Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Dorothea

Last updated on 20. Juli 2024

Als Dorothea das Zeitliche segnete, fielen in der Küche die Schöpfkellen und Siebe mit einem irrwitzigen Getöse von der Herdklappe, wo sie gewöhnlich an einem dort befestigten Haken hingen, weil in den Schubladen des Küchenschranks kein Platz mehr war.

Mir kam es in diesem Augenblick so vor, als hätte jemand die Tür zum Fluß hin geöffnet, der mit seinen nebligen Geisterfingern in der Luft herumtastete. Die Temperatur der Wohnung fiel merklich in Regionen, die uns alle frösteln ließ. Selbst die Möbel zitterten und drängten sich wie Schafe dicht aneinander.

Carlos und Noob saßen um den Wohnzimmertisch herum und rauchten ihre Zigaretten. Sie sagten kein Wort, aber ihre Augen rollten in ihren wässrigen Becken, gespannt auf das nächste Ereignis.

Ich selbst saß nicht weit von ihnen entfernt auf dem Boden und lauschte den Fledermäusen, die den Wagen des Psychopompos zogen, um Dorotheas Seele zur letzten Fähre zu begleiten. In die Stille, die stets nach einem lauten Knall folgte, mischte sich das Geräusch nahender oder sich entfernender Schwingen, die für gewöhnliche Menschen unhörbar waren.

In unserer Familie war der Tod ein ungewöhnlich massiver Einbruch, womöglich der Preis für die Langlebigkeit, die neben der Unsterblichkeit, die kaum je zu erreichen ist, sämtliche Übergänge in ein anderes Stadium zu einem Gewaltakt herabwürdigte.

Diese Kommunikation mit dem Jenseits, die nicht über gewöhnliche Kanäle stattfand, widersprach aller physikalischen Logik, mit der ich mich zum Beispiel in unserer institutionellen und erlebnisarmen Schule auseinandersetzen musste. Nie hätte ich gewagt, dort von gänzlich anderen Wahrnehmungen zu sprechen als von hinlänglich akzeptierten. Mich über den Animismus auszulassen, dem ich in meinen jungen Jahren bereits häufig als Zeuge beiwohnte, hätte mich arg in Bedrängnis gebracht. Meine Mitschüler waren allesamt wahre Erben und zukünftige Säulen unserer fehlerhaft eingerichteten Welt. Ihre Naturgesetze waren als ein loses Sicherheitsnetz angelegt, nicht zwingend falsch, aber doch unzulänglich und oft genug fadenscheinig.

In der Nähe des Flusses zu leben bedeutete, über die Jahrhunderte hinweg seine Dunkelheit zu respektieren. Es bedeutete auch, daß wir nach Einbruch der Dunkelheit kein Wasser mehr schöpften, um nicht irrtümlich Geister mit den Kannen gefangen zu nehmen. Wir wussten nicht, was die Folgen gewesen wären, aber eine unbedachte Störung der mächtigen Elemente hätte durchaus ein mörderisches Chaos auslösen können, das ebenso willkürlich unter die Menschen fahren konnte, wie unsere Kannen in das dämmrige Naß. Und keiner hätte auch nur geahnt, daß seine Auslöschung von unserem Fehlverhalten herrührte. Es mag sein, daß es uns gar nicht gekümmert hätte, wenn die Dämme gebrochen wären oder die Luft nicht mehr zum Atmen reichte, aber wir lebten gerne hier und wollten keine unliebsamen Vorkommnisse provozieren.

Manchmal konnte man in der nebligen Dämmerung des Ufers die übergroßen Gestalten der Bisamratten beobachten, die dem Flößer der Toten den Weg ebneten. Außerdem reinigten sie die Oberfläche des Wassers von Ästen und losem Schilf. Es waren durchweg beeindruckende Lebewesen, die mit dem dunklen Naß und dem Treibgut verschmolzen, mächtige Schatten, die geschäftig und geräuschlos durch das schwarzgrüne Wasser trieben. Den Flößer selbst hatte noch niemand gesehen, aber man konnte ihn staken hören. Unsere Neugier wäre unaufrichtig gewesen, denn wir hätten das, was wir vielleicht zu erkennen glaubten, nicht verstanden. Es gibt Dinge, die dem menschlichen Auge nicht zugänglich sind. Im günstigsten Fall sieht der heimliche Beobachter von Geheimnissen nichts, er schaut durch das Mysterium hindurch oder daran vorbei, und er sollte froh darüber sein.

