Geschrieben von A. Anders
Entgegen dem Erstaunen der anderen, war es ihr nicht neu, dass, sobald sie sich hinsetzte, um ihre Beine zu spreizen, Schmetterlinge aus ihr hervorflatterten, die sie in ihrem kleinen Glashaus im Garten mit auf 39 kleinen Gedecken liegenden, bereits gelutschten Bonbons fütterte, die sie sich aus der Bonbonniere der Löwen-Apotheke wie ein Greif, der seine Beute mit zielgerichteten Krallen packt, zu holen pflegte. Ein lohnenswerter Streifzug. Denn immerhin, dies geschah mindestens zweimal pro Woche, wenn sie die ihrer Mutter vom Dermatologen verschriebene Salbe in Auftrag geben und, sobald sie nach ein paar Stunden von einer der Mitarbeiterinnen angerührt worden war, wieder abholen musste. Die Salbe, die Dr. Ball ihr verschrieben hatte, hatte nur eine kurze Haltbarkeitsdauer, weshalb sie auch nur in kleineren Mengen hergestellt wurde. Die Krankheit ihrer Mutter hieß, so hörte sie die Nachbarinnen hinter vorgehaltener Hand tuscheln, Heliose. Ein Wort, das sie zuvor noch nie gehört hatte. Wie eine üppige, warm leuchtende Blume hörte es sich an. Vom Gelben ins leicht Rote sich wandelnd. Die Blüte dicht mit Blättern befüllt.
Ihre Mutter, sofern sie nicht zuhause blieb, verließ das Haus nur in schwarzer, ihren gesamten Körper bedeckender Kleidung. Sie trug stets eine Sonnenbrille und einen weiten schwarzen Reifhut, der die Haut ihres Gesichts noch blasser erscheinen ließ, als das ohnehin der Fall war. War sie zuhause, lag sie zumeist auf dem Sofa unter ihrer dicken Kamelhaardecke verborgen und schlief. Sie hatte, als sie noch nach Ägypten gereist war, wo sie die meiste Zeit des Jahres verbrachte, unzählige Bücher über Hatschepsut und altägyptische Religionen verschlungen. Die Porträt-, Erinnerungs- und Totenmasken, die sie von ihren Reisen mitbrachte, und die zuhauf an den Wänden ihres Zuhauses hingen, waren schon lange von einer derart dicken Staubschicht überzogen, dass sie, je nachdem wie das Licht auf sie traf, lebendig wirkten.
Vor fünf Jahren, als es ihrer Mutter noch gut ging, hatte sie eine der Masken von der Wand genommen und sie sich aufgesetzt. Es war eine Maske, die den Gott Amun-Re darstellte. Sie war schwer und ließ sie nur mit ausgestreckt tastenden Händen vorsichtig einen Fu? vor den anderen setzen, ähnlich dem starren Gang eines Soldaten, der vor einem Königshaus auf und ab läuft. Als ihre Mutter das gesehen hatte, lachte sie hell, nahm ihr die Maske von den Schultern und setzte sich mit ihr an den Tisch. Sie zog ein Buch zu sich, in das sie mehrere kleine leuchtend bunte Zettel geklebt hatte. Sie schlug es irgendwo in der Mitte auf, stellte es hochkant, damit sie das, was sie ihr zeigen wollte, besser betrachten konnte. Die aufgeschlagene Seite bot einen dunklen weiten Raum dar, in dessen Mitte eine große Festtafel in der Form eines Dreiecks stand. Viele verschiedene Gedecke standen auf den ebenso unterschiedlichen Tischläufern. Ein monumentaler Schmetterling mit vielen unterschiedlich farbigen Augen. „Es sind 39 Gedecke“, sagte sie. „Ein Gedeck ist für Hatschepsut.“
Es war ein Ausstellungskatalog, den sie ihr gezeigt hatte. Die Installation „The Dinner Party“ stammte von Judy Chicago.
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