Hundertprosa

Sodoms Tage sind gezählt

Man sagte mir, ich solle ruhig zugreifen, am besten mit beiden Händen, da sonst die Gefahr bestünde, das ganze Spektakel nicht wirklich fassen zu können. Aber meine Arme wurden allein schon bei dem Versuch schwach, sich degeneriert zu zeigen, ein Muster, das die Altvorderen in ihre Hügel und Kuppen einbauten, damit wir es eines Tages finden und sagen können, was wir fanden. Die Zungen waren viele, zu viele, wie sich herausstellte.

Aber ohne sie wäre der Wind niemals von Westwärts gekommen. Nicht, dass ich etwas dagegen gehabt hätte, aber eine stille Verabredung rettete mich von allen Gebräuchen, säuberte mich von den Stallgerüchen, die über mir ein neues Zimmer zementierten. Der Lärm war nicht zu verachten, er konnte sich – wie man sagt – sehen lassen. Hätten wir unsere Bürsten geschultert, dann hätten wir natürlich unsere Rüssel frei gehabt. Aber wir taten selten, wie uns geheißen. Lag das am Sonnenstand?

Über die Heide schließlich sahen wir sie kommen. Wir mussten noch etwas graben, um unseren Fixpunkt zu verbessern, aber dann waren sie heran, ihre Peitschen hatten sie zum Trocknen an den Seiten der Pferde aufgehängt. Ich hätte an ihrer Stelle das Gleiche getan, aber ich war nicht an ihrer Stelle.

Ich betrachtete gerade eine neue Situation, als wir auch schon fliehen mussten. So war es schon immer gewesen, die gemachten Betten zerwühlt von kreidebleichen Gesichtern, aber mit Gefühl in der schimmernden Brust. Man könnte leicht auf die Idee verfallen, es gäbe nur Mehlspeisen, die sich unter der besonderen Bläue des Tages zu einer neuen Form aufraffen. Die Steintreppen hinab gerann der Luftzug an den Wangen, einzelne Hinweise lagen verstreut an den Rändern der Gassen oder lehnten für einen kurzen Augenblick an den wankelmütigen Gebäuden. Es wäre uns recht gewesen, wenn zumindest irgendwo irgendjemand am Fenster gestanden hätte, aber die Uhrzeit war noch nicht reif.

Um schließlich in den Bau zu gelangen, sollten noch einige Enten gescholten werden. Sie waren durch ein Gatter entkommen, das hinter allen Fassaden stand und dort auf uns wartete, kaum wahrnehmbar an einer Grenze zwischen Nebel und Dunkelheit. Wenn es Winter wurde, packten wir unsere Kaleidoskope aus, damit wir die Kälte aus einer anderen Perspektive wahrnehmen konnten, doch sie waren zu dieser Zeit nicht besonders zuverlässig, weshalb wir uns um Alternativen bemühten, die wir hinter Schornsteinen fanden. Mal waren sie da, mal waren sie absichtlich absent, indem sie sich versteckten, um uns zu zeigen, wer sich bereits nach Norden aufgemacht hatte.

Nichts an uns war maßgeschneidert, die Lumpen besaßen ihr Eigenleben. So kam es vor, dass sich die Nahten selbständig machten, wenn sie an Ort und Stelle gebraucht wurden, um jene Teile zusammenzuhalten, die ebenfalls entschlossen waren, eine ganz andere Party zu feiern. Niemand kümmerte sich in jenen Tagen um die Reste der Nacht, die auf den Fensterbrettern lagen und bereits damit begannen, sich in den Urmorast zu verwandeln. Es wäre ein seltsamer Anblick gewesen, verkleinerte Darstellungen geschuppter Reptilien über den Teppich laufen zu sehen, denn es spukte ohnehin in all den Köpfen. Es wäre durchaus möglich gewesen, verschiedene Tassen umzudrehen, um Eindringlinge davon abzuhalten ihren Tee daraus zu trinken, aber wir fanden die Schlüssel nicht, die eine andere Welt aufsperrten, also beließen wir es bei der bloßen Hoffnung, es möge etwas geschehen, das mit uns rein gar nichts zu tun hatte.

Journal

Villon

Hier werden sie mich nicht finden. Hier werden sie mich endlich für eine faulende Leiche halten; doch keiner ahnt, dass nicht die Maden mich, sondern ich immer noch die Maden fresse.

Die Scheiterhaufen brennen, die Henkersknoten tanzen. Dolche werden in die Leiber versenkt, aber ich, ich bin dem Leben längst entflohen.

