Als sie den Schrei vernahmen und sahen, wohin Roland deutete, riss Ludwig sein Lasso von seiner Gürtelschnalle und sprintete augenblicklich los. Sie waren gerade so weit gekommen, um zu erkennen, dass keiner die beiden Toten kannte, was einerseits eine Erleichterung war, andererseits die Sache schwieriger machte, denn Fremde würde man unweigerlich suchen. Ludwig sah Bartholomäus vor sich, der keine Anstalten machte, sich von der Stelle zu bewegen, so als erwarte er ganz gelassen sein Schicksal. Hinter ihm klirrte Richard mit den Messern und kam ihm hinterher geeilt. Doch plötzlich geschah etwas Merkwürdiges. Es wurde dunkel, und zwar in einer Geschwindigkeit, als knipse jemand das Licht in einem Wohnzimmer aus. Eingerahmt von Haselnuss, Wacholder und Vogelbeere stand Bartholomäus wie eine Vogelscheuche still und blickte zum Himmel hinauf. Sein Gesicht war eine blasse Menschenscheibe, die Haut gegerbt, von Rundschuppen überzogen. Ludwig konnte ganz deutlich die Fischaugen erkennen, den Haken unter einer verkümmerten Flosse. Er ließ das Lasso kreisen, obwohl er doch sichtlich irritiert war.
»Was ist das!«, rief Richard dicht hinter ihm, aber da flog die gezielt geworfene Schlinge bereits über den starr auf dem Fleck verweilenden Nachtgiger, wie sie alle glaubten. Roland gab hysterische und unartikulierte Schreie von sich. Am meisten überraschte sie die plötzliche Dunkelheit, die trotzdem unnatürlich hell wirkte, so als gäbe es irgendwo eine Lichtquelle, die sie nur nicht sehen konnten. Ludwig zog die Schlinge straff, die einem Menschen die Oberarme gefesselt hätten, diesem Wesen aber, das ihn an ein menschliches Wolpertinger erinnerte, die verkrüppelten Flossen, aus denen Haken ragten, einschnürte.
»Was tun wir?« Richard war neben Ludwig aufgetaucht und starrte das Ding an, das sich nicht rührte und weiterhin gen Himmel schaute. Manfred Bergmann und Alvin Gerard kamen zögernd und vorsichtig näher. In Alvins Gesicht saß die Angst wie ein Ausschlag fest. Er murmelte französische Sätze, die an niemanden gerichtet waren.
»Er bewegt sich nicht«, sagte Richard.
»Weiß jemand, was hier los ist?«, rief Manfred von hinten und auch seine Stimme hatte ihren festen Klang verloren. Es mochte wahr sein, dass sich Kinder vor der Dunkelheit fürchten, aber Erwachsene bildeten da keine Ausnahme. Die Frage war: Wie kam die Dunkelheit zustande?
»Wir denken später drüber nach!«, sagte Richard und hielt in jeder Hand zwei Messer, mit denen er auf das merkwürdige Ding zielte. Wie lächerlich das wirkte, war ihm nicht klar. Ludwig schielte ihn von der Seite an, als könne er sich nicht auf ihn verlassen, obwohl er äußerlich völlig ruhig wirkte. Er zog die Schlinge noch etwas straffer, um eine Reaktion zu provozieren, aber es kam keine. Man sah nicht einmal, ob der Kerl überhaupt atmete. Doch dann begann sich das Ding, das fast aussah wie ein Mensch in heruntergekommenen Kleidern, zu schütteln. Die Männer fuhren etwas zurück, Ludwig ließ das Seil aber nicht los.
Das Schütteln, das von keinem Laut begleitet wurde, verwandelte sich in ein Oszillieren, das immer schneller wurde. Der Boden vibrierte leicht, als würde er mit einem Betonrüttler bearbeitet.
»Er … er löst sich auf!«, schrie Manfred, und tatsächlich verschwand der gefangene Körper, tauchte dann wieder auf, verschwand wieder, bis er sich langsam in die Erde senkte. Wie ein Kompostwurm wühlte sich das Ding in den Untergrund und zog das Seil mit sich, das Ludwig bald nicht mehr festhalten konnte. Es schlüpfte wie eine Nudel in die aufgerissene Erde, in der der Giger verschwunden war, Steine kullerten hinterher, das Erdmaul schloss sich und nichts deutete darauf hin, dass hier jemals ein Loch gewesen war.
Als die Männer, völlig verstört und erschöpft, Zuhause ankamen, war es 23 Uhr 24. Sie hatten fast zwölf Stunden da draußen zugebracht.
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