Kult!

Monat: August 2018

Dale Cooper (Der exzentrische Schwelger)

Er ist einer der zwei berühmtesten (Special) Agents, die wir kennen. Jüngere FBI-Agenten wie Dana Scully und Fox Mulder traten in seine Fußstapfen. Er dürfte die Rolle des Agenten neben James Bond, der allerdings für den MI6 arbeitet, nachhaltig geprägt haben. Sein voller Name ist Dale Bartholomew Cooper. Er wurde gespielt von Kyle MacLachlan. Er ist der von David Lynch und Mark Frost ersonnene Hauptcharakter der Fernsehserie Twin Peaks, die zum ersten Mal mit einer Pilotfolge von dem US-amerikanischen Fernsehsender ABC (American Broadcasting Company) am 8. April 1990 ausgestrahlt wurde. Sie lief im Jahr 1990 / 91, sowie in später und mächtig von den Fans ersehnter Fortsetzung im Jahr 2017. Des Weiteren existiert ein im Nachhinein in Anknüpfung des überraschenden Erfolges der Serie gedrehtes Prequel namens Twin Peaks: Fire walk with me. Der Film feierte am 16. Mai 1992 seine Erstaufführung.

Weiterlesen

Autoren bewegen sich in einem von ihnen selbst geschaffenen Universum

Diese schöne schriftstellerische Vision von Flaubert ist auch auf das Leben anwendbar, das im Rahmen des nicht dualen Verständnisses von Selbst und Welt gelebt wird.

Es ist eine köstliche Sache, zu schreiben, nicht mehr man selbst zu sein, sondern sich in einem ganzen Universum zu bewegen, das man selbst geschaffen hat. Heute zum Beispiel ritt ich als Mann und Frau, als Geliebte und Geliebter, an einem Herbstnachmittag im Wald unter den gelben Blättern, und ich war auch die Pferde, die Blätter, der Wind, die Worte meiner Leute, sogar die rote Sonne, die sie dazu brachte, ihre von der Liebe ertrunkenen Augen fast zu schließen. Ist das Stolz oder Frömmigkeit?

Ist es ein törichter Überschwang übertriebener Selbstzufriedenheit, oder ist es wirklich ein vager und edler religiöser Instinkt? Aber wenn ich über diese wunderbaren Freuden nachdenke, die ich genossen habe, wäre ich versucht, Gott ein Dankesgebet vorzutragen, wenn ich wüsste, dass er mich hören könnte. . . Lasst uns Apollo besingen wie in alten Zeiten und tief die frische, kalte Luft des Parnass einatmen; lasst uns auf unseren Gitarren klimpern und unsere Zimbeln schlagen und uns wie Derwische im ewigen Getümmel der Formen und Ideen herumwirbeln.

Aus einem Brief an Louise Colet, Dezember 23, 1853

Thomas Ligottis Tankstellen-Jahrmärkte (Gas Station Carnivals)

Ungewöhnlich innerhalb einer seiner Erzählungen zweimal lachen zu müssen. Das hatte ich nicht erwartet. Doch so erging es mir mit der Kurzgeschichte Tankstellen-Jahrmärkte (im Englischen: Gas Station Carnivals), die aus der Sammlung The Nightmare Factory (1996) stammt. Und so konnte ich mich recht schnell entscheiden, mit welcher phantastischen Schauderphantasie Ligottis ich hier zuerst ins Feld ziehen würde.

Prince of Dark Fantasy

Thomas Ligotti, der 1953 in Detroit, Michigan, USA, geboren wurde, gilt längst als Meister der “Dunklen Phantastik” oder des “Pure Horror”. Mehrfach ausgezeichnet, ist es unmöglich, sein Werk einem einzelnen Genre zuzuweisen. Zu groß ist seine stilistische Bandbreite, zu artifiziell sein Schreiben, zu dräuend die Philosophie, die eine Psyche formt und hervorbringt, die seinen Erzählungen den Nährboden bereitet, was in dem 2010 erschienenem Sachbuch The Conspiracy Against the Human Race kulminierte.

