Journal

Sitwell nicht zu übersetzen

Von einigem Interesse scheint mir zu sein, dass jene, die sich gegenwärtig ins Nichts zurückgezogen haben, auch in der Vergangenheit tot sind. Es wäre leicht zu beweisen, uns aber fehlt die Finesse, die Vergangenheit durch unser Schattenauge losgelöst anzusehen, weshalb wir sie überhaupt erst erfinden. In der Erfindung sind wir lebensklug, wenn nicht gerade akribisch darin, jedes Teilchen dorthin zu legen, wo es zwar nie gewesen sich für unsere heutigen Augen gut ausmacht.

Kurz zog ich in Erwägung, einige Gedichte von Edith Sitwell zu übersetzen, aber von derartigen Vorhaben muss ich Abstand nehmen, das wurde mir bereits bei Eric Basso klar, dem ich dasselbe Vorhaben zukommen lassen wollte. Sitwell und Basso sind nun nicht miteinander zu vergleichen. Ich erwähne sie nur in einem gemeinsamen Satz, weil sie mich persönlich vor die gleichen Probleme des Mikrokosmos stellen, dem ich selbst genug schon zuarbeite, als dass ich durch Übersetzung eine neue Position einnehmen könnte.

Edith Sitwell war das ultimative Schaustück der Exzentrikerin in einer Zeit, die überdurchschnittlich viele davon hervorbrachte. Das mag daran liegen, dass sie aus einer notorisch exzentrischen Familie stammte – einer Familie, zu der eine Mutter gehörte, die wegen Betrugs im Holloway-Gefängnis saß, und ein Vater, der eine kurze Geschichte der Gabel und eine Geschichte der Kälte publizierte und eine Pistole zum Erschießen von Wespen erfand. Sie ging weit über das Bild der schrulligen, aber liebenswürdigen Landedelfrau hinaus.

In erster Linie war Sitwell natürlich eine Dichterin, eine Säule des künstlerischen Lebens in London und verkörperte eine heute allgemein unterrepräsentierte Seite der Moderne. „Guter Geschmack ist das schlimmste Laster, das je erfunden wurde“, sagte sie, stets im Widerspruch zu den herrschenden Geschmacksvorbildern, ob diese nun dem Establishment oder der Avantgarde angehörten.

Journal

A Ghost Story – Zeit ist alles

Es gibt natürlich Gründe dafür, warum Geschichten, die sich um Trauer drehen, auf die Erfahrungen der Lebenden (der Überlebenden) fokussiert sind, die mit dem Schmerz des Verlusts und dem Mysterium der Abwesenheit zu kämpfen haben. Vielleicht aber haben die Toten auch Gefühle. Wenn man darüber nachdenkt, ist das sogar der Urgrund vieler Geistergeschichten. Und genauso verhält es sich bei A Ghost Story, David Lowerys genialen und bewegenden Film von 2017.

Continue Reading…

Journal

Notizen zur unheimlichen Literatur

Natürlich hat das Leben keinen Sinn. Aber der Tod auch nicht. Und das ist eine weitere Sache, die das Blut in Wallung bringt, sobald man Lovecrafts Universum entdeckt. Der Tod seiner Helden hat keine Bedeutung. Der Tod lindert nichts. Er bedeutet in keiner Weise das Ende der Geschichte. Unerbittlich zerstört HPL seine Figuren und bring damit nur die Verstümmelung von Marionetten hervor. Gleichgültig gegenüber diesen erbärmlichen Wechselfällen wächst die kosmische Angst weiter. Sie schwillt und nimmt weiter Gestalt an. Der große Cthulhu erwacht aus seinem Schlaf.

  • Michel Houellebecq*

Ich habe das Gefühl, dass zu viele Menschen von Lovecrafts Monstern, Tentakeln, Polypen und Shuggoths besessen sind. Ehrlich gesagt, ich denke, dass sie den Kern nicht verstehen. Zumindest kann ich sagen, dass sie jenen Teil nicht verstehen, der den größten Einfluss auf mich ausgeübt hat. Da wäre die Wichtigkeit der Atmosphäre zu nennen, das gefundene Manuskript als narratives Element und HPLs Wertschätzung dessen, was Paläontologen und Geologen Tiefenzeit nennen. Tiefenzeit ist entscheidend für seinen kosmischen Schrecken, den existenziellen Schock, den ein Leser aus seinen Geschichten zieht. Unsere Kleinheit und Bedeutungslosigkeit im Universum insgesamt. In allen möglichen Universen. Im Konzept der Unendlichkeit. Nichts und niemand kümmert sich um uns. Niemand passt auf uns auf. Für mich ist das die Aussage Lovecrafts.