Carisma stand in der Küche und bereitete das Abendessen. Sie formte ungerührt Kartoffelklöße. »Das gibt es schon lange in unserer Familie«, sagte sie, und es war klar, daß sie mich dabei ansprach, auch wenn sie mich nicht ansah. Sie spürte, daß ich auf der gleichen Frequenz lag, während Carl und Noob abhängig waren von ihren Erklärungen. Die beiden starrten auf den Bildschirm, auf dem die Welt unbeeindruckt vorüber zog. Kein Grund, innezuhalten.

»Jetzt ist alles nur noch schwarzweiß«, sagte Carl. Noob erhob sich von seinem knarzenden Stuhl, der ihn seit Jahren duldsam ertrug, um gegen das Gehäuse zu boxen, doch das Bild blieb ein Schattenspiel. Farbe ist dazu angehalten, harte Konturen zu eliminieren, die Sinne vom Wesentlichen abzuhalten, vielleicht ist die Farbe im Bild auch nur die Wegzehrung eines scheidenden Geistes.

In der Küche hängte Carisma die Schöpfkellen wieder an ihren Platz. Ich wusste, was alle wussten, obwohl es noch niemand angesprochen hatte. Uns allen wuchs dieses Organ, das gewöhnlich nur bei Haien und Rochen vorkommt, bestehend aus Ampullen und einem langen, mit einer gallertartigen Substanz gefüllten Kanal, der jeweils in einer Pore endet.

Trotz der fehlenden Beweise bin ich noch heute der Meinung, daß sich alle Lebewesen durch elektrische Felder miteinander verständigen können. Nicht nur untereinander, sondern auch mit Dingen, denen wir eigentlich kein Leben zuerkennen.

»Es ist das Auge, mit dem man den Schleier der Isis durchschaut, ihn nicht wegreißt – man demütigt keine Göttin – ihn durchschaut wie ein Negligé.« Christinas zappelnde Finger bildeten ein Oval, das bereits dem angestrebten Knödel ähnelte. Wasserdampf wallte aus den Töpfen, beschlug die Zierscheibe der Salontüre, an die es leise klopfte, als Frau Kuruck das Telefongespräch ankündigte, auf das wir alle schon gewartet hatten. Ihr Auftritt strotzte nur so vor Kraft, die von ihren immer auf Treppen marschierenden Waden herrührte. Dennoch versuchte sie, sich angemessen zu verhalten, was bei einem Koloß ihrer Größe ein gewaltiges Maß an Körperbeherrschung voraussetzte. Wir besaßen ja kein eigenes Telefon, also brachen sämtliche Nachrichten durch unsere Vermieterin zu uns herein, die dadurch zu einem nicht geringen Teil unser Leben außerhalb mitorganisierte.

Bevor ich meinen ersten eigenen Weg durch das Dickicht des Lebens fand, entdeckte ich vor Dorotheas Haus die Wasseradern, die verdrehten, arthritischen Knoten der Grashalme, die wie grüngelbe Fingerglieder aus der Erde ragten. Wasser drückte sich durch festes Erdreich und Felsgestein. Dadurch entstand Reibungselektrizität, das Rheuma der Landschaft, die ich so faszinierend fand, weil sie die wilde, karge Schönheit abseits angelegter Parks repräsentierte. Das Land flutete um die Menschen, die hier lebten, und bildete sie aus, so daß sie heranwuchsen wie verdrehte Bäume, ausufernde Büsche oder ihre Gesichter aussahen wie Pfützengründe. Das unterschied uns von den Menschen in der Stadt, zu denen wir nie einen Zugang gefunden hatten. Ihre Oberflächlichkeit war nicht die unsrige. Unsere Feste ähnelten einander zwar, aber die Unterschiede waren wie ein Manifest der Ernsthaftigkeit gezeichnet. Selbst das vergnüglichste Gelage bekam dadurch einen philosophischen Anspruch. Auch kehrten wir natürlich nicht zum Staub zurück, was den größten Unterschied markierte, wenn man voraussetzt, daß eine Kultur immer eine Grabkultur ist.

Dorothea war meine Urgroßmutter, so weit von mir und meinen Gedanken entfernt wie der Inhalt eines Geschichtsbuches; die Pyramiden oder Babylon. In ihrer Gegenwart spürte ich das kolossale Gewicht der Zeit, die eigentliche Idee menschlicher Vergänglichkeit.

Sie hatte ihr Leben gelassen in ihrer Dachkammer, der Ofen auf 43 Grad hochgeheizt. Uhren meißelten den Augenblick des Übertritts wie Spieldosen, denen die Feder entwischt, in das Mark einer grauen Materie, Teller und Tassen sprangen entzwei, Brot wurde schimmlig, die Milch sauer. Vakuumierte Zeichen in einer Kette der Ereignisse.