Von Poe und Lovecraft beeinflusst, zählen auch Autoren wie Vladimir Nabokov, Franz Kafka, Thomas Bernhard und Bruno Schulz u.a. zu den von ihm hoch geschätzten. Nicht massentauglich, ging Ligotti eigene Wege, dem Horror eine Wiege zu erschreiben, die tief in einer conditio (in-)humana wurzelt, die wir in dieser Gewaltigkeit schon bei Lovecraft finden, und doch, anders als jener, ohne ein kosmisches Götterpantheon auskommt, das den Horror erst implementiert. Bei ihm ist es das Übernatürliche als solches, sind es kosmische Kräfte, die ins Bewusstsein des Individuums, des Protagonisten strömen, die ihm das ihn Umgebende instandsetzen. Die innere Welt wird nach außen gestülpt. Während die äußere wiederum mächtig auf die innere einwirkt: eine hoch psychosomatische sich gegenseitig durchdringende und gestaltende Verstoffwechslung von Individuum und seiner Umwelt. Äußere Zustände inkarnieren die seelischen und wieder umkehrt uswusf.. Dabei sind es Puppen, Marionetten und Harlequins, die als Unheilsbringer bei Ligotti fungieren.

Nightmare Factory

Nichts hat Bestand, verwunschen sind die Städte und Häuser. Alles sich Darbietende scheint sich in eine dunkle Groteske zu verwandeln, die ihr eigenes Schauspiel aufwirft. Als würde ein Schleier gehoben, der doch nichts lüftet, der die dunkle Schöpfung all dessen, was existiert, nicht preisgibt, sie nur immer mehr in Nacht taucht, obgleich sie doch durch das Schauspiel verheißungsvoll beschworen wird. Als Marionette erfährt sich das Ich, an dessen Fäden gezogen wird. Völlig unklar jedoch bleibt, ob es die den Protagonisten umgebende Welt ist, die sich, aus den Angeln des Rationalen gehoben, im Nichts des Grotesken / Sinnlosen verliert, oder: ob er es ist, der sie sich, mit zunehmenden Wahnsinn seines Verstandes, als eine solche erstehen lässt. Was es auch sei, ob Henne oder Ei, das Ergebnis bzw. die Wirkung ist die gleiche: es ist absolut wirklich. Und so verwendet er recht häufig den sog. “Unzuverlässigen Erzähler”, von dem wir kaum etwas bis gar nichts erfahren, der sich selbst seiner Eindrücke unsicher ist, der sich auf die Erzählungen von Anderen stützt (siehe Der Rote Turm). All das ist nicht sehr verwunderlich, bedenkt man, dass Ligotti, der sehr zurückgezogen lebt, unter anderem unter Agoraphobie und immer wiederkehrenden schweren depressiven Zuständen leidet. Er selbst bezeichnete sich in dem von Matt Cardin geführten Interview als Anhedoniker.

Gas Station Carnivals

Flau im Magen ist dem Ich-Erzähler, der sich, während sich die Welt draußen in eine stürmische See verwandelt, in das “Kabarett in Karmesin” (ein Künstlerclub) geflüchtet hat, um sich ein wenig isoliert in Gedanken bei Tee und nikotinarmen Zigaretten zu laben. Hinter seinem Notizbuch seiner von ihm angenommenen Virusinfektion oder Lebensmittelvergiftung harrend, die bald ausbrechen werde. Es ist ihm, als wäre er auf einem alten Schiff, oder als befände er sich im Salonwagen eines luxuriösen Eisenbahnzuges, der vom Wind gepeitscht wird. Er fühlt sich an diesem Ort sicherer, denn würde er zusammenbrechen, wären ja Menschen um ihn herum, ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Menschen mit denen er, solange es nicht soweit ist, nicht eigentlich näher in Kontakt kommen möchte. Jedoch betritt Stuart Quisser den Club, ein Kunstkritiker, von dem er überrascht ist, dass er sich in diesem blicken lässt. Er wolle mit der Karmesinfrau ins Reine kommen, antwortet dieser. Er hätte sie auf einer Party gedemütigt, sie eine von Selbsttäuschung geblendete Unbegabte genannt. Sie sei eine, die man sich besser nicht zur Feindin macht, da sie über Verbindungen verfüge, von denen Quisser keine Ahnung habe. Auch die sie bedienende Kellnerin sei ihr sehr ergeben.

