Kult!

Monat: März 2018

Wolf aus Erz

“Die reißende Bestie, die hier wütete, kam, so erzählt man sich, aus dem Sumava durch die Wölder, durch Seen und Moore gewandert. Vielleicht aber kam der Wolf aber aus den Herzen derer, die ihm dann auch zum Opfer gefallen waren, sagten andere, die die Meinung vertraten, Wölfe fräßen überhaupt keine Menschen.”

Porzellanmädchen

Er unterhielt sich mit einem Trugbild. Wenn er je schon einmal so empfunden haben sollte, dann niemals so real, so überaus wirklichkeitsnah. Das Porzellanmädchen sah ihn an und er konnte erkennen, dass die großen blauen Augen wie gemalt wirkten. Das Mädchen blinzelte nicht, wie gelang es ihr überhaupt, sich zu bewegen?

Das blaue Kleid

“Für einen kurzen Augenblick hielten alle den Atem an, weil Steff das Kleid mit seinen Fingern berühren wollte. Dabei war es doch offensichtlich, dass diesem lackmusblauen Kleid das Haus gehörte. Wir alle konnten uns vorstellen, dass sich dieses Kleid, vermutlich zur Geisterstunde, mit Leben füllte.” (Sandsteinburg)

Karpfengott

“Der Weiher: eigentlich kein zum Plantschen angelegter Tümpel, sondern einer der drei Fischteiche der Kaländers, ein richtiges Biotop mit meterhohem Schlamm, Libellen, die unentwegt über die Spiegelfläche propellerten, mit Fröschen und natürlich mit schleimigen Fischen: Karpfen und Hechte.” (Sandsteinburg)

Mondmacher

“Jene runden Türme sind entdeckt, in welchen der Vollmond Mondnatt für Mondnatt gegossen wird, mit einem großen Katapult in den Himmel geschossen (geworfen); die Mondmacher am Werk; ihre chymische (Hochzeit). Der Mond erkaltet unter der Erde, wird fest in den Tiefen, Basalt und Eisen.” (Sandsteinburg)

Esrabella Gräf

“Sie traf ihre Vorbereitungen im Gestank verfaulender Abfälle. In der Nacht zankten sich Schatten um die Überreste des Tages, die unbedacht zurückgelassen wurden. Sie verschonten die Hütte nur weil Esrabella dort lebte. Schwarzes Leben meidet schwarzes Leben.” (Sandsteinburg)

Eberesche

“Der Geruch nach süßem Blut wurde stärker. Das Gekröse glitzerte auf dem Boden, begleitet von einem wilden Fliegenbrausen. Helmut hing schief im Seil, das seinen Körper mit der Esche verband.” (Sandsteinburg)

Die Hand

“Doch weder aus dem Nebel noch von hinter den Blechwägen trat jemand auf ihn zu, um ihn bei der Hand zu nehmen. Es war nur ein Traum, komm jetzt mit nach Hause! Wie wäre das? Wie wäre es, zu erwachen? So viele Welten, die sich als Sterne tarnten, starrten zu ihm hinunter, wo es doch kein Hinunter mehr gab.” (Sandsteinburg)

Drachen

Diese seit menschengedenken in allen Kulturkreisen bekannten Wesen, die die Länder und Lüfte spielend eroberten wie kein anderes, sind in den Köpfen der Menschen, besonders in Literatur und Film, bis heute existent. Faszinierende Mischwesen mit einem großen langen Schwanz, die manchmal ihren Gegnern sogar vielköpfig Feuer unter’m Hintern machten. Manchmal mit einem Löwenkopf, manchmal mit einem Krokodils-, Panther- oder Wolfskopf. Einem Vogel gleich seien sie, da sie Flügel (häufig Flughäute) hätten, mit denen sie fliegen könnten. Schuppige Reptilien seien sie, die einer Schlange sehr ähnlich sähen. Ebenso aber seien sie Raubtiere mit riesigen greifartigen Klauen oder Tatzen an den Vorder- und Hinterbeinen, die verspeisen würden, was sie fassen könnten. In Klassen unterteilt wurden sie. Und so gab es auch jene, die man zu den Wyvern zählte, die vor allem in der Heraldik Einzug hielten, die nur zwei Vorderbeine, Flügel und einen schlangenartigen Unterleib hatten. Als auch jene, die man den Kriechdrachen zuordnete, die ganz ohne Füße auskommen mussten.

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Tarock der Läufer und Fänger

Im Titel stehts bereits, was ich sagen will. Aber das ist natürlich ne faule Aussage von mir. Das weiß ich. Ich bin weltfaul und der meisten meiner Artgenossen überdrüssig. Das wiederum lässt tief blicken. Stille psychoanalytische Fischrachenanalyse.