Meine Balladen werden sie in Schenken plärren, am Galgen noch ein letztes Wort, solange ihnen der Kragen noch nicht zu eng geworden. Rühmen werden sie sich, mich gekannt zu haben, den Vagant und Desperado, den einen oder anderen Körper mit mir zusammen bestiegen zu haben. Doch geliebt habe ich immer alleine. Welch üppige Mahlzeit bereitete mir ein rotes Weib! Wie ergoss ich mich in den Sommern! Man erkannte mich lange genug an der Henkers-schlinge um meinen Hals, die ich zum Spott in jede Stadt hineintrug wie ein kostbares Schmuckstück, das ich in Wirklichkeit nie besaß. Da gafften sie, nicht wahr, ihr gafftet alle! Denn soviel Frevel schien euch der Allmächtige nicht in eurem Verstand unterzubringen. Ich bin der Rotz, der Deibel, der Aussatz. Habt ihr das nicht gesagt? Von der Brut aller Huren! Und das Leben ergab sich mir wie ein Geschenk, es wollte gelebt werden von mir, denn es galt, einen Pakt zu erfüllen: Mir das Leben, dafür aber Acht und Bann! Mir den Gesang, dafür eine durstige Kehle! Mir die guten Fötzlein, dafür niemals eine Gefährtin!

Aber wer im Nehmen konnte besser sein als ich, denn ich nahm den freien Himmel und ich nahm jedes Stückchen Staub in diesem Räuberkessel der Welt. Wenn es eine Hölle gibt, dann haben sie sich dort eingerichtet mit ihrem Silber und Gold, denn an welchem Platze könnte man seinem Lotterleben besser frönen, als unter den Verängstigten und Eigenen? Dahin haben sie mich nie gebracht und nun sind sie mich los, weil ich verschwunden bin. Spurlos. Nein, ich werde nicht die geringste Spur von mir hinterlassen, nicht eine! Ich werde verstummen, denn mein Testament wurde längst geschrieben.

Oh Guillaume! Nur an dich gedenke ich noch in Freundschaft! Deine verzeihende Hand lässt mich auch in dieser Stunde nicht los und berührt mich da, wo auch ich das Herz sitzen habe, Hund und Ungeheuer, das man mich schimpft. Ja, Guillaume! Dein missratener Pflegesohn steht in diesem Herbst vor den geöffneten Toren des Abyssos und träumt. Und er wird den Weg gehen, hinaus aus des Menschen Pfuhl. Wie oft habe ich ihnen meine Venusinen vorgetragen? Daran werden sie noch denken, wenn sie dem Schwulst und der Schnörkel der Dichter überdrüssig sind, jenen gansigen Männlein, die noch nie ein Elend angefasst, außer ihrem eigenen! Die sich in der Wirklichkeit flüchten, weil ihnen die bunte Welt nicht taugt und sich Doktrin über Doktrin geben lassen von Parteien und Gemeinschaften, die ihnen Schnallen ums Maul binden. Was wären diese doch für armselige Kreaturen, dächten sie einmal nur der Freiheit Sinn und verlören ihren Brotherrn! Denen sprechen sie nach dem Maul in fetten Versen und herzloser Schmiererei! Aber mich wollen sie zum Schund und Schmutze werfen. Ja, genau! Das Leben ist eine kostbare Vulgarität, das kann man sich nicht abwaschen im Bade, im Parfum. Laben sich an des Königs Lambretten und ich trag tagein tagaus den Bettelsack, weil ich doch sehen will, woʼs hingeht und woʼs ankommt, was ich aus meinem Bauch herausfließen lasse. So istʼs ein Teil von mir, dem ich nicht abscheulich bin.

Die Troubadoure, die scheißen und die pissen nicht, die schwitzen es sich durch die Haut, die genauso fahl wie jede andere aus ihren feisten Kleidern spickt. Aber hätten sie jemals nur den Aufruhr des Blutes erlebt und besungen, dann rutschte das, was in ihrem Kopfe klingt, eine Etage tiefer, dort hinein, wo die echten Glocken sitzen. Aber selbst der Vollmond, der mit dem Gesicht eines sehr schönen Mädchens im Verse gefüllt wird, glotzt dumpf wie ein Schaf von oben herab und fühlt die Liebe nur im Taschentuch, das bedauerliche Tränen auffängt, weil es juckt unterm Kleid und das Jucken in keiner Strophe abgehandelt wird. Man möchte ihnen gerade helfen und sie zusehen lassen dort im Stroh, wo die Stute nass läuft. Da hat aber doch der ärmste Stallknecht noch mehr Freude daran. Die Liebe! Die Liebe! Das ist ein unnützes Ding aus Brokat für diese feinen Wichte mit ihren Schmalzlippen und starren Strümpfen.

Tharanne! Gib du gut acht auf meine Moritaten und Bänkellieder, die dir stets sagen, wo ich gefunden, was ich je gesucht und alles, was mir sonst noch widerfahren genannt werden kann.

