Phantom

Eines Abends, als der Regen in feinen Fäden vom Himmel fiel, saß ich wieder in einem dieser anonymen Cafés. Die Wände waren grau, das Licht zu schwach, um Schatten zu werfen, und die Luft war erfüllt von einem dumpfen Summen, das keinen Ursprung erkennen ließ. Es war die Art von Ort, in dem alles bedeutungslos wurde, weil nichts genug Substanz besaß, um Bedeutung zu erlangen.

Das Phantom war schon da. Nicht hereingekommen, sondern einfach da gewesen, wie ein Gedanke, den man nie bewusst gedacht hat, der aber dennoch in der Dunkelheit lauert. Diesmal erschien es als ein Schaffner, die Uniform zerknittert, die Augen tief ins Gesicht getrieben. Eine Karteikarte hielt er in der Hand, als wäre sie eine Reliquie. „Ihre Fahrkarte, bitte“, sagte er, die Worte mechanisch, entleert.

„Ich fahre nicht“, antwortete ich, doch die Worte fühlten sich nicht richtig an an. Es spielte keine Rolle, was ich sagte. Nichts tat das. Worte waren bloße Geräusche, die in der Leere verdampften, in der wir alle existierten.

„Natürlich fahren Sie nicht“, sagte er und grinste. „Niemand fährt. Aber wir alle bewegen uns trotzdem. Oder besser gesagt: wir werden bewegt.“

Die Absurdität der Aussage hätte mich belustigen sollen, doch sie schien stattdessen in mir widerzuhallen wie eine längst vergessene Wahrheit. Ich senkte den Blick und starrte auf den Tisch, auf die Linien der Maserung, die sich zu keinem erkennbaren Muster fügen wollten. Alles hier schien von einer tiefen Gleichgültigkeit durchdrungen zu sein, als ob selbst die Materie aufgegeben hätte, sich zu etwas Nützlichem zu formen.

„Haben Sie jemals bemerkt“, fuhr das Phantom fort, „dass das Leben nur ein endloses Arrangement von Fragmenten ist? Kleine Bruchstücke, die niemals zu einem Ganzen werden. Aber das ist der Trick, wissen Sie: Es gibt kein Ganzes. Es hat nie eines gegeben.“

Ich schwieg. Das war der Schlüssel, das Einzige, was mich bis hierher gerettet hatte: keine Antwort, keine Reaktion. Doch selbst das war ein Akt des Widerstands, und der Widerstand war sinnlos. Das Phantom wusste es, und ich wusste es auch.

„Es ist komisch, nicht wahr?“ Es zog einen Stuhl heran und setzte sich, als sei es ein alter Freund. „Alle denken, dass sie irgendetwas erreichen müssen, dass es eine Aufgabe gibt, ein Ziel. Aber alles, was sie je erreichen, ist, Teil des großen, fauligen Komposts zu werden. Ein bisschen Humus für die nächste Generation von Narren.“

Ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu sprechen. Worte wären nur eine Einladung gewesen, eine weitere Illusion von Kontrolle. Stattdessen fixierte ich eine Fliege, die über die Tischplatte kroch, eine groteske Parodie von Leben. Selbst sie schien zielgerichteter zu sein als ich.

„Es gibt nichts zu gewinnen“, sagte das Phantom schließlich und schob die Karteikarte über den Tisch. „Aber das wussten Sie ja schon.“

Auf der Karteikarte war eine Adresse geschrieben. Eine Straße, die ich nicht kannte, in einer Stadt, die vielleicht nicht einmal existierte. Ich wusste, dass ich nicht hingehen würde – und dass ich trotzdem dort enden würde. Denn so funktionierte es: Nicht durch Entscheidungen, sondern durch den stummen, unaufhaltsamen Druck eines unsichtbaren Mechanismus, der uns alle in Bewegung hielt.

Ich verließ das Café, der Regen hatte aufgehört. Die Straßen waren leer, wie ein Bühnenbild, das nach dem letzten Akt abgeräumt werden sollte. Ich ging nicht – meine Beine trugen mich einfach, ohne dass ich ihnen einen Befehl gegeben hätte. Es war nicht Gehorsam, nicht einmal Gewohnheit. Es war das Fehlen von allem anderen, eine Bewegung ins Leere.

Die Adresse war leicht zu finden, obwohl ich niemals hätte wissen können, wo sie lag. Es war eine Gasse, schmal und erbärmlich, mit Wänden, die so hoch waren, dass sie den Himmel abschnitten. Am Ende war eine Tür, schwarz und ohne Griff. Sie war nichts anderes als eine Absichtslosigkeit, die Materie angenommen hatte.

Und das Phantom war wieder da, diesmal als Zeitungsjunge. „Extra, extra!“, rief es und hielt mir eine Ausgabe hin, deren Schriftzeichen sich auf der Seite wanden wie Würmer. Ich verstand nichts, aber ich brauchte es auch nicht zu verstehen. Es stand alles schon in mir, verborgen hinter den Illusionen, die ich mein Leben nannte.

„Die Flucht ist vorbei“, flüsterte der Junge, und seine Stimme klang wie das Zusammenbrechen eines Sterns. Und ich lachte, ein trockenes, heiseres Lachen, das mich selbst überraschte. Denn das war die einzige Wahrheit: Es gab keine Flucht. Es hatte sie nie gegeben.

Ich trat durch die Tür, und dahinter war nichts. Kein Licht, keine Dunkelheit. Nur der stille, kalte Atem der Leere.

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