Als Dorothea das Zeitliche segnete, fielen in der Küche die Schöpfkellen und Siebe mit irrwitzigem Getöse von der Herdklappe, an der sie gewöhnlich an einem Haken hingen, weil in den Schubladen des Küchenschranks kein Platz mehr war.
In diesem Augenblick kam es mir so vor, als hätte jemand die Tür zum Fluss hin geöffnet und mit nebligen Geisterfingern in der Luft herumgetastet. Die Temperatur in der Wohnung fiel merklich, sodass wir alle fröstelten. Selbst die Möbel zitterten und drängten sich wie Schafe dicht aneinander.
Carlos und Noob saßen am Wohnzimmertisch und rauchten. Sie sagten kein Wort, aber ihre Augen rollten in ihren wässrigen Höhlen und waren gespannt auf das nächste Ereignis.
Ich saß nicht weit von ihnen entfernt auf dem Boden und lauschte den Fledermäusen, die den Wagen des Psychopompos zogen, um Dorotheas Seele zur letzten Fähre zu bringen. In die Stille, die stets einem lauten Knall folgte, mischte sich das Geräusch nahender oder sich entfernender Schwingen, das für gewöhnliche Menschen unhörbar war.
In unserer Familie war der Tod ein ungewöhnlich massiver Einbruch, womöglich der Preis für die Langlebigkeit, die neben der Unsterblichkeit, die kaum je zu erreichen ist, sämtliche Übergänge in ein anderes Stadium zu einem Gewaltakt herabwürdigte.
Diese Kommunikation mit dem Jenseits, die nicht über gewöhnliche Kanäle stattfand, widersprach der physikalischen Logik, mit der ich mich beispielsweise in unserer institutionellen, erlebnisarmen Schule auseinandersetzen musste. Ich hätte mich nie getraut, dort von gänzlich anderen Wahrnehmungen als den hinlänglich akzeptierten zu sprechen. Wenn ich mich über den Animismus ausgelassen hätte, dem ich in meinen jungen Jahren bereits häufig als Zeuge beiwohnte, hätte mich das in große Bedrängnis gebracht. Meine Mitschüler waren allesamt wahre Erben und zukünftige Säulen unserer fehlerhaft eingerichteten Welt. Ihre Naturgesetze waren wie ein loses Sicherheitsnetz angelegt: nicht zwingend falsch, aber unzulänglich und oft genug fadenscheinig.
In der Nähe des Flusses zu leben, bedeutete über die Jahrhunderte hinweg, seine Dunkelheit zu respektieren. Das hieß auch, dass wir nach Einbruch der Dunkelheit kein Wasser mehr schöpften, um nicht irrtümlicherweise Geister in den Kannen einzufangen. Wir wussten nicht, welche Folgen das gehabt hätte, aber eine unbedachte Störung der mächtigen Elemente hätte durchaus ein mörderisches Chaos auslösen können, das ebenso willkürlich unter die Menschen fahren konnte wie unsere Kannen in das dämmrige Nass. Und niemand hätte geahnt, dass seine Auslöschung auf unser Fehlverhalten zurückzuführen war. Es mag sein, dass es uns gar nicht gekümmert hätte, wenn die Dämme gebrochen wären oder die Luft zum Atmen nicht mehr gereicht hätte, aber wir lebten gerne hier und wollten keine unliebsamen Vorkommnisse provozieren.
Manchmal konnte man in der nebligen Dämmerung am Ufer die übergroßen Gestalten der Bisamratten beobachten. Sie ebneten dem Flößer der Toten den Weg. Außerdem reinigten sie die Wasseroberfläche von Ästen und losem Schilf. Es waren beeindruckende Lebewesen, die mit dem dunklen Nass und dem Treibgut verschmolzen. Mächtige Schatten, die geschäftig und geräuschlos durch das schwarzgrüne Wasser trieben. Den Flößer selbst hatte noch niemand gesehen, aber man konnte ihn staken hören. Unsere Neugier wäre unaufrichtig gewesen, denn wir hätten das, was wir vielleicht zu erkennen glaubten, nicht verstanden. Es gibt Dinge, die dem menschlichen Auge nicht zugänglich sind. Im günstigsten Fall sieht der heimliche Beobachter von Geheimnissen nichts; er schaut durch das Mysterium hindurch oder daran vorbei – und sollte froh darüber sein.