Jetzt habe ich euch alle zurückgelassen, auch dich, Marie, die du mir die Backen rundfüttern wolltest bis die Pflaumenbäume blühen. Aber ich musste hinaus, ja ich muss hinfort und auch der Freunde nur mehr gedenken, als dass ich sie mich wiedersehen lassen könnte. Ich bin ein Blatt im Wind, der ewig bläst und mir die Haare längst schon hat vom Kopf gefressen. Mein Gesicht kann er gut erkennen, hat er es doch höchstselbst die Jahre modelliert. So wird er mich denn immer finden und singt mit mir, den dennoch Trauer stets begleitet. Du hast es in mir gesehen, Marie und wolltest mein Blut nur kochen lassen, um neue Balladen zu sinnen. Doch ich bin stumm, weil keine Zeit mich Neues lehrt, als dass der Mensch ein Lügenwurm und die Lügen sich gerne verstecken mögen in Hochwohlgeborenen und Tonangebern. Denen traut man nicht, wenn man auch nur etwas versteht. Hier findet man mich nicht und keinen Ort mehr will ich nennen, wenn es nicht mein geliebtes und glühendes Paris sein kann. Die Verbannung wird sich nicht mehr kehren lassen und an einem anderen Ort möchte ich nur, dass ein Strauch mich krault, bevor ich ihm zum Abschied winke. Denn keine Frau auf Erden küsst so süß wie die schönen Frauen von Paris.

Journal

Das Gelenk des Mastodons

Wie schauderhaft es doch ist, sich so allein zu wähnen. Die Welt um mich herum ist ein unmenschlicher Auswuchs. Die Balztänze der Natur ein hassverzerrtes Gesicht, von einer utopischen Hitze untermalt.

Kaum berührte ich es, zerfiel etwas im Innern dieses Tongefäßes zu Staub. Ein Papyrus – ich rate das, erfahren werde ich es wohl nie – wird sich durch diese leichte Erschütterung in seine Bestandteile aufgelöst haben, ähnlich einem Gegenstand, der verbrannt wurde und noch eine Weile seine bereits ausgelöschte Struktur in Form von Asche aufrecht erhält, bevor der leiseste Hauch dafür sorgt, die Illusion zu vernichten.

Jetzt zerfalle auch ich zu Staub. Meine Hand zitterte beim Öffnen des Gefäßes, aber es war der Sauerstoff, der mit Schwert und Schwefel auszog, um seinen Akt der Auslöschung zu beginnen.

Zunächst ließ sich der schüsselartige Deckel nicht abnehmen. Ich musste meine beiden Hände mit dem wenigen Wasser befeuchten, das mir noch geblieben war. Gerne hätte ich es mit Spucke probiert, aber es war nur Wüstensand zwischen meinen krächzenden Zähnen, eine vermoderte Zunge.

Nichts ist gegen das Sterben einzuwenden, nicht hier, an einem Ort, der das Sterben bedingt, der sich seit dem Miozän nicht verändert hat, der keine Zeit in seinem veränderten Raum duldet. Nichts bewegt sich. Mürbe bin ich, mein Atem ein Keuchen, darüber glotzende, starre Augen. Ich muss den ganzen Kopf schwenken, wenn ich meine Augen irgendwohin richten will, schwenke Grad um Grad… ich liege ja bereits, das Rückgrat durchgebogen, bäuchlings, aufgestemmt, ein zitternder, ausgedörrter Affe. Ich habe meine Großartigkeit vergessen. Ich betrachte das Ende der Welt, selbst am eigenen Leib zu Pergament getrocknet; dieser eine Verzweiflungsakt noch … »Komm schon, Leib!«

Bis hier hin und nicht weiter! Warum auch weiter – und vor allem: wohin weiter? Um mich herum lauern aufgetürmte Wände, kaum gealtert unter der Hitze der Staubhände.

Ich habe dieses Zeug eingeatmet, diesen kranken Zerfall. Überraschend schlagen meine Lungen aus, spannen sich, als ob sie das Fliegen lernen müssten. Ich huste mit ihnen davon in eine rote Ohnmacht … da ist doch noch ein Rest Speichel in meinen Drüsen … nein, mir rinnt bloß die Galle aus!

Eine Stunde später

Kann meine Wange nicht vom Stein lösen! Grüne, üppige Wiesen tändeln vorbei, ein Traum, oder die Erinnerung an ein Land, aus dem ich vor tausenden von Jahren floh, um ein Hirngespinst zu finden. Ich habe das zerfallene Linnen inhaliert, meine Sinne sind von einem dauernden Lechzen nach völligem Zusammenbruch infiziert … Jericho … älteste bekannte Stadt … »Stimmt aber nicht, mit Catal Höyük ist zu rechnen!« So kann man mir keine Lügen unterbreiten … und dann fällt mir auch das noch ein … na, war wohl doch mehr Erinnerung als Traum. (Aber was fasele ich da von Unterschieden? Jede Erinnerung ist ein Traum!) Zum Beispiel erinnere ich mich an die disharmonischen Unterhaltungen, die ich mit meinen Kommilitonen geführt hatte, diesem potverrauchten Gelichter … alles nur spekulatives Reden.

Für einen Moment ist mir, als habe ich etwas gehört, ich löse mich auf! Schnell das noch … leicht ist das Denken, wenn man eine grüne Wiese unter seinem Hintern spürt, milchgetünchte Lippen und einen vollen Wanst unter die Sonnenscheibe legt! Die Ohren sausen noch von buchstabengetreuen Worten, die Faulheit lässt sich regeln, man fühlt sich ganz allmächtig (muss ja nur alles nachäffen), und bei zwei von hundert (ich übertreibe wieder), pflanzt sich ein Keimling tief ins Nichts, das schon Aristoteles mechanisch belegen wollte … die Seele! Noch unbestimmt – woher soll der Keim auch jetzt schon wissen, was aus ihm einst blüht? Schlummert in Regionen, die kein Mensch begreifen kann. Begriff, Griff: ich wäre ja blödsinnig gewesen, wenn ich da schon gewusst hätte, dass ich mich durch diese verdammte Wüste schleppen würde, um die Existenz des Menschen in der miozänen Periode des Tertiärs zu beweisen! Da sieht man doch, zu was so ein Keim gut ist … Phantasmen schmieren aus dem Hirn … Ich weiß ja nichts von diesem Keim, der bereits beginnt, mich zu verklären. Warum fällt mir auch ausgerechnet ein botanischer Begriff ein? Wiese, Keim … ich arbeite an einem Katalog!

Abend

Liege seit Stunden in dieser Stellung. So wird man mich finden, aber das dauert. Ich kann ja nicht sagen, daß ich gespannt bin, für wen ich das zerfallende Papier sein werde. Seitdem sich das Zeug in meinen Lungen tummelt, muss ich flacher atmen, war doch mehr als ich dachte. Kalt ist es obendrein … fertigerzählen! Jericho also, Catal erwähnte ich, spielt aber nicht wirklich eine Rolle. Die Erfindung der Stadt ging beschlussmäßig vonstatten, als hätte eine vermeintliche Führungsschicht die Erfindung der Stadt angeordnet … ist doch das gleiche wie mit der Schrift (dieser Betrug, den man allen einimpft, der alles auf die Sumerer festnagelt). Die Entdeckung der Tontafeln von Tartaria, die zweitausend Jahre älter sind, hat es wohl nie gegeben! Das Husten wird schlimmer, ich komme nicht mehr an diesen Schlauch … ach, wäre das jetzt eine Pracht, zu ersaufen! Freiwillig würde ich mich dafür hergeben, einmal Kielholen zu dürfen, freiwillig!

Menschenleer, das habe ich mir immer gesagt, Menschenleeres muss man sich ersehnen, und dann muss man sich aufmachen … Da! Wieder hab ich es gesehen! Da schleicht was! Wer will mir durch die Wüste gefolgt sein? Am Ende habe ich gar einen Wächter aufgescheucht – der sieht genüsslich meinem Ende zu!

Nacht

Jetzt, ich kann mich nicht mehr rühren! Ich besitze gutes Wissen darum, dass es eiskalt sein muss, kein Gefühl steckt in diesem ausgedörrten Ding von einem Körper … hätte ich doch nur gewusst, was auf diesem Fetzen stand, dann wäre mir wohler. Geheimnis vor dem Tode … romantisch, wenn man denkt …

Nachtrag

Im Journal of the Royal Institute of Great Britain and Ireland schrieb Frank Calvert 1874:

Ich hatte das Glück, unweit der Dardanellen schlüssige Beweise für die Existenz des Menschen in der miozänen Periode des Tertiärs zu entdecken. Vor der Stirnseite einer Felswand, die sich aus Schichten jener Periode zusammensetzt, in einer geologischen Tiefe von 800 Fuß, habe ich die Leiche eines jungen Mannes entdeckt, der in seinen Händen das Fragment eines Gelenks geborgen hielt, das zum Knochen eines Dinotheriums oder eines Mastodons gehört, an dessen konvexer Seite tief und unverkennbar die Figur eines gehörnten Vierfüßlers mit gebogenem Hals, rautenförmiger Brust, langem Körper, geraden Vorderbeinen und breiten Füßen eingeschnitzt ist. Ich habe an verschiedenen Stellen der Felswand, nicht weit vom Fundort des gravierten Knochens, einen Feuersteinsplitter und einige Tierknochen gefunden, die in Längsrichtung zerbrochen waren, was offensichtlich von Menschenhand geschah, um das Knochenmark herauszuholen, wie es die Praxis aller primitiver Völker ist. Das einzige Rätsel, das bleibt, ist der junge Mann selbst, der neben einem vollen Wasserschlauch gelegen hat, und offensichtlich am Sand erstickt ist, den er scheinbar mutwillig inhaliert hat. Eine Autopsie hat ergeben, dass der Körper mit einem starken Gift infiziert war, dessen Ursprung ungeklärt ist. Das Gelenk des Mastodons stammt allerdings unzweifelhaft aus der Felswand, jedoch kann nicht angegeben werden, wie es ausgerechnet in die Hände des auf so seltsame Weise Verstorbenen gelangen konnte.

Journal

Das Haus am Meer

Die Tatzen zitterten über den Sand, bevor das blaue Meer folgte und die Abdrücke wieder verschlang. Nur das Flackern einer jahrtausendalten Geschichte, die sich so lange wiederholt, bis der Strand abgeschliffen ist. Doch vorher muss der Brunnen werden. In Wirklichkeit zieht sich nämlich das Meer zurück und hinterlässt nur seine Schattenwelten.

Sehr früh schon huschte sie in Kleidern aus dem Haus, gefolgt von der dünnen Luft, die sich über Nacht in ihrer Kammer aufgetürmt hatte ohne entweichen zu können. Natürlich wusste sie auch diesmal nicht, wo sie graben sollte, ein Traum aber hatte ihr gesagt, die Tiefe warte bereits auf das Eisen des Spatens.

Das Meer rauschte unbekümmert ihres angestrengten Gebarens vor und zurück. Nichts deutete auf eine kommende Wüste hin, doch sie hatte sie bereits im Salz geschmeckt. Einen Tag mehr, einen anderen weniger. Vor und zurück. Einen Brunnen vor dem Meer zu bauen schien die einzige Lösung zu sein, also hieb sie so fest sie konnte in den Sand, aber schon waren die Tatzen über der ersten kleinen Kuhle und ebneten alles wieder ein. Wenn sie doch nur wüsste, wo sie graben sollte.

Noch bevor sich die Sonne sehen ließ, eilte sie zurück ins Haus, denn wer immer sie im Tageslicht gesehen hätte, würde sie eingefangen haben wollen. Drinnen saß sie still, aber nicht regungslos. Niemand kam vorbei und neimand klopfte an die Tür.

Sie war durch einen einsamen Wald gehetzt und verfing sich mit ihren wehenden Haaren so oft an den plötzlich auftauchenden Ästen, dass sie fürchten musste, bald keine mehr zu besitzen, aber zumindest blieb ihr Gefieder intakt. Sie lief im Kreis, aber das wusste sie bereits, bevor sie eine Begegnung mit einem ihrer ausgerissenen Haarbüschel hatte. Es war noch ein weiter Weg bis zum Meer.

Das Haus stand leer als sie es fand, zumindest war es seit Langem unbewohnt. Aber auch das stimmte nicht, denn es hatte auf sie gewartet, was für sie leicht zu erkennen war, als sie die Schwelle übertrat. Sicher hätte es sich gewehrt, wenn es mit ihr nicht einverstanden gewesen wäre. Es hätte sie vermutlich gar nicht eingelassen, denn die Waffen eines Hauses waren vielfältiger Natur, reichten von simplen Alpträumen bis zur gefährlichen Präsenz aufgebotener Geister, die aus der Erde nach oben gerufen wurden oder aus den Wänden traten, um die Art von Verwirrung zu stiften, die dann zu einem Unfall führen konnte.

Was sie aber sah, war Staub, von dem sie glaubte, das er ebenso alt war wie sie selbst. Er bedeckte zentimeterdick den Boden, tanzte vor den Fenstern im einfallenden Sonnenlicht und legte sich auf die zurückgebliebene Einrichtung, die aussah, als wäre sie älter als das Haus. An den Wänden klebten Salzablagerungen, aber das Meer hatte hier keinen Anspruch geltend machen können. Die Trockenheit war keines natürlichen Ursprungs.

Vielleicht wollte das Haus nicht, dass sie einen Brunnen grub, aber genau das würde sie tun, dafür war sie hergekommen. Es begagte ihr nicht, den Staub zu beseitigen und deshalb ließ sie sich Zeit, hörte auf das Ächzen und Stöhnen der Konstruktion, auf ein Zeichen des Missallensm, aber es gab nichts dergleichen. Allerdings war sie nicht verwundert darüber, keine Wasserleitung im ganzen Haus zu finden. Selbst der Abtritt oben unter dem Dach war eine trockene Röhre.