Carl nahm das Gespräch entgegen, die einbalsamierte Nachricht, verkündet von der von der Anteilnahme losgelösten, dennoch aufgelösten Stimme, die aus der Plastikschale drang. Als er zurückkehrte, teilte er uns mit, daß die Lieferung prompt erfolgen würde. Carisma bereitete also keinen außerplanmäßigen Braten vor, sondern den Leichenschmaus!

Noob saß auf seinem Stuhl und rauchte gegen die Fliegen an, die in seinem wattigen Haar das Nest ihrer Vorfahren erkannten.

Als es läutete, war das Essen bereits fertig und der feierliche Fleischgeruch eroberte ohne weitere Verzögerung die letzten Winkel des ganzen Hauses. Nur einige Geruchspartisanen, die sich in dem Duftwasser verbargen, das Carl jeden Morgen über seine von der Sonne braun gebackenen Wangen rieb, wehrten sich gegen die drohende Niederlage, verschanzten sich im steifen Kragen seines Hemdes.

Dorothea, eingenäht in Werg und Linnen, wurde über die engen Ringelstufen nach unten transportiert. Eine ägyptische Göttin, der das Mahl gewidmet war, an dem auch die beiden Träger teilnehmen sollten, die sich lobend über die Gerüche äußerten.

»Ah! Schwarzweiß!«, sagte einer von ihnen, als er den Fernseher sah. Noob blickte durch eine blaue Wolke zu den beiden hin, wie sie mit der eingewickelten Dorothea in ihrer Mitte darauf warteten, einen Platz zugewiesen zu bekommen.

»Das ging schnell«, sagte Carl anerkennend. »Setzen Sie sich doch einstweilen auf die Couch. Meine Frau wird Sie gleich richtig zuweisen.«

Etwas unbeholfen ließen sich die beiden Träger nieder, wobei sie den Leichnam Dorotheas in nahezu jede erdenkliche Position brachten, bis sie endlich saßen und den unhandlichen Sack so über ihren Beinen drapiert hatten, daß es nicht allzu obszön wirkte. Carlos wartete geduldig, bis das Rascheln und Knacken der Gliedmaßen, die gegen Wäsche rieben, ein Ende nahm, bevor er fragte: »Tauschen wir unsere Namen aus?«

Die beiden in schwarz gekleideten Männer mit dem geschulten wehleidigen Blick nickten.

»Nun, also, ich bin Carl, der Ehemann der sich in Trauer befindlichen Tochter der Verstorbenen. Das…« Er deutete wage auf Noob, »…ist mein Sohn Noob, und mein Enkel Adam. Die Dame des Hauses, besagte Tochter der Verstorbenen, wird auch gleich hier sein.«

»Mein Name ist Bernd Zewereit, mit einem langen »e«. Ich bin ein formeller Träger von Leichen, die wir in Werg eingenäht liefern. Mein Kollege…« Er sah seinen noch dünneren Kollegen von der Seite an. »Wenn ich für dich sprechen darf…« Er erntete ein betuliches Nicken. »Mein Kollege ist eigentlich ein Schürmeister, aber er sucht nach neuen Herausforderungen. So eine Hausbestattung, davon bin ich überzeugt, kann ihm da nur gut tun. Hier sind Einblicke möglich, die man in unseren Breitengraden seit Jahrhunderten nicht mehr kennt. Nun, sein Name ist Forkus. Ich darf doch sagen, daß man dich Forkus nennt?«

»Man nennt mich Forkus«, bestätigte der Schürmeister.

An den richtete Carl seine Empfehlung. »Sie tun gut daran, dieser Zeremonie beizuwohnen. Sie werden ja wohl wissen, daß unsere Verstorbene ohnehin nicht brennt?«

»Gewiß! Ich wurde in die Verhältnisse der Langlebigkeit und der daraus resultierenden… nun, ungewöhnlichen Handhabung eingeweiht.«

»Zuerst wird gegessen!« Carl klatschte in die Hände. »Und danach können Sie mithelfen, die Folie überall auszulegen, vielleicht nützt es ja was … ah, da ist sie ja!«

Carisma wischte sich die Hände an ihrer Schürze trocken, bevor sie die beiden Männer begrüßte. »Bleiben Sie sitzen, um Gotteswillen; das wäre ja zu viel verlangt, zusammen mit Dora … mit meiner Mutter…!«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, wenn man das unter diesen Umständen behaupten darf«, sagte Zwereit und blickte sie ehrfurchtsvoll an, die Hände lagen brav auf seinem Teil des Leichnams.