Der Ich-Erzähler fordert Quisser auf, die sie umgebenden Wände zu betrachten. Woraufhin dieser bemerkt: Die Lage ist ernster als gedacht. Ihm scheint, als habe sie ihre alten Gemälde abgenommen, an deren Stelle nun neue hängen. Auch scheint sie die Bühne in der gegenüberliegende Ecke des Clubs neu gestaltet zu haben, auf der diverse Veranstaltungen wie: Dichterlesungen, Puppenspiele, Diashows, musikalische Darbietungen u.a. dargeboten werden. Vier Stellwände umgeben die Bühne, deren jede mit schwarzen und goldenen Geheimzeichen vor einem schimmernden roten Hintergrund bemalt war. Während Quisser die Schriftzeichen als veränderte wahrnimmt, die ihn an eine chinesische Speisekarte erinnern, kann der Ich-Erzähler nichts Neues an ihnen entdecken. Doch er erinnert sich, dass Quisser diese Bemerkung in einer Besprechung schon einmal von sich gegeben hat, in einer im letzten Monat stattgefundenen Ausstellung. Der Kritiker gibt an, sich daran nicht zu erinnern, jedoch als der Ich-Erzähler nachhakt, antwortet er:

Quisser spricht von den Tankstellen-Jahrmärkten. Seine Erinnerungen an sie reichen bis in seine frühe Kindheit zurück. Er erzählt wie er mit seinen Eltern in den Ferien mit dem Auto häufig weite Strecken zurücklegte, und sie deswegen immer wieder an einer Vielzahl von Tankstellen halten mussten. Besonders die ländlich / provinziell gelegenen waren es, die dem Kunden und Besucher innerhalb der kargen Landschaft ein Kuriosum offenbarten, obwohl es sich dabei um ganz normale Tankstellen handelte. Oft waren es einfache, mit vielen Werbeplakaten versehene Häuser, die zwei bis vier Zapfsäulen hatten. Hinter diesen Häusern jedoch befanden sich die Gebeine eines alten, nicht mehr vollständigen Jahrmarkts. Hatte man den großen Torbogen mit den bunt leuchtenden Glühbirnen passiert (das geschah immer in der Abenddämmerung), fand man Miniaturkarusselle und -riesenräder, Miniaturschiffschaukeln, kleine Berg-und-Tal-Bahnen, wie auch andere Gerätschaften, die häufig nicht mehr intakt und offenbar niemals repariert worden waren. Doch gab es immer eine sich unterscheidende Darbietung, eine Show, die stets in einem kleinen Zelt aus zerschlissener und verdreckter Leinwand stattfand.

Quisser erinnert sich z.B. an eine, die er “Die menschliche Spinne” nannte. Hierbei handelte es sich um eine sehr kurze Darbietung, in deren Verlauf jemand in einer plumpen Verkleidung von einer Seite der Bühne zur anderen und wieder zurück flitzte, woraufhin er durch einen Schlitz am hinteren Ende des Zeltes entschwand. Eine andere Erinnerung ist “Der Hypnotiseur”, eine Showeinlage ohne stattfindende Hypnose: Der Akteur war einfach in einen langen, weiten Mantel gekleidet und trug eine Plastikmaske, welche die simple, sehr blasse Nachbildung eines menschlichen Gesichtes vorstellte, wenn man davon absah, daß sie statt Augen (oder Augenhöhlen) zwei große Scheiben mit aufgemalten Spiralstrudeln aufwies. Der “Hypnotiseur” kasperte einige Augenblicke lang ungelenk vor dem Publikum herum, zweifellos weil seine Sicht von den Spiralmuster-Scheiben vor den Augenschlitzen seiner Maske behindert wurde, und stolperte anschließend von der Bühne. Weitere Darbietungen wie die der “Tanzenden Puppe”, des “Wurms”, des “Buckligen” und die des “Doktor Finger” gab es. Und jedesmal konnte Quisser unter dem Bühnengewand des Akteurs die Uniform des Tankstellenwärters erkennen.