Zelfieblume

Ich entwerfe gerade ein Tarock für das, was bisher noch “Sandsteinburg” heißt und irgendwo in Schubladen, unter Schränken und in meinem Schädel umherfledert. Genommen werden Figuren, Symbole und Szenen aus ihr. Das bedeutet zwangsläufig: Ich muss auch eine eigene Legende zu den Karten entwerfen. Ein absolut sinnloses Unterfangen, zu dem die Hochlebe-Luftpuppe der Kunst eine ihrer blonden Strähnen zwischen zwei ihrer Finger zwirbelt, um sie zwischen Nase und Oberlippe zu klemmen, sobald sie schweinsnaserümpfend ein Fischmaul mimt. Zimpel commonzenzes.

Das ist die Karte mit der es begann.

Fear and Loathing in Las Vegas

Der amerikanische Journalist Hunter S Thompson ist eine mythische Figur. Seine Legende hat er teilweise selbst lanciert, in anderen Fällen hat sie sich gegen seinen Willen verselbständigt. Norman Mailer nannte ihn „eine Legende, wenn es darum geht, sich selbst zu zerstören“. Sein Biograph Jean Carroll berichtet von seinem strikten Arbeitstag, der täglich um 15 Uhr begann. Während des Schreibens konsumierte er Chivas Regal, Dunhills, Kokain, Orangensaft, Marihuana, Bier, LSD, große Mengen an Lebensmitteln, Chartreuse, Gewürznelken, die er in Zigaretten steckte, Gin und Pornofilme. Danach verbrachte er ein bisschen Zeit am Swimming-Pool mit Champagner und Eiscreme. Das war ganz im Sinne der Drogensammlung Raoul Dukes, dem Ich-Erzähler in Fear and Loathing in Las Vegas:

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Der polnische Boxer / Eduardo Halfon

“Der polnische Boxer” ist eine kleine Sammlung miteinander verbundener Geschichten des guatemaltekischen Schriftstellers Eduardo Halfon. Diese Offenbarung erschien im Jahre 2014 fast unbemerkt im Hanser Verlag. Überraschend daran mag vor allem sein, dass es bereits Halfons zehntes Buch ist, aber das erste, das übersetzt wurde. Das Original erschien bereits 2008.

In dem vorliegenden kleinen Puzzle bewegen sich Halfons Fragmente mühelos von Antigua, Guatemala, einem kulturellen Transitpunkt Mittelamerikas, nach Durham, North Carolina, Belgrad und Póvoa do Varzim, Portugal. Erzählt wird das alles von dem Protagonisten “Eduardo Halfon”, einem jüdisch-guatemaltekischen Schriftsteller und Literaturprofessor (ein Zufall, diese Ähnlichkeit mit dem Autor). Die Geschichten kreisen unter anderem um Themen wie Kunst und Schrift, Identität, Auschwitz, sexuelle Ekstase und Zigeunermusik. Und sie trumpfen mit dieser ganz bestimmten Art erdiger lateinamerikanischer Intelligenz; beschäftigen sich mit der Suche nach Antworten und geheimen Schlüsseln zu den Rätseln von Leben und Familie, Geschichte und Heimat, Wahrheit und Leidenschaft.

Halfons Neugier auf die Erfahrungen seines Großvaters in einem Konzentrationslager zieht sich durch jedes Kapitel, von der subtilsten Ebene bis zur tiefsten Erkundung. Halfon weiß nur, dass es ein polnischer Boxer war, der seinen Großvater Oitze in Auschwitz gerettet hat, aber die Details bleiben ein Rätsel. Oitze zeigt Halfon selbst nur die grausigsten, aber verschwommensten mentalen Dias von Auschwitz. Dieses klaustrophobische Bild der dunklen, feuchten, mit Flüstereien gefüllten Zelle gibt den Ton für den Großteil des Romans vor. Für Halfon (den Protagonisten) ist die Idee eines Boxers, der Oitze rettet, ein Symbol, an dem er festhält, die Hoffnung, dass etwas oder jemand ihn retten wird.