Carisma stand in der Küche und bereitete das Abendessen zu. Sie formte ungerührt Kartoffelklöße. „Das gibt es schon lange in unserer Familie“, sagte sie und sah mich dabei nicht an, aber es war klar, dass sie mich ansprach. Sie spürte, dass ich auf derselben Wellenlänge lag, während Carl und Noob von ihren Erklärungen abhängig waren. Die beiden starrten auf den Bildschirm, auf dem die Welt unbeeindruckt vorüberzog. Kein Grund, innezuhalten.
„Jetzt ist alles nur noch schwarz-weiß“, sagte Carl. Noob erhob sich von seinem knarzenden Stuhl, der ihn seit Jahren duldsam ertrug, und boxte gegen das Gehäuse, doch das Bild blieb ein Schattenspiel. Farbe ist dazu angehalten, harte Konturen zu eliminieren und die Sinne vom Wesentlichen abzuhalten. Vielleicht ist die Farbe im Bild auch nur die Wegzehrung eines scheidenden Geistes.
In der Küche hängte Carisma die Schöpfkellen wieder an ihren Platz. Ich wusste, was alle wussten, obwohl noch niemand das Thema angesprochen hatte. Uns allen wuchs dieses Organ, das gewöhnlich nur bei Haien und Rochen vorkommt und aus Ampullen sowie einem langen, mit einer gallertartigen Substanz gefüllten Kanal besteht, der jeweils in einer Pore endet.
Trotz fehlender Beweise bin ich noch heute der Meinung, dass sich alle Lebewesen durch elektrische Felder miteinander verständigen können. Nicht nur untereinander, sondern auch mit Dingen, denen wir kein Leben zuschreiben.
„Es ist das Auge, mit dem man den Schleier der Isis durchschaut, ohne ihn wegzureißen – man demütigt keine Göttin –, ihn durchschaut wie ein Negligé.“ Christinas zappelnde Finger bildeten ein Oval, das bereits dem angestrebten Knödel ähnelte. Wasserdampf wallte aus den Töpfen und beschlug die Zierscheibe der Salontür, an die es leise klopfte. Frau Kuruck kündigte das Telefongespräch an, auf das wir alle schon gewartet hatten. Ihr Auftritt strotzte nur so vor Kraft, die von ihren immer auf Treppen marschierenden Waden herrührte. Dennoch versuchte sie, sich angemessen zu verhalten, was bei ihrer Größe ein gewaltiges Maß an Körperbeherrschung voraussetzte. Da wir kein eigenes Telefon besaßen, erreichten uns sämtliche Nachrichten über unsere Vermieterin, die dadurch zu einem nicht geringen Teil unser Leben außerhalb mitorganisierte.
Bevor ich meinen eigenen Weg durch das Dickicht des Lebens fand, entdeckte ich vor Dorotheas Haus die Wasseradern: verdrehte, arthritische Knoten, die wie grüngelbe Fingerglieder aus der Erde ragten. Wasser drückte sich durch festes Erdreich und Felsgestein. Dadurch entstand Reibungselektrizität – das Rheuma der Landschaft –, das ich so faszinierend fand, weil es die wilde, karge Schönheit abseits angelegter Parks repräsentierte. Das Land flutete um die Menschen, die hier lebten, und formte sie, sodass sie heranwuchsen wie verdrehte Bäume oder ausufernde Büsche. Ihre Gesichter sahen aus wie Pfützengründe. Das unterschied uns von den Menschen in der Stadt, zu denen wir nie einen Zugang gefunden hatten. Ihre Oberflächlichkeit war nicht die unsere. Unsere Feste ähnelten zwar einander, aber die Unterschiede waren wie ein Manifest der Ernsthaftigkeit gezeichnet. Selbst das vergnüglichste Gelage bekam dadurch einen philosophischen Anspruch. Auch kehrten wir natürlich nicht zum Staub zurück, was den größten Unterschied markierte – vorausgesetzt, man geht davon aus, dass eine Kultur immer eine Grabkultur ist.
Dorothea war meine Urgroßmutter. Sie war so weit von mir und meinen Gedanken entfernt wie der Inhalt eines Geschichtsbuches, die Pyramiden oder Babylon. In ihrer Gegenwart spürte ich das kolossale Gewicht der Zeit und die Idee der menschlichen Vergänglichkeit.
Sie hatte ihr Leben in ihrer Dachkammer gelassen, den Ofen auf 43 Grad hochgeheizt. Uhren meißelten den Augenblick des Übergangs wie Spieldosen, denen die Feder entwischt, ins Mark einer grauen Materie. Teller und Tassen sprangen entzwei, Brot schimmelte, Milch wurde sauer. Vakuumierte Zeichen in einer Kette von Ereignissen.
Carl nahm das Gespräch entgegen. Die einbalsamierte Nachricht wurde von einer von Anteilnahme losgelösten, dennoch aufgelösten Stimme verkündet, die aus der Plastikschale drang. Als er zurückkam, teilte er uns mit, dass die Lieferung prompt erfolgen würde. Carisma bereitete also keinen außerplanmäßigen Braten, sondern den Leichenschmaus vor!
Noob saß auf seinem Stuhl und rauchte gegen die Fliegen an, die in seinem wattigen Haar das Nest ihrer Vorfahren erkannten.
Als es läutete, war das Essen bereits fertig, und der feierliche Fleischgeruch eroberte ohne weitere Verzögerung die letzten Winkel des ganzen Hauses. Nur einige Geruchspartisanen, die sich in dem Duftwasser verbargen, das Carl jeden Morgen über seine von der Sonne braun gebackenen Wangen rieb, wehrten sich gegen die drohende Niederlage und verschanzten sich im steifen Kragen seines Hemdes.
Dorothea, eingenäht in Werg und Leinen, wurde über die engen Ringelstufen nach unten transportiert. Sie war eine ägyptische Göttin, der das Mahl gewidmet war. Auch die beiden Träger, die sich lobend über die Gerüche äußerten, sollten daran teilnehmen.
„Ah, Schwarzweiß!“, sagte einer von ihnen, als er den Fernseher sah. Noob blickte durch eine blaue Wolke zu den beiden hinüber. Sie warteten mit der eingewickelten Dorothea in ihrer Mitte darauf, einen Platz zugewiesen zu bekommen.
„Das ging schnell“, sagte Carl anerkennend. „Setzen Sie sich doch einstweilen auf die Couch. Meine Frau wird Sie gleich richtig zuweisen.“
Etwas unbeholfen ließen sich die beiden Träger nieder, wobei sie den Leichnam Dorotheas in nahezu jede erdenkliche Position brachten, bis sie endlich saßen und den unhandlichen Sack so über ihren Beinen drapiert hatten, dass es nicht allzu obszön wirkte. Carlos wartete geduldig, bis das Rascheln und Knacken der Gliedmaßen, die aneinanderrieben, ein Ende genommen hatte, bevor er fragte: „Tauschen wir unsere Namen aus?”
Die beiden in Schwarz gekleideten Männer mit dem geschulten, wehleidigen Blick nickten.
„Nun, also, ich bin Carl, der Ehemann der trauernden Tochter der Verstorbenen. Das …“ Er deutete vage auf Noob und sagte: „Das ist mein Sohn Noob und mein Enkel Adam. Die Dame des Hauses, besagte Tochter der Verstorbenen, wird auch gleich hier sein.“
„Mein Name ist Bernd Zewereit, mit einem langen ‚e‘. Ich bin ein formeller Träger von Leichen, die wir in Wäsche eingenäht liefern. Mein Kollege …“ Er sah seinen noch dünneren Kollegen von der Seite an. „Wenn ich für dich sprechen darf …” Er erntete ein zustimmendes Nicken. „Mein Kollege ist eigentlich Schürmeister, aber er sucht nach neuen Herausforderungen. So eine Hausbestattung kann ihm da, davon bin ich überzeugt, nur gut tun. Hier sind Einblicke möglich, die es in unseren Breitengraden seit Jahrhunderten nicht mehr gibt. Nun, sein Name ist Forkus. Darf ich dich Forkus nennen?“
„Man nennt mich Forkus“, bestätigte der Schürmeister.
An diese Person richtete Carl seine Empfehlung. „Sie tun gut daran, dieser Zeremonie beizuwohnen. Sie werden ja wohl wissen, dass unsere Verstorbene ohnehin nicht brennt?“
„Gewiss! Ich wurde in die Verhältnisse der Langlebigkeit und der daraus resultierenden … nun, der ungewöhnlichen Handhabung eingeweiht.“
„Zuerst wird gegessen!“ Carl klatschte in die Hände. »Und danach können Sie mithelfen, die Folie überall auszulegen. Vielleicht nützt es ja was … Ah, da ist sie ja!“
Carisma wischte sich die Hände an ihrer Schürze trocken, bevor sie die beiden Männer begrüßte. »Bleiben Sie sitzen, um Gottes willen! Das wäre ja zu viel verlangt, zusammen mit Dora … mit meiner Mutter …!“
»Freut mich, Sie kennenzulernen, wenn man das unter diesen Umständen behaupten darf«, sagte Zwereit und blickte sie ehrfurchtsvoll an. Die Hände lagen brav auf seinem Teil des Leichnams.
„Die Umstände sind nicht von der Hand zu weisen.“ Sie schielte zum Schürmeister und wartete.
„Ich bin Jakob Gabel, aber Sie dürfen mich Forkus nennen. Eigentlich bin ich Schürmeister, wenn ich das sagen darf.“ Er reichte Carisma eine leblose Hand.
„Mit Feuer tun Sie sich keinen großen Gefallen. Das Urelement des Lebens ist Wasser.“
Forkus nickte unterwürfig. »Ich will Sie mit meinem Beruf keineswegs beleidigen, wir sind schließlich mit allen Elementen vertraut.«
„Ach ja? Und was ist mit Luft?“
„Also … Luft. Wir haben da …“
„Luft nennen wir die etwas abgewandelte Bestattung mithilfe der Chemie“, fiel ihm Zewereit ins Wort. Als Carisma ihn ansah, fuhr er fort: „Den Prozess nennen wir Verflüchtigung.“
„Ich hoffe, Sie meinen das ohne Pathos. Ich wünsche mir keine Parteilichkeit gegenüber anderen Elementen. Ich hoffe, wir verstehen uns.“
„Oh, sicher. Nur weil das Gespräch nun einmal diese Richtung nahm …“
„Die Farbe ist wieder da!“ Noob versuchte, seiner Stimme jenen unbeteiligten Ton zu geben, den er am besten beherrschte. Irgendwie schlich sich jedoch so etwas wie Freude ein, was der Stimmung jedoch keinesfalls abträglich war.
Die ganze Zeit über verhielt ich mich still und beobachtete die Vorbereitungen eher desinteressiert. Stattdessen dachte ich lebhaft an die eindrucksvolle letzte Begegnung, die ich mit Dorothea gehabt hatte. Es lag in der Natur der Dinge, dass ich sie nur steinalt kannte. Wie von allem Alten ging auch von ihr etwas Mysteriöses aus. Ich war mir sicher, dass sie ein Geheimnis barg, von dem niemand etwas wusste. Das war töricht, schließlich kannte ich sie am wenigsten von allen. Mit diesem Geheimnis meinte ich keinesfalls ihre Langlebigkeit. Die war in unserer Familie nichts Ungewöhnliches, wenn auch längst nicht jeder damit „gesegnet” war. Sie wirkte auf mich wie ein ausgedörrtes Holzscheit, das sämtliche Flüssigkeit verloren hatte und von einem Schnitzer mit Armen, Beinen und einem Gesicht versehen worden war. Besonders waren ihre Augen, die so tief in ihren Höhlen lagen, dass man kaum Luft bekam, wenn man in sie hineinsah. Sie waren schwarz wie die dunkelste Vergangenheit. Sie glühten beinahe verächtlich, wenn sie mit einem heranblühenden Leben konfrontiert wurden. In ihrer Gegenwart hatte ich mich gleichzeitig beklommen und wohl gefühlt, in Sicherheit und äußerst gefährdet.
Jetzt sehe ich die Landkarte ihres Gesichts deutlicher als bei unserer letzten Begegnung. Täler, Flussläufe, Wälder und Heiden, die vom Faltenwurf der Kontinentaldrift unberührt sind. Wer war sie, diese Frau mit den gelben Haaren, die am Fenster schwieg, in mein junges Gesicht schwieg, auf mein Leben hinabblickte, auf die Pappel, unter der ihr Gemahl einst vom Schlag getroffen niedergesunken war?
„Was willst du?“, schien sie zu sagen, sagte aber in Wirklichkeit nichts. „Ich habe gelebt. Wird dir das auch gelingen in dieser unguten Zeit?“
Sie trottete in dieser Dachkammer auf und ab, um Bewegung zu simulieren, und blickte dann und wann wieder aus dem Fenster. Von dort würden eines Tages die beiden Träger über die Felder kommen, ganz in Schwarz gekleidet und unpersönlich. Sie würden lebendig und abstoßend wie Maden oder Totenfliegen wirken. Sie würden sie in ein Leinentuch einwickeln und aus dem Haus schaffen, nur um sie in ein anderes zu bringen.
Ich stand wie angewurzelt da und beobachtete ihr Epiphytenhaar. Hier oben in ihrer Kammer unter dem Dach war es heiß. Die reichlichen Harnniederschläge verteilten sich gleichmäßig als Geruchsimpression und die Luftfeuchtigkeit blieb ständig hoch. Sie sah nichts da draußen, was ihr unbekannt war. Die Poren der Erdoberfläche, die wandernden Grasbüschel, die Baumreihen, mit denen sie aufgewachsen war.
Wir waren nicht in der Lage, uns zu verständigen, denn wir sprachen nicht die gleiche Sprache. Wenn Dorothea, die Herbstzeitlose, von einer Wiese redete, handelte es sich nicht um eine Wiese, die ich kannte. Sie sprach von einer Wiese aus einer anderen Zeit. Und diese Zeit, die sich in nackten Zahlen ausdrücken lässt, vermag nicht, ein vergangenes Jetzt auszudrücken. Sobald wir „anno” sagen, reden wir uns aus unserem persönlichen Universum heraus. Dorothea war der amphibischen Herkunft des Menschen näher als ich. Wie wäre es wohl, mit einem Fisch zu sprechen?
Sie blickte bereits hinaus zu Ägir, der die Wellen antreibt und wenn es kein Wasser mehr gibt, versteinert. Ihr Körper trägt noch die Last, weil ein gewisser Gedanke noch nicht zu Ende gedacht wurde, weil ein gewisses Wort noch nicht gesagt wurde.
„Ich sehe dich nicht, aber ich bin nicht blind. Ich weiß sehr wohl, dass du hier stehst und wer du bist. Ich kann mir nur nicht vorstellen, was du tust. Du lebst in einer Welt, in der ich bereits tot bin. Ich kann nicht mit dir über ein gemeinsames Necken lachen, ich kann nicht schmecken, was du schmeckst.“
Erinnerte sie sich daran, wie sie als junges Mädchen über grüne Wiesen hüpfte, an ihren ersten Kuss hinter der stillgelegten Steinmühle, im Dickicht kommender Jahrzehnte? Ich konnte mir nicht vorstellen, wie meine Urgroßmutter jemanden „Mutter” nannte. In diesem Augenblick sagte sie: „Mutter!” Sie krallte sich am Fensterbrett fest und ich stand wie angewurzelt vor der Scheibe. Was sah sie da draußen, wo doch nur Wiese ist?
Plötzlich schwebten Myriaden kleiner Wassertropfen durch den Raum, die ich nur als dichten Nebel wahrnehmen konnte. Es handelte sich dabei jedoch nicht um Wassertropfen, sondern um Sekunden. In jeder dieser Miniperlen steckten Informationen aus der Vergangenheit. Sie waren randvoll mit dem Blut des ausgesaugten Weltgeschehens, übernahmen die Arbeit saftgeiler Mücken, speicherten in ihrem Abdomen Geschichten und Kombinationen – jede für sich betrachtet unendlich –, jede fahrige Bