geschieht – eine Technik, die den psychologischen Realismus verstärkt, indem sie die Wahrnehmung des Lesers imitiert.
Diese abstrakteren Erzähltechniken sind letztlich immer figurenzentriert. Hinweise tauchen in Form von Gesten, Erinnerungen, Marotten oder scheinbar beiläufigen Dialogzeilen auf, die unterschwellig Entscheidungen ankündigen. So entwickelt sich die Geschichte organisch, ihr Gesamtbild klärt sich erst spät – idealerweise so spät wie möglich. Eine packende Erzählweise, die den analytischen Teil des Gehirns umgeht und gleichzeitig genügend Handlungsfäden in der Luft hält, macht es fast unmöglich, den weiteren Verlauf vorherzusehen. Viel einfacher ist es, sich einfach treiben und überraschen zu lassen – eine Strategie, die verhindert, dass auch oft wiederholte Handlungselemente irgendwann langweilig werden.
Viele Romane Vladimir Nabokovs, die man nicht primär mit dem Genre Krimi oder Thriller in Verbindung bringt, haben eine kriminelle Handlung als Dreh- und Angelpunkt. So sind Morde zentrale Katalysatoren in „Lolita“, „Gelächter im Dunkel“ und „Verzweiflung“. Letzterer ist ein besonders faszinierendes Beispiel für einen genreübergreifenden Spannungsroman. Ähnlich wie in „Lolita“ ist der Protagonist ein wahnhafter Außenseiter, dessen soziopathische Tendenzen ihn in eine finstere Verschwörung treiben. Nabokov nutzt die Ich-Perspektive, um eine trügerische Sicherheit und Empathie zu erzeugen – nur um uns am Ende mit einer schmerzhaft komischen Wendung den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Diese Überraschung gelingt, weil die blinden Flecken des Lesers geschickt ausgenutzt werden. Unzuverlässige Erzähler erzeugen genau diesen Effekt: Sie zwingen uns, die Welt gleichzeitig aus ihrer und unserer – hoffentlich rationaleren – Perspektive zu sehen, was zu spannungsgeladenen Dissonanzen führt. Ein Stilmittel, das auch Donald Westlake, Charles Willeford und Lawrence Block in ihren menschenfeindlichen Ich-Erzählungen meisterhaft einsetzen.
Flannery O’Connors Werk basiert auf subtiler psychologischer Spannung. Ihre klassische Erzählung „A Good Man Is Hard To Find“ diente als Blaupause für Werke von „Psycho“ bis „The Texas Chainsaw Massacre“: Gewöhnliche, mit Fehlern behaftete Charaktere treffen auf Außenseiter, die das ungezügelte Ich verkörpern – eine Lesart, die sich mühelos mit ihren katholischen Themen verbinden lässt.
Elmore Leonard hingegen verzichtet darauf, seinem Publikum Informationen vorzuenthalten. Die Spannung ergibt sich vielmehr aus den Entscheidungen, die seine Figuren treffen, aus dem Aufeinanderprallen ihrer Persönlichkeiten, aus unerwarteten Allianzen und Verrat. Seine Plots dienen letztlich als MacGuffins – Vorwände, um seine Figuren in Aktion zu sehen. Dennoch sind seine Geschichten fast immer befriedigend, weil sie den inneren Entwicklungen seiner Figuren folgen.
Auch Roald Dahls Kurzgeschichten für Erwachsene offenbaren eine verdrehte Psychologie. In Erzählungen wie „Die Wirtin“ entsteht Spannung nicht durch Geheimnisse, sondern durch die wachsende Erkenntnis des Lesers – ein ebenso amüsanter wie unheimlicher Effekt. Am anderen Ende des Spektrums stehen Paul Austers „New-York-Trilogie“ und James Sallis’ „Lew-Griffin“-Reihe, die fast gänzlich auf konventionelle Krimiplots verzichten und das Genre als reine Identitätserkundung nutzen – ein riskantes, aber mitunter brillantes Unterfangen.
Letztlich dreht sich das Rätsel des Kriminal- und Spannungsromans aber immer um die Figur. Die unerschöpfliche Faszination des Genres liegt in seiner Fähigkeit, das ultimative intellektuelle Geheimnis zu entschlüsseln: das Geheimnis des menschlichen Geistes.
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