Zur Obsession aber wird dem Kunstkritiker der Auftritt des “Showmann”, wie er ihn nennt. Eine ihm, über die Tankstellen-Jahrmärkte hinaus, immer wieder erscheinende Gestalt, dessen Faszination und Schrecken sich für ihn nicht lösen lassen, von dem er nie mehr zu sehen bekommt als seine Rückansicht: Dort stand der Showmann, […], mit dem Rücken zum Publikum, und trug einen alten Zylinderhut und einen langen Umhang, der den schmutzigen Boden der winzigen Bühne berührte, auf der man ihn sah. Unter der Zylinderkrempe ragte in dichten und langen Büscheln das drahtige rote Haar des Showmanns hervor, […] wie das Nest irgendeines ekelerregenden Ungeziefers.

Eine groteske Gestalt, die sich niemals rührte, obwohl sie für Quisser stets den Eindruck erweckte. […], eine alptraumhafte Gliederpuppe, die durch die bloße Andeutung irgendeiner Bewegung zu allen möglichen Phantasievorstellungen einlud. Eine Gestalt, die er – so glaubt er sich zu erinnern – schon an anderen Orten gesehen zu haben, bevor sie ihm das erste Mal auf einem der Tankstellen-Jahrmärkte begegnete.

Der Ich-Erzähler bedeutet Quisser, dass es keine Tankstellen-Jahrmärkte gibt, und es niemals welche gegeben hat. Dass solch eine Vorstellung absurd, er nur einer Täuschung erlegen sei. Eine rückwirkende Täuschung, wie er meint, in diesem Fall ein Kunst-Zauber der Karmesinfrau. Quisser lässt endlich den Blick von der Bühne ab und verschwindet auf der Toilette. Der Ich-Erzähler schaut sich die Gesichter der Künstler im Club an, er mutmaßt, dass auch sie etwas spüren, von einem Schrecken befallen sind, nur dass sie nicht ahnen, daß keinerlei spezielle Regeln im Spiel waren; […], daß die ganze Angelegenheit einfach ein Spiel des Zufalls war, ein zielloser Schrecken, der über einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit hereinbrach, aber aus keinem bestimmten Grund. Dass sie sich diesen Schrecken, das Böse vielleicht sogar unwissentlich selbst herbeigewünscht hatten. Als die Kellnerin wiederkommt, um den Ich-Erzähler zu fragen, ob er noch einen Tee haben wolle, lehnt er ab, da er nun befürchtet, dass auch er mit einem Kunst-Zauber belegt wurde, und der Tee sein Magenleiden nur befördern würde, deutet jedoch an, dass sein Freund vielleicht noch ein Glas Wein trinken wolle, indem er auf das leere Glas am anderen Tischende zeigt. Doch dort steht keines. Er beschuldigt die Kellnerin, es weggenommen zu haben. Sie bestreitet es. Auch kann sich keiner der anderen Künstler im Club an Quisser erinnern. Ebensowenig der Kunstkritiker selbst, den er am nächsten Tag in einer Galerie trifft, der angibt, besagten Abend, unter einem Bazillus leidend, bei sich zu Hause verbracht zu haben. Der Ich-Erzähler schimpft ihn einen Lügner. Quisser tritt flüsternd an ihn heran. Aufpassen solle er, was er sagte und zu wem er es sagte. Gerade er als Künstler müsse doch Kenntnis von diesen Dingen haben. … jemanden eine von Selbsttäuschung verblendete Unbegabte zu nennen. Es gäbe gewisse Personen, […], die machtvolle Verbündete hätten … ermahnt ihn Quisser und fügt hinzu: “Nicht, daß ich dem, was du über du-weißt-schon-wen gesagt hast, widersprechen wollte … aber ich hätte es nicht so offen geäußert. Du hast sie gedemütigt. Und in diesen Tagen kann so etwas sehr gefährlich sein, wenn du weißt, was ich meine.”