Das Haus verabscheute das Meer und das Meer zog sich zurück. Nur manchmal kamen die Tatzen zum Vorschein, wollten einen Körper aus den Wellen ziehen, der auf das Haus zugekrochen käme, aber noch gelang ihm das nicht.

Bouquinist

Alice (Das Wunderland)

Alte Sendung aus dem „Phantastikon-Podcast“

Es war der 4. Juli 1862, als Lewis Carroll (in Wirklichkeit Charles Dodgson) – angeblich ein schüchterner und exzentrischer Mann, der Mathematik an der Oxford University lehrte, die drei kleinen Töchter seines Freundes Henry Liddell zu einer Bootsfahrt entlang der Themse mitnahm. Aus dem, was sich inzwischen aus seinen Tagebucheinträgen ableiten lässt, hat er sich spontan eine lustige und absurd ausgefallene Geschichte ausgedacht, um sie zu unterhalten. Dieser Tag ging in die Literaturgeschichte ein.

Kurz zusammengefasst: Ein junges Mädchen namens Alice (nach einer der Liddell-Schwestern selbst benannt) stürzt versehentlich in eine bizarre Fantasiewelt, in der es auf verschiedene anthropomorphe Kreaturen trifft, einen Wahnsinnigen, der eine sehr seltsame und sehr wunderliche Teeparty veranstaltet, und eine merkwürdige Herzdame, die gerne Krocket spielt, wobei sie Flamingos als Schläger benutzt. Jahre später erinnerte sich Carroll an die Geschichte und entschied sich, sie weiterzuentwickeln und zu transkribieren.

Die veröffentlichte Version, die von John Tenniel illustriert wurde, war ein sofortiger Erfolg, der von Erwachsenen und Kindern gleichermaßen geschätzt wurde. Selbst die berüchtigte, schwer zu beeindruckende Queen Victoria war amüsiert. Alice im Wunderland war reiner Eskapismus (wie jede gute Literatur) – völlig absurd und doch wunderbar bunt, erhebend und unendlich inspirierend.

Aber, wie es vielleicht bei jedem erfolgreichen Kunstwerk unvermeidlich ist – sei es literarisch, theatralisch oder filmisch -, wurde Carrolls Geschichte in den kommenden Jahren einer immensen Prüfung unterzogen. Kritiker und Wissenschaftler brüteten über die Geschichte und zerlegten jede Zeile in verzweifelten Versuchen, eine potenziell kodierte, tiefgründige und vielleicht unheimliche verborgene Bedeutung aufzudecken. Als außergewöhnlich intelligenter und offensichtlich gut belesener Mann ist es wahrscheinlich, dass Carroll bei der Entstehung seiner eigenen Geschichte auf verschiedene Einflüsse zurückgreifen konnte. Tatsächlich ist das Buch gefüllt mit literarischen und kulturellen Anspielungen sowie einer Reihe von mathematischen Problemen, Denksportaufgaben und Rätseln, die frustrierend unbeantwortet bleiben. Carroll scheint sich an seiner eigenen klugen Kreativität zu erfreut zu haben, dass seine Leser über ihre Lösungen und Konnotationen bis in alle Ewigkeit nachdenken und darüber streiten können.

Von allen Analysen, die Carrolls Arbeit im Laufe der Jahre erdulden musste, sind sich mindestens zwei darüber einig, dass Caroll die Erfahrungen seiner Protagonisten tatsächlich selbst gemacht haben muss, und zwar, indem er halluzinogene Drogen konsumierte. Noch verunglimpfender ist jedoch die Frage nach Carolls Beziehung zur echten Alice – der Tochter seines Freundes, der er die Geschichte als erste vorlas. Kurz: Man hat Caroll der Pädophilie bezichtigt.

Alice im Wunderland ist in der Tat ein Rätsel, und es ist unwahrscheinlich, dass außer dem Autor jemals jemand seine wahren konnotativen Bedeutungen vollständig verstehen wird. Dies ist jedoch zweifellos ein wesentlicher Teil der Attraktivität des Buches. Seit mehr als einem Jahrhundert lädt die Mehrdeutigkeit und Komplexität der Geschichte verschiedene Künstler — von Film- und Theaterregisseuren über Modestylisten bis hin zu Tänzern, Fotografen und anderen Kunstschaffenden — dazu ein, ihre eigenen Interpretationen von Carrolls Geschichte zu finden. Walt Disney und Tim Burton sind nur zwei der Legenden aus der Filmwelt, die Alices Geschichte verfilmt haben, das russische Model Natalia Vodianova hat sich als junge Heldin für die Vogue ablichten lassen, und der spanisch-amerikanische Bildhauer José de Creeft hat ihr zu Ehren eine Bronzestatue geformt, die im New Yorker Central Park steht. Die Herzkönigin, der wunderbar verrückte Hutmacher, und die grinsende Cheshire-Katze haben ebenfalls viel Ruhm erlangt und sind so etwas wie kulturelle Symbole geworden.