»Die Umstände sind nicht von der Hand zu weisen.« Sie schielte zum Schürmeister, wartete.

»Ich bin Jakob Gabel, aber Sie dürfen mich Forkus nennen. Eigentlich Schürmeister, wenn ich das sagen darf.« Er reichte Carisma eine leblose Hand.

»Mit Feuer tun Sie sich keinen großen Gefallen. Das Urelement des Lebens ist Wasser.«

Forkus nickte unterwürfig. »Ich will Sie mit meinem Beruf keineswegs beleidigen, wir sind ja mit allen Elementen vertraut.«

»Ach ja? Was ist mit Luft?«

»Also… Luft. Wir haben da…«

»Luft nennen wir die etwas abgewandelte Bestattung mithilfe der Chemie«, fiel ihm Zewereit ins Wort, und als Carisma ihn ansah, fuhr er fort : »Den Prozess nennen wir den des sich Verflüchtigens.«

»Sie meinen das hoffentlich ohne Pathos. Ich wünsche keine Parteilichkeit gegenüber anderen Elementen. Ich hoffe, wir verstehen uns.«

»Oh, sicher. Nur weil das Gespräch nun einmal diese Richtung nahm, nur deshalb…«

»Die Farbe ist wieder da!« Noob versuchte, seiner Stimme jenen unbeteiligten Ton zu geben, den er am allerbesten beherrschte, aber irgendwie schlich sich doch so etwas wie Freude ein, die der Stimmung jedoch keinesfalls abträglich war.

Ich verhielt mich die ganze Zeit über still und beobachtete die Vorbereitungen eher desinteressiert. Stattdessen dachte ich lebhaft an die eindrucksvolle letzte Aufwartung, die ich Dorothea gemacht hatte. Es lag in der Natur der Dinge, daß ich sie ausschließlich steinalt kannte. Wie von allem Alten ging auch von ihr etwas Mysteriöses aus. Ich war mir sicher, daß sie ein Geheimnis barg, von dem niemand etwas wusste. Das war töricht, schließlich kannte ich sie doch am allerwenigsten. Mit diesem Geheimnis meinte ich keinesfalls ihre Langlebigkeit, die war in unserer Familie nichts Ungewöhnliches, obwohl längst nicht jeder damit gesegnet oder, wenn man so will: beladen war. Auf mich wirkte sie wie ein ausgedörrtes Holzscheit, das sämtliche Flüssigkeit verloren hatte, und das von einem Schnitzer mit Armen, Beinen und einem Gesicht versehen worden war. Das Besondere an ihr aber waren die Augen, die so tief in ihren Höhlen lagen, daß man kaum Luft bekam, wenn man in sie hineinsah. Schwarz wie die dunkelste Vergangenheit waren sie. Sie glühten beinahe verächtlich, wenn sie mit einem heranblühenden Leben konfrontiert wurden. In ihrer Gegenwart hatte ich mich gleichzeitig beklommen und wohl gefühlt, in Sicherheit und aufs Äußerste gefährdet.

Jetzt sehe ich die Landkarte ihres Gesichts deutlicher als bei unserer letzten Begegnung. Täler, Flußläufe, Wälder und Heiden, ganz unberührt vom Faltenwurf der Kontinentaldrift. Wer war sie, diese gelbhaarige Frau, die schwieg, am Fenster schwieg, in mein junges Gesicht schwieg, auf mein Leben hinabblickte, auf die Pappel, unter der ihr Gemahl einst vom Schlag getroffen niedergesunken war?

»Was willst du?«, schien sie zu sagen, sagte in Wirklichkeit aber nichts. »Ich habe gelebt. Wird dir das auch gelingen in dieser unguten Zeit?«

Sie trottete in dieser Dachkammer auf und ab, um Bewegung zu simulieren, blickte dann und wann wieder aus dem Fenster. Von dort würden eines Tages die beiden Träger über die Felder kommen, ganz in schwarz gekleidet und unpersönlich. Lebendig und abstoßend wie Maden oder Totenfliegen. Sie würden sie in ein Leinentuch einwickeln und aus dem Haus schaffen, nur um sie in ein anderes zu bringen.

Ich stand wie angewurzelt da und beobachtete ihr Epiphytenhaar. Hier oben in ihrer Kammer unter dem Dach war es heiß. Die reichlichen Harnniederschläge verteilten sich gleichmäßig als Geruchsimpression, die Luftfeuchtigkeit blieb ständig hoch und erreichte den Sättigungswert. Sie sah nichts da draußen, was sie nicht kannte. Die Poren der Erdoberfläche, die wandernden Grasbüschel, die Baumreihen, die mit ihr aufgewachsen waren.