Wilde Gerüchte kursieren bald unter den Künstlern und Kennern, wer sich denn nun auf der besagten Party der beleidigenden Äußerung schuldig gemacht hatte, und wer überhaupt das Opfer der Beleidigung war. Der Ich-Erzähler versucht sich bei der Karmesinfrau zu entschuldigen. Diese antwortet ihm: “Ich weiß kaum, wer Sie sind. Ich habe genug eigene Probleme. Dieses Luder von Kellnerin hier im Club hat alle meine Gemälde von den Wänden genommen und dafür ihre eigenen aufgehängt.”

Immer häufiger ertappt sich der Ich-Erzähler, wie er, auf der Suche nach einer Antwort, zu den Erinnerungen an die Tankstellen-Jahrmärkte zurückkehrt: Aber es ist niemand hier, […]. Und jeder Raum, den ich betrete, kann zu einem Showzelt werden, wo ich auf einer wackeligen alten Bank Platz nehmen muss, die kurz vor dem Zusammenbruch steht. Sogar jetzt habe ich den Showmann vor Augen. Sein drahtiges rotes Haar bewegt sich leicht in Richtung einer seiner beiden Schultern, so als sei er im Begriff, mir seinen Blick zuzuwenden, und bewegt sich wieder zurück; dann bewegt sich sein Kopf ein wenig in Richtung der gegenüberliegenden Schulter in diesem endlosen, grauenhaften Versteckspiel. Ich kann nur sitzen und warten, im Wissen, daß er sich eines Tages ganz umdrehen, von seiner Bühne herabsteigen und mich in den Abgrund rufen wird, den ich immer gefürchtet habe. Vielleicht werde ich dann erfahren, was ich tat – was jeder von uns getan hat – um dieses Schicksal zu verdienen.

Kunst vs. Wirtschaftshorror

Unverkennbar, dass diese Erzählung vor allem an die Erzählung Teatro Grottesco erinnert, die ebenso der Sammlung “The Nightmare Factory” entstammt. Denn auch hier sind – wie zumeist in Ligottis Texten – vor allem Künstler / Intellektuelle (ganz allg. Wissende) und deren Kreise betroffen. Betroffen von übermächtigen Kräften. Denn wie sich der Ich-Erzähler unserer Geschichte überlegt, ob es nicht die Künstler selbst waren, die sich den Schrecken, das widernatürlich Böse herbeiwünschten, heißt es in der Teatro Grottesco-Erzählung: Ob ein Künstler von dem Teatro kontaktiert wurde oder seinerseits die Initiative ergriff und selbst an das Teatro herantrat, führte anscheinend zum gleichen Ergebnis: es beendete das Schaffen des betreffenden Künstlers. In beiden Geschichten wissen die Protagonisten nie, wie ihnen geschieht, sie spüren nur etwas, ahnen allenfalls, was mit ihnen vielleicht geschehen könnte, zumindest sind sie sich sicher, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht, dass eine Kraft oder Magie im Spiel ist. Beidesmal steht es um die Gesundheit des Ich-Erzählers nicht zum besten. Beidesmal ist es ein mehr oder weniger unbestimmtes Magenleiden. Krankheit und äußere Gegebenheiten werden miteinander in Verbindung gebracht. Das hypochondrisch anmutende Ich hat sprichwörtlich einiges zu verdauen. Der abgerufene körperliche Zustand wird zum einzigen Fakten liefernden Scan für den Protagonisten. Zwar ist die Ursache der gesundheitlichen Beschwerden unklar, wie es auch keine Diagnose gibt – das Ich vermutet nur – , der gefühlte Befund jedoch, die Verstimmung bzw. das Leiden, wird als wirklich begriffen und in seiner Präsenz als gegeben angenommen. Es ist dem Ich-Erzähler als wäre die Verschlechterung seiner Gesundheit eine Auswirkung der bösen irrealen Kräfte, die als ebenso gegeben angenommen werden aber doch unbestimmt und unfassbar bleiben. Es wundert ihn nicht, dass sich die Dinge verschlechtern, begreift er das dunkle Treiben auch als einen Virus, der sich unaufhaltsam ausbreitet und seinen eigenen unhintergehbaren absurden und bösartig erschreckenden Schabernack treibt. Doch was ist das Bösartige?

Ligotti zeigt es uns nicht, er lässt es uns spüren. Dunkel ist die Kindheitsanekdote, die von Quisser erzählt wird, dunkel ist dem Ich-Erzähler ohnehin, auch ohne diese. Grotesk und albern sind die Auftritte auf den kleinen Bühnen der Tankstellen-Jahrmärkte, von denen wir nicht genau wissen, ob es sie nicht tatsächlich gegeben hat. Skurril und unheimlich bis zum Bersten sind die geschilderten Atmosphären, schrecklich faszinierend, wie der “Showmann” selbst es ist. Eine Figur, die Figur bleibt. Wir haben nur seine Rückansicht. Wissen nichts von ihm. Wir kennen seine Gedanken nicht, wissen nichts über seine Motivation, seinen Gesichtsausdruck, wissen nichts über den Grund seines Erscheinens. Er ist ein immer wiederkehrendes Standbild des Schreckens. Ein Schrecken, der so ultimativ ist, da er sich nicht offenbart. Nur immer wiederkehrt. Das Interessante aber ist, dass wir sein Stillstehen als eine abnorme Handlung deuten, die nicht unbedingt unseren Verhaltensweisen entspricht. Dabei wären es wir, die potenziell in eine Schockstarre fallen könnten, würde sich die alptraumhafte Gliederpuppe rühren, sich abrupt zu uns umdrehen, um uns mit all dem zu konfrontieren, das wir schon immer be- und gefürchtet haben. Im Grunde kann man sich überlegen, ob er nicht auch eine Dopplungsfigur unserer Selbst ist. Ein Beiwohner wie wir, ein Zuschauer all der grotesken Spektakel, die sich in dieser Welt aufführen. Jedoch einer, der demnach längst in eine Starre verfallen ist. Stellvertretend für uns, für jene, die so sensibel sind, zu bemerken, dass etwas in dieser Welt nicht in Ordnung ist. Kein Wunder, wissen wir doch, dass sich das Ich in Ligottis Texten alsbald als Marionette im Treiben dunkler Mächte erfährt. Und als würde all das nicht schon reichen, sieht sich der Ich-Erzähler am Ende der Erzählung selbst mit ihm konfrontiert. Er selbst ist nun in Quissers Position. Aber nicht nur das. Er findet auch heraus, dass Quissers Anwesenheit am Abend, an dem er seine Kindheitsanekdote erzählte, von allen Anwesenden verneint wird. Quisser selbst bestätigt dies. Nun ist er es vielleicht gewesen, der die Karmesinfrau gedemüdigt hatte, der auf der Hut sein sollte. Aber auch das ist keine still- und feststehende Entwicklung der Geschehnisse, da bald niemand mehr weiß, die Karmesinfrau eingeschlossen, wer wem überhaupt zum Opfer fiel. Es wird vermutet, spekuliert und gemunkelt. Alles verliert sich im immer Dunkleren. Ein Horror, der purer nicht sein könnte. Denn wenn es nichts mehr gibt, an das wir uns halten können, wenn selbst unsere Umwelt nicht mehr als widerspiegelndes Korrektiv fungiert, als eines, das uns eine Antwort darauf gibt, wie es mit unserem Verstand bestellt sein könnte, haben wir nicht einmal uns selbst. Unsere Handlungen laufen ins Leere. Jeglicher Entscheidungswille schwindet, müsste erheblich neu motiviert werden. Doch durch was? Diese Antwort steht auf einem anderen Blatt …