Im dritten Teil “Epistrophy”, in dem der Erzähler Milan Rakic einem Halbzigeuner und serbischen Pianisten, der auf einem Kunstfestival in Antigua auftritt, begegnet, beginnt das Buch wirklich zu schweben. Es ist Rakic, “ein moderner Nomade, ein allegorischer Nomade”, der dieses Buch in zwei atemberaubende Kapitel führen wird. Das erste, “Postkarten”, ist eine Serie von rätselhaften Schnappschüssen über Jazz und obskure Zigeunerkünstler, die Rakic von seinen Tourneen rund um den Globus zu Halfon schickt, während der klassisch ausgebildete Musiker als wandernder Akkordeonist immer tiefer in das Geheimnis der Wurzeln seines Vaters hineingezogen wird. Und das zweite, “Die Pirouette”, beinhaltet Halfons außergewöhnliche Suche nach dem verlorenen Rakic, der in “seinem eigenen verdammten Mythos” irgendwo in der rauchigen Zigeunerunterwelt des postkommunistischen Belgrads verschwunden ist.

Indem er sich selbst als Protagonisten darstellt, vermischt Halfon die Fiktion mit der Realität. Er spielt explizit allwissender Erzähler und den im Dunkel Tastenden. Er vermischt auffallend diese beiden Ebenen und sagt uns: “Literatur ist nicht mehr als ein guter Trick, den ein Magier oder eine Hexe ausführen kann, um die Realität als Ganzes erscheinen zu lassen und die Illusion zu schaffen, dass die Realität eine ganze Einheit ist”. Er wird selbst zu diesem Zauberer, wenn er nach Milan sucht und sich bemüht, eine Postkarte zu rekonstruieren, die er von ihm bekommen hat: “Es gibt immer mehr als eine Wahrheit in allem”.

Die Geschichten sind geschickt und kunstvoll miteinander verbunden – eine amerikanische akademische Konferenz über Mark Twain (der zufällig 1866 durch Nicaragua reiste); ein literarisches Symposium in Portugal, wo Halfon über die leidige Beziehung zwischen Literatur und Realität nachdenkt; Nächte am Strand mit seiner Freundin Lía verbringt, die danach versucht, Ebbe und Flut ihrer Orgasmen auf Papier festzuhalten, als ob sie Wellen oder Träume skizzieren würde. Die Geschichte von Halfons Großvater, der von seinem Zellengenossen, einem Boxer aus der polnischen Stadt Lodz, vor Auschwitz gerettet wurde, weil er  ihn in einer lange Nacht auf eine Befragung durch die Nazis vorbereitet.

Im weiteren Verlauf des Romans wird der metafiktionale Farbton stärker und heller. Sein unergründlicher Wunsch, Milan zu finden und Oitzes Vergangenheit aufzudecken, wird als surreales Verlangen dargestellt. Seine Fantasie überschlägt sich, und in dem Versuch, ihre Geheimnisse zu lösen, umarmt er deren Geschichten als seine eigenen. Er vergleicht seine Besessenheit, mehr über ihr Leben zu erfahren, mit der Art und Weise, wie ein neugieriges, krankhaftes, leicht ängstliches Kind unter dem Bett nach Geistern sucht.

Tatsächlich ist es die begrabene Vergangenheit des Großvaters, die schließlich enthüllt wird, die das kraftvolle zentrale Bild des Buches liefert: die “fünf mysteriösen grünen Ziffern, die mir viel mehr auf einen Teil seiner Seele als auf seinen Unterarm tätowiert zu sein schienen”. Als Kind wurde Halfon gesagt, das Tattoo sei gemacht worden, damit sein Großvater seine Telefonnummer nicht vergessen würde. Nach dem Tod seines Großvaters im letzten Akt des Buches “Sonnenuntergänge” schwingt sich Halfon von den in sein Fleisch eingebrannten Figuren über Lias Zeichnungen und Visionen zu Maya-Tempeln in der Abenddämmerung und sucht atemlos nach einem verbindenden Faden im Gewirr der Elemente des Buches: “Ich dachte an die fünf  blassgrünen Zahlen, die jetzt auf dem Unterarm meines Großvaters, unter der dicken schwarz und dunkelviolett karierten Decke, dabei waren, zu sterben. Ich dachte an Auschwitz. Ich dachte an Tätowierungen, Nummern, Zeichnungen, Tempel, Sonnenuntergänge.”

“Der polnische Boxer” ist ein Buch der kleinen Wunder. Dabei erinnert Halfons Werk in gewisser Weise an andere Autoren, etwa an die Würzigkeit des Kubaners Pedro Juan Gutierrez oder auch an Henry Miller (von dem ein Zitat das Buch eröffnet) bis zu den eindringlichen Stimmen von John Berger und dem Argentinier Edgardo Cozarinsky. Auch die schiere erzählerische Dynamik und Faszination der Mischung aus Leben und Büchern, Sex und Kunst scheinen Echos des chilenischen Meisters Roberto Bolaño zu sein.

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