  • Caitlin Kiernan

In gewisser Weise ist [Lovecrafts] Ruf das Opfer seines Mythos. Er wurde als ein Gegenmittel zum konventionellen viktorianischen Okkultismus konzipiert – als ein Versuch, den imaginativen Reiz des Unbekannten zurückzugewinnen – und ist nur eine von vielen Möglichkeiten, wie seine Geschichten Schlimmeres oder Größeres suggerieren, als sie zeigen. Er ist auch nur eines seiner Mittel, um ein Gefühl der Verwunderung (Sense of Wonder) beim Leser zu erreichen, mit dem Ziel, die besten Werke des visionären Horrors hervorzubringen (und das ist keineswegs alles, was zum Mythos gehört). Seine Geschichten sind ein Tasten nach der perfekten Form für die Weird Tale, ein Prozess, während dem er alle Formen und Prosa-Stile ausprobierte, die er nur kannte.

  • Ramsey Campbell

Alles, was ich liebte, war bereits seit zwei Jahrhunderten tot … Ich bin niemals Teil von irgendetwas um mich herum – in bin in allen Belangen ein Außenseiter.

  • H. P. Lovecraft

Die besten Arbeiten heutiger „unheimlicher Literatur“ (und das schließt ältere Figuren wie Ramsey Campbell, Thomas Ligotti, T. E. D. Klein, Dennis Etchison und andere mit ein) wird zunehmend nur von einem kleinen Kreis von Kennern und nicht von der Allgemeinheit gelesen. Ich weiß nicht genau, was man dagegen tun kann; vielleicht ist es auch nur der Beleg dafür, dass, wie Lovecraft vor langer Zeit schrieb, die Weird Fiction wirklich nur für die „wenigen Sensiblen“ gedacht ist.

  • S.T. Joshi

Per definitionem basiert die seltsame Geschichte auf einem Rätsel, das niemals gelöst werden kann. Abgesehen von der Semantik ist für mich in einer so genannten seltsamen Geschichte das Wichtigste ein undurchdringliches Geheimnis, das die Handlungen und Manifestationen in einer Erzählung erzeugt. Ein gutes Beispiel ist Lovecrafts Lieblingsgeschichte „Die Weiden“ von Algernon Blackwood. Es gibt nichts in den Weiden selbst, das für die Phänomene verantwortlich ist, die die beiden Männer bedrohen, die auf einer Insel rasten, während sie die Donau hinunterfahren. Die Weiden sind nur ein Symbol für eine unsichtbare, unerkennbare Kraft, die nichts Gutes mit denen vorhat, die unglücklicherweise vom schlechten Wetter an diesen atmosphärischen Ort gefesselt werden. Diese Kraft ist offensichtlich übernatürlich – oder, angesichts von Blackwoods Sicht auf die Natur, überwirklich.

  • Thomas Ligotti

ALLE ZITATE ÜBERSETZT VON MICHAEL PERKAMPUS. *DAS HOUELLEBECQ-ZITAT WURDE AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT.

Journal

Das leere Bett

In einem Film von David Lynch, den jeder hasst außer mir – Twin Peaks: Fire Walk With Me – gibt es einen der verstörendsten Momente des ganzen Horrorfilm-Genres (in Cannes buhte das Publikum bei der Premiere den Film aus, aber was wissen die schon). Für sich selbst genommen ist der Film nicht nur ein unterschätztes Juwel über die letzten tragischen Tage einer jungen Frau, sondern auch einer der furchterregendsten Filme der 90er Jahre. Ohne den schrulligen Humor der Serie betrachtet ist er ein geradlinig erzählter Alptraum, in dem alle gesunden Facetten des kleinbürgerlichen Amerikas durch und durch dunkel und verrottet sind.

Continue Reading…

Journal

Alien – Xenomorphe

Giger Alien von Pablo Municio
HR Giger-Ausstellung in Wien; (c) Pablo Municio

Starbeast sollte es ursprünglich heißen, wie auch der erste Film selbst. 6 Hauptfilme kann es seit 1979 bereits verbuchen. Nicht alle stammen von Ridley Scott, es drehte auch David Fincher (Alien 3), sowie James Cameron (Aliens – Die Rückkehr.) Auch 2 Crossoverfilme (Alien vs. Predator I / II) gehören dazu. Science-Fiction ist es. Und doch entspringt es offenbar einem uns sehr nahen Horror, der nicht erst das Jahr 2122 braucht. Eine Mutter und zwei Väter hat es. Ein Elterntrio, das sich namentlich sehen lassen kann: HR Giger, Ridley Scott und Sigourney Weaver. Einen Oscar hat es Giger eingebracht, in der Kategorie Visuelle Effekte. Selbst ist es sehr daran interessiert, viele viele Abkömmlinge zu haben. Derlei viele, dass wir sehr schnell verstehen, dass es dieser Spezies allein um die Zeugung neuer und eigenständiger Nachkommen geht, um die Sicherung seiner Art, um die Sicherung eines Bestandes, der die ultimative Vermehrung der Anzahl der eigenen Exemplare ins Auge gefasst hat.

Continue Reading…

Journal

Warum lesen wir Horrorliteratur

Als ich gefragt wurde, ob ich an einer Kolumne mitwirken wolle, dachte ich, dass ich wohl über kosmischen Horror schreiben würde – immerhin veröffentliche ich ein Lovecraft-Magazin (The Lovecraft eZine). Ich hatte den Artikel bereits fertig, als ich bemerkte, dass ich nicht bei der Sache gewesen bin. Ob nun besser oder schlechter: ich schrieb einfach auf, was mich wirklich beschäftigte.

Das ist nicht lustig, aber schließlich geht es hier um Horror. Mein Lexikon definiert das als „auf Erfahrung beruhender, schreckerfüllter Schauder, Abscheu, Widerwille.“

• • • •

Continue Reading…

Journal

Suspiria / Dario Argento

Suspiria
Suspiria
©Gloria

Über 40 Jahre alt glauben viele Cineasten, dass das Original ein heiliges Kunstwerk ist, dem man nicht das Wasser reichen kann. Die satten Farben, die höhlenartigen Sets, der haarsträubende Soundtrack und der erschreckende Ton des Films machen ihn zum Zentrum eines wahrhaftigen Kults. Für mich ist SUSPIRIA ohnehin einer der besten Filme aller Zeiten.

Drehbuchautor und Regisseur Dario Argento hat, um es gelinde auszudrücken, eine ungewöhnlich entsetzliche Lebenseinstellung, und die kraftvollsten Momente seines Films lassen einen über eine Operation am offenen Herzen nachdenken.

Erstens ist der visuelle Charakter des Films unglaublich. Die lebendigen Farben sind weit entfernt von den üblichen dunklen und düsteren Szenen, die wir aus vielen Horrorfilmen gewohnt sind. Jedes Set ist üppig und hell ausgeleuchtet, aber die verwendeten Farben sind meist beunruhigende Schattierungen der Grundfarben – tiefe Rottöne, dunkles Gelb und sattes Blau.

Continue Reading…

Journal

Lars von Triers Antichrist

Lars von Triers 2009 erschienenes Psychodrama, das sich dem Publikum – schaut man es unter dieser Prämisse – auch in Form einer pathologischen Studie darbietet, setzt dem Horror in ganz eigener Weise Hörner auf. Es ist nicht allein nur eine Studie, die sich die uns hier gezeigte Paarbeziehung zum Gegenstand genommen hat, um einen abnormen Verlauf nachzuzeichnen, es ist auch eine, die sich die nach und nach offenbarte und somit festgehaltene Krankheitsgenese der beiden zum Anlass nimmt, das womöglich eigentliche Thema von Interesse herauszupellen. Und zwar beim Zuschauer. Der vielleicht, wie ich es tue, nach dem Wissensstand der medizinischen Psychologie von heute fragt, vor allem aber nach ihrer Praxis und Anwendung. Eine Studie also, die sich den Patienten anschaut, der ihre heutigen Dienstleistungen in Anspruch nimmt.

Antichrist

Continue Reading…

Journal

Nachtrag zum Magischen Realismus

Der Magische Realismus, über den ich in der Vergangenheit immer einmal wieder gesprochen habe, ist mehr ein literarischer Stil als ein eigenständiges Genre, der sich in seiner Herangehensweise durch zwei unterschiedliche Perspektiven auszeichnet. Die eine basiert auf einer sogenannten rationalen Sicht der Realität und die andere auf der Akzeptanz des Übernatürlichen als prosaische Realität.

Continue Reading…

Journal

Darren Aronofskys „mother!“

Am 5. September 2017 feierte dieses psychologisch herausragende transzendentale Drama Premiere. Es wurde bei den 74. Filmfestspielen in Venedig gezeigt. Am 14. September kam es zu uns in die Kinos. Nicht wenig Applaus, aber auch jede Menge Buh-Rufe hat es geerntet. Als misogyn oder platt-feministisch wurde es bewertet. Gar biblisch wurde es ausgedeuet.

Jennifer Lawrence; (c) Paramount Pictures
Jennifer Lawrence; (c) Paramount Pictures

Continue Reading…

Journal

David Cronenbergs Crash

Crash

Der Druck auf meine rechte Körperseite, auf diese Extremitäten, die Knochen, die äußeren Flächen. Das Hervortreten der Schulterblätter. Die Unterbindung des Blutflusses der Beine. Das Gras berührt, die Wange den Boden. Das Klaffen der oberen Lippe. Die Beckenschaufel wieder und wieder in Erde bewegt. Die starkschnellen Schläge. Links, unter meiner Brust. Unter den Rippenbögen, die flache Atmung. Die Weite von vorn, von hinten Wärme. Die Haut deiner Hand. Das Blut schmeckt eisern.

„Maybe the next one. Maybe the next one.“

(Albera Anders)

Crash
©Jugendfilm Verleih GmbH

Vom Asphalt, dem großen geregelten Verkehr der einsamen Städter, in den Graben abkommen. Ins Gras. In die Berührung. In ein Detail. Herbeigeführt durch eine willentliche / künstliche Crashsituation. Warum? Um in einen Zustand zurückzufinden, den man noch erinnert, der sich aber offenbar nicht mehr so einfach einstellt. Extremer ausgedrückt: Es passiert einem ja sonst nichts.

Ist dir etwas passiert? 

Nein. Leider nicht!

Das Auto im Graben. Der Mensch: verletzt. Es folgt eine Bestandsaufnahme der wahrgenommenen Verletzungen, bzw. der eigenen vorgefundenen körperlichen Zustandssituation. Ein Zoom, Vereinzelungen, Details. Substantivierungen: Oder wie man im Dunkel(n) einer Werkstatt (s)ein Auto mit einem Handlicht nach potenziellen Schäden absuchen würde. Im schwärzesten Fall werden aus hervortretenden Schulterblättern Flügel.

Continue Reading…

Journal

Diese Welt erdulden oder eine andere illuminieren? Über die Bedeutung und den Nutzen des Horrors

In seiner interessanten Abhandlung in Buchform, Danse Macabre (1981), stellte Stephen King die folgende Theorie über die grundlegende und beständige Anziehungskraft des Horrors auf:

Warum soll man sich schreckliche Dinge ausdenken, wenn es doch so viel wirklichen Schrecken in der Welt gibt?

Die Antwort scheint zu sein, dass wir uns Horror ausdenken, um mit dem wirklichen Übel fertig zu werden.

Continue Reading…

Journal

Münzen für den Fährmann: Das Entsetzen als Schlüssel zu unseren inneren Tiefen

Die Analyse des Horrors ist, wie fast alles, was mit diesem Genre zusammenhängt, paradox. Da das Genre so stark von archetypischen Bildern und Tabuthemen geprägt ist, scheint jeder Versuch, es rein intellektuell zu betrachten oder zu verstehen, wirkungslos oder zumindest unzulänglich zu sein. Während die meisten anderen künstlerischen Ausdrucksformen vom Scharfsinn der Kritiker profitieren, die das Publikum über mögliche kryptische Anspielungen, Subtexte usw. aufklären, funktioniert der Horror offensichtlich etwas anders. Es ist ein gänzlich erfahrungsorientiertes Genre und wird daher zu einem großen Teil nach seiner Wirkung, genauer gesagt nach seinem Effekt, und nicht nach seiner Struktur beurteilt.

Continue Reading…

Journal

Horror als Transzendenz der Dunkelheit

Während der NecronomiCon 2013 – einer Konferenz über alles, was HPL in seinem geliebten Providence veranstaltet hat – nahm ich an einem Panel über Weird Fiction teil. Während der lebhaften und interessanten Diskussion wurde die Meinung geäußert, dass viele seltsame- oder Horrorgeschichten aus einer “düsteren existenzialistischen Perspektive” heraus geschrieben zu sein scheinen. Das mag zwar durchaus zutreffen, aber ich war dennoch erstaunt darüber, wie sehr diese Perspektive mir selbst selbst stets ein Gräuel war.

Continue Reading…

Journal

Ein Lob dem Horror

Das Horrorgenre kann beim Publikum ein ganzes Kaleidoskop der Emotionen hervorrufen. Grauen, Lust, Angst, Schwindel und sogar Freude gehören dazu, manchmal in paradoxen Kombinationen. Eigenartigerweise scheint es so zu sein, dass die eine Emotion, von der sich das Genre ableitet, am seltensten hervorgerufen wird. Im Klartext: Das Genre ist selten wirklich beängstigend. Tatsächlich scheint der Großteil des zeitgenössischen Horrors seinen Fokus auf andere Effekte gelegt zu haben. Viele zeitgenössische Künstler in diesem Bereich sind offenbar mehr daran interessiert zu verstören, als beängstigend zu sein.

Continue Reading…