Bereits in dieser Erzählung ist Ligottis Wirtschaftshorror – wie wir ihn besonders aus der Novelle My Work Is Not Yet Done kennen – spürbar. Die Tankstellen-Jahrmärkte, ob es sie gegeben hat oder nicht, sind ein Zeugnis und Erzeugnis der damals stark voranschreitenden Wirtschaftsmaschinerie. Die Auswirkungen dürften heute längst noch die letzte Provinz erreicht haben, ganz gleich, ob sie hinter sieben Bergen schlummerte. Tankstellen als solches repräsentieren, trotz ihres ganz eigenen Charms, den sie manchmal in manchen Gegenden haben, die großen Ölkonzerne. Der per Auto Reisende ist genötigt, bei der nächsten sich anbietenden Halt zu machen, geht das Benzin in seinem Tank gegen Null. Das Kuriosum des einstigen Jahrmarkts mit seinen Freaks wird zum dürftigen Ein-Mann-Entertainmentunternehmen in Kooperation, indem der angestellte Tankstellenbetreiber von einer Rolle in die nächste schlüpft. Der Zauber ist längst vorbei. Heute gibt es, wie wir wissen, den Rummel der Kirmes: absolut unskurril, magielos und nur profitorientiert. So sind die Tankstellen-Jahrmärkte ein letztes Indiz für das Verschwinden einer alten Welt, die immer eine eigene bizarre in unserer darstellte. Und in ihrem Auslaufmodell so witzig in der Bühnenaufführung, dass mich Ligotti zweimal laut zum Lachen brachte, weil ich die Darbietungen “Die menschliche Spinne” und “Der Hypnotiseur” so herzlich albern fand, und noch immer finde, denke ich daran und lache wieder. Grotesk!, kann man da meinen, aber das ist die Welt ja auch. Heute mehr denn je …

Und wem dürfte das weniger entgangen sein als Thomas Ligotti, der aufgrund seines psychosomatischen Leidens ein besonderes Gespür und Empfinden für die Dinge und Vorgänge in dieser Welt hat.

Zumindest in seinen Texten haben Künstler und Intellektuelle dem Wirken der dunklen Kräfte nichts entgegenzusetzen. Es sind den Verstand absorbierende dunkle Welten, in die nach und nach die Produktneuheiten des Roten Turmes ziehen, ihr Unwesen zu treiben, denn, um es mit den Worten des Ich-Erzählers aus der Erzählung Teatro Grottesco zu formulieren:

“Man weiß nie, mit was man in Berührung kommt, oder was mit einem in Berührung kommt. Schon bald werden all meine Gedanken jede Klarheit verlieren, und ich werde nicht einmal mehr wissen, daß ich jemals eine Entscheidung zu treffen hatte. Die weichen schwarzen Sterne beginnen bereits, den Himmel anzufüllen.”

Geschichten in Geschichten in Scott Lynchs Gentelman-Bastard-Serie

Geschichten in Geschichten. Dies ist eine der ältesten Strukturen des Geschichtenerzählens, die bis ins alte Ägypten reichen. Allein der westliche Kanon hat – beginnend bei den Canterbury-Erzählungen über Hamlet bis zu Italo Calvons Unsichtbaren Städten – eine Fülle namhafter Werke hervorgebracht, die dem Reiz, Narrative ineinander zu schachteln, nicht widerstehen konnten. Autoren spekulativer Literatur wie Margarete Atwood oder Neil Gaiman sind ebenfalls in der Lage, diese Disziplin anzuwenden und dadurch mit einer wunderbaren Wirkung zu versehen.

Scott Lynch mag noch nicht ganz in dieser Elitegruppe mitwirken, aber es mangelt ihm weder an Talent noch an Ambitionen. Seine Gentleman Bastard-Serie (Die Lügen des Locke Lamora; 2006, Sturm über roten Wassern; 2007, Die Republik der Diebe; 2013 – und vier weitere geplanten Romane) besteht aus umfangreichen Büchern. In ihnen leben ein Gauner namens Locke Lamora und sein bester Freund, der Trickbetrüger Jean Tannen, in der flirrenden Metropole Camorr, die stark an das mittelalterliche Venedig erinnert. In dieser Hinsicht unterscheidet sich dieses Werk nicht von anderer zeitgenössischer Epic Fantasy, die George R. R. Martin oder Joe Abercrombie schreiben. Aber Lynch bringt in Die Republik der Diebe eine weitere Dimension in sein witziges, freches, pikareskes Epos ein: eben jene Geschichte in einer Geschichte, die mit Eleganz und Komplexität vorgetragen wird.

Es mag etwas seltsam erscheinen, über einen dritten Band vor den beiden ersten zu sprechen, aber es ergibt Sinn, wenn es um die Gentleman Bastard-Serie geht. Lynch springt chronologisch gesehen in jedem Buch viel herum und berichtet uns von der Zeit, als Locke und Jean als Jungen unter dem Meisterdieb Vater Chains studierten, bis hin zur langsamen Aufklärung des alten Geheimnisses, welches das Herzstück von Camorrs fremdartiger Architektur ist. In der Republik der Diebe gibt es viele parallele Storylines, aber es gibt auch ein Theaterstück im Roman: Caellius Lucarnos Theaterklassiker, auch Die Republik der Diebe genannt, ist hier eines von vierzig Fragmenten, ein Drama, das von einem untergegangenen Reich geborgen wurde, ähnlich einem Werk griechischer Dramatiker, das in die reale Renaissance einfloss.

Die Republik der Diebe ist nicht das einzige Lucarno-Werk, das in der Gentleman Bastard-Serie erwähnt wird. Zeilen aus dem Stück “Die Hochzeit des Assassinen” werden in Sturm über roten Wassern zitiert; Jean offenbart sich als begeisterter Fan der gesammelten Werke des Mannes und ist bereit, leidenschaftlich und spontan über Lucarnos rechtmäßigen Platz im antiken Pantheon zu sprechen. In gewisser Weise ist Jean ein Lucarno-Geek – so wie viele Fantasy-Leser in den letzten zehn Jahren zu Lynch-Geeks geworden sind.

Es ist nicht schwer zu verstehen, warum. Ja, Lynch schreibt Geschichten in Geschichten, faltet Rückblenden in Rückblenden und kreiert Geheimnisse in Geheimnissen. Aber er kreiert auch eine abgedrehte Buddy-Serie und einen höllischen Heist-Thriller. Abgesehen von seinem komplizierten Rahmen, beginnt die Gentleman Bastard-Serie mit der warmen, kämpferischen, brillant geschriebenen und manchmal geradezu herzzerreißenden Beziehung zwischen Locke und Jean, zwei Jugendfreunden, die zu zwei sehr unterschiedlichen Männern herangewachsen sind, die jedoch durch Kameradschaft und die Befriedigung über einen gelungenen Betrug, tief miteinander verbunden sind. In Die Lügen des Locke Lamora geraten sie in einen Machtkampf innerhalb des kriminellen Untergrunds von Camorr, der sie auch hervorgebracht hat; in Sturm über roten Wassern fliehen sie aus Camorr, um ihr Glück im fernen Land Tal Verrar zu suchen, wo Lynch sein Ocean‘s Eleven mit peitschenknallender Piraterie vermischt – und wie durch ein Wunder greift alles ineinander.

Lynch ist nicht der einzige aktuelle Fantasy-Autor, der Geschichten in Geschichten erzählt – das Beispiel, das einem sofort in den Sinn kommt, ist Patrick Rothfuss’ exquisit gerahmte Kingkiller Chronicle-Serie. Lynch stellt jedoch noch größere Fragen über die Natur der Wahrheit. Was ist eigentlich wahr? Sollte die Wahrhaftigkeit nicht eher auf die überzeugendste Version der Ereignisse als auf die langweilige alte Realität ausgerichtet sein? Was ist mit der Geschichte, sowohl der kulturellen als auch der persönlichen? Ist das nur eine andere Art, sich selbst zu täuschen? Um unsere Identitäten zu fälschen? Wenn die Summe der Zivilisation – und von uns selbst – einfach ein Rätsel von Geschichten in Geschichten ist, wo bleiben wir dann? Es gibt viel zu tun in einer Fantasy-Serie, gerade in einer so breitgefächerten und tiefgründigen wie dieser. Aber wenn Lynch uns bisher etwas gezeigt hat, dann dass Locke und Jean – so bescheiden die Lügner auch sein mögen – der Aufgabe mehr als gewachsen sind.

© 2025 Die Veranda

Theme von Anders NorénHoch ↑