Die Natur dieser Interpretationen ist ebenso faszinierend. Disneys fröhliche, familienorientierte Animation wird von viel Gesang und Tanz begleitet, während Burtons Version von 2010 mit Johnny Depp und Mia Wasikowska eine viel dunklere Angelegenheit ist. Salvador Dali schuf 12 Illustrationen auf der Grundlage des Romans, die so surreal und verblüffend sind wie Carrolls Originalgeschichte. London verfügt über einen angemessen exzentrischen Boutiquenladen, der Alices Utensilien (Alice Through the Looking Glass) gewidmet ist, sowie über einen Cocktailklub und einen malerischen, aber dennoch schrulligen Teeraum im Wonderland-Stil im Sanderson Hotel.

Selten hat eine Kindergeschichte einen so zeitlosen und weltweiten Reiz ausüben können – umso außergewöhnlicher, dass sie unbeschwert, tiefgründig, unheimlich, modisch, schön und bizarr zugleich ist und praktisch jeden denkbaren Aspekt der Populärkultur durchdringt. Alice und ihr wahrhaft bemerkenswertes Erbe werden sicherlich noch Jahrhunderte andauern – die charmante junge Protagonistin und ihre Wunderlandfreunde sind nicht nur in Carrolls Büchern, sondern auch in unzähligen Interpretationen und Bearbeitungen für immer verewigt worden.

Sandsteinburg

Dort beim Hexenkraut

Gerüchte ziehen durch das Land. Bodennah kriecht der feuchte Dunst, der von den Zungen platscht, über die Felder, und damit verderben sie dem Morgen die Schönheit der aufgehenden Sonne. Die Waldlaubsänger sirren in den frisch mit Tau bezogenen Baumbetten mit dem Zwielicht um die Wette, flappen um ihre Koje herum, bringen ihre Hymnen den Würmern dar, den großen Ernährern, die aus der Erde ragen, dem Humus, dem Sand.

Fressen oder gefressen werden.

Eine Stunde vor Sonnenaufgang tragen die Arien der Rotkehlchen weit, aber erst als um 5 Uhr 40 die Stare erwachen, spottet dieses Opernhaus mit seinem tiefblau beginnenden Himmel allen menschlichen Tuns.

Was durch die Lüfte zieht, sich regt, verweht, wird Geschichte werden, die Worte faulender Gestank, der, langsamer als die Federvagabunden, den Wind findet, alles in seiner Reichweite vertreibt, was nicht mehr zur Nacht gehören will. Traumtentakel ziehen sich in die Büsche zurück, hinterlassen nur unangenehm nässende Spuren, ein Ektoplasma, zusammengefallen durch das tägliche Vergessen. Der Morgen beginnt sein Ritual, badet sich in den ex­plodierenden Farben.

In dieser Zeit tritt Nebel aus der Erde, steht auf dem Land herum und wartet auf die endgültige Pracht der Sonne, die zwar schon ihre leuchtenden Arme über den Kohlwald ausstreckt, aber noch nicht in das Herz der Nebel­bank hinein greift. Geisterhaft keckern die Stimmen der Kinder von der gro­ben Steinbrücke, brechen sich an den Gebäuden entlang der Schlossstraße und kehren lallend zurück.

Achtet auf den Widder!

Die Eger gurgelt in ihrem dunklen Flussbett, im Nebel schwanken Glied­maßen, auf der Wiese stehen Schatten. Es sind die Schafe, die schüchtern Gras rupfen vor der hölzernen Wand, hinter der sie ihr Nachtlager wissen. Die Tore sind seit den frühen Morgenstunden geschlossen.

Achtet auf den Widder!

Wollköpfe schnellen lauschend in die Höhe, schwarze Münder blöken. Die Kinderschar lacht, löst sich auf wie eine weitere gespenstische Erschei­nung. Die Steinbrücke ist wieder leer. Als sich der Nebel verzogen hat, steht das Dorf wie ein beginnender Tagtraum still und wartend an seinem Platz. Trügerisch. Denn die Geisterkinder könnten jederzeit wiederkehren. Ich glaube, dass wir uns selbst dort lachen hörten, nur sprachen wir nie darüber. Einer dieser Augenblicke, als wir über die Steinbrücke der Eger tollten, muss­te einen Abdruck hinterlassen haben, der sich dann zu einem Spuk manifes­tierte. Wir hatten alle unser altes Leben gelassen, wo es war, nur erinnerte sich niemand mehr daran. Nur eine unbedeutende Turbulenz in Zeit und Raum, die uns selbst für alles andere sensibilisierte. Die Steine nämlich ver­gessen nichts. Ihre Erinnerungen fließen langsam wie ihre ganze minerali­sche Existenz. Geduld macht sie unsterblich. Wenn der Dunst an ihnen reibt, erklären sie sich bereit, flüchtige ikonische Gedanken abzusondern. Sie sind die Archivare der Zeit. Und manchmal lassen sie ein geflüstertes Wort ent­kommen, noch öfter aber ein schallendes Echo, dem man besser nicht folgt. Keine Heiterkeit findet sich dort, wo es endet.

Wie täuscht uns das Leben, wenn neben der strauchigen süßen Himbee­re der Kadaver eines Eichhörnchens liegt, wenn schnurrend die Katze im Stroh auf ihren Mäuseleichen thront. Wie täuscht uns das Leben, weil wir uns gerne täuschen lassen. Vergessen ist der große Sturm des letzten Winters, der doch so viel von der Ruhe der Ansässigen gefressen hat. Wenn sie sich daran erinnern, tun sie das mit einem Schaudern. Gerüchte werden zu be­glaubigten Geschichten, die mit eigenen sonderbaren Erfahrungen ausge­schmückt den Abend retten können; und Sonderbares hat hier jeder schon erlebt.

Die gerupften Federn im Mondlicht, Skelette kleiner Nager; eine sich anschleichende Suche. Der Pilger ist träumerisch genug, um sich von der Natur verschlingen zu lassen, das Idyll regt sich durch Wanderung und Heimkehr. Was an der Geschichte Fatum, was Voluntarismus sein wird, darf nicht leichter voneinander zu trennen sein als Silberbromit von einem barytierten Papier.

Hier ist alles waldphantastisch eingbrünnt. Kaiserhammer ist das Zen­trum eines alten Jagdsterns, bei dem im Verlauf mehrerer Tage das Wild dem auf freier Fläche aufgebauten Laufft zugetrieben und mit neu gespannten Netzen und Feuern am Entweichen gehindert wurde. Beim abschließenden Abjagen wurde das Wild in den Laufft hinein getrieben, in dessen Mitte die fürstliche Jagdgesellschaft auf ihre Beute wartete.

Von den Baumheeren geht keine Gefahr aus, wohl aber von dem, was zwischen den Schatten geht. Ein Reh, aus baldiger Nacht verirrt, mit Durst im braunen Fell, will den Tau von Halmen lecken und sieht sich – schon erschos­sen – um. Das Blei zerfetzt den schönen Athletenhals und wirbelt warmes Blut auf die erlahmten Wimpern. Unter den Schuhen des nahenden Jägers wird es finster und nass und schwer und klamm. Der Herbst hält seinen Atem an, kurz bleibt die Stille haften, bleibt verlockend tot.

Sefchen, altes, geiles, rotes, dreckiges Sefchen; tanz du doch noch einmal um den Galgenbaum, tanz du doch noch einmal den Staub auf, Gewitter dei­ner Knöchelchen, Sohlen, Fersen, tanz du doch noch einmal mit hohem Rock, zeig, wo die Seife endete! Der Ruf durch den Nebel von Krähen beheizt, ver­schlungen führt der Weg vorbei an den knatschenden Eichen, an gekrüppel­ten Ästen, an der gesammelten Pest der Altstraße. Wind wurmt über die Tei­che, die Flüsse – des Scharfrichters Tochter ist schön wie jede Gespielin des Verderbens. Wer sie tanzen sieht, wird je zurückkehren, rasten am gemiede­nen Ort, seinen Blick über den Alraunenacker schicken. Es kommt mir so vor, als befände sich das Fegefeuer nicht weit, als ginge ich durch Niemandsland, als warte dahinter der Erdschlund, gurgelndes Magma!

Lumiere

After Nine

Wir haben uns entschlossen, die Minzblättchen, die wir nach dem großen Fressen fressen, ‚After Nine‘ zu nennen. Acht war gestern. Natürlich handelt es sich dabei nicht um dieselbe Fabrikware, hiesige hier sind mürber und klingen anders; eher wie „Morks Krumb-Krumb-Krumb“. Die Nach-Acht-Dinger hören sich vielmehr nach „Gnorm“ an. Gnorm nach Acht. Ob die Scheiße nachher auch nach Minze duftet, ist noch nicht beforscht. Mentha x piperita.