Wir waren unfähig, uns zu verständig, denn wir sprachen nicht die gleiche Sprache. Wenn Dorothea, die Herbstzeitlose, von einer Wiese redete, handelte es sich um keine Wiese, die ich kannte, denn sie sprach von einer Wiese aus einer anderen Zeit, und diese Zeit, die in nackten Zahlen ausgedrückt wird, ist nicht die Zeit, die ein vergangenes Jetzt auszudrücken vermag. Sobald wir ›anno‹ sagen, reden wir uns aus unserem persönlichen Universum heraus. Dorothea war näher dran an des Menschen amphibischer Herkunft als ich. Wie es wohl wäre, mit einem Fisch zu sprechen?

Sie blickte bereits hinaus zu Ägir, der die Wellen antreibt, und wenn nirgendwo mehr Wasser ist, versteinert. Ihr Körper, der die Last noch trägt, weil ein gewisser Gedanke noch nicht zu Ende gedacht, weil ein gewisses Wort noch nicht gesagt wurde.

»Ich sehe dich nicht, aber ich bin nicht blind. Ich weiß sehr wohl, daß du hier stehst, wer du bist. Ich kann mir nur nicht vorstellen, was du tust. Du lebst in einer Welt, in der ich bereits tot bin. Ich kann nicht mit dir über ein gemeinsames Necken lachen, ich kann nicht schmecken was du schmeckst.«

Erinnerte sie sich daran, wie sie als junges Mädchen über grüne Wiesen hüpfte, an ihren ersten Kuss hinter der stillgelegten Steinmühle, im Dickicht kommender Jahrzehnte? Ich konnte mir nicht vorstellen, wie meine Urgroßmutter jemand Mutter nannte. Und in diesem Augenblick sagte sie : »Mutter!« Sie krallte sich am Fensterbrett fest, und ich stand wie angewurzelt vor der Scheibe. Was sah sie da draußen, wo nichts als Wiese ist?

Plötzlich schwebten Myriaden kleiner Wassertropfen, die ich nur als einen dichten Nebel wahrnehmen konnte, durch den Raum. Nur, daß es sich dabei nicht um Wassertropfen handelte, sondern um Sekunden. In jeder dieser Miniperlen steckten Informationen der vergangenen Zeit. Randvoll waren sie mit dem Blut des ausgesaugten Weltgeschehens, übernahmen die Arbeit saftgeiler Mücken, speicherten in ihrem Abdomen Geschichten und Kombinationen, jede für sich betrachtet unendlich, jede fahrige Bewegung speichernd, in Kohorten durch den Raum schwebend.

Alles, was man zu tun hatte war, diesen Zeitenkelch zu befeuern, so daß die Zeit auch tatsächlich verdunsten konnte.

»Wie viele von diesen Kelchen mag es geben?«, fragte ich die alte Frau dort am Fenster. Ich erinnere mich, daß dies die erste Frage war, die ich wirklich laut ausgesprochen hatte. Auch ihre Antwort war das einzige, was sie je zu mir sagte.

»So viele du willst. Es tut mir leid, ich muß mich jetzt hinlegen.«

Nachdem wir alle gegessen hatten, legten wir die Folie aus. Dorothea legten wir mitten darauf auf den Boden. Die elektrischen Geräte wurden abgestellt und ausgesteckt. Carisma öffnete den Sack, fasste ihrer toten Mutter durch die ordentlich gekämmten Haare an den Hinterkopf und zog den »Stöpsel«. Innerhalb von nur wenigen Augenblicken rauschte das Wasser heran. Hähne begannen zu tropfen, der Fluß trat über die Ufer, und ich bemerkte, daß mein Blut in Aufruhr geriet und ich einen ungeheuren Druck auf der Blase hatte. Die Heizungsventile zischten. Alle Wasser der Umgebung strömten auf Dorotheas Hinterkopf zu und verwandelten sich dort in die schweren Wasser der Kometen, Monde, und in unsere irdischen Ozeane. Dorothea selbst verlor ihre letzten Gesichtszüge und löste sich im Wogen der Wassermassen auf, bis all ihre Moleküle davongetragen worden waren, um sich mit dem Urozean, der sich über die ganze Welt erstreckt, zu verbinden.

Wir benötigten fast zwei ganze Woche, um den entstandenen Schaden in der Wohnung zu beseitigen, und auch aus der Nachbarschaft hörten wir, daß ihr unsere Sterbezeremonien eindeutig zu weit gingen.

Gib den ersten Kommentar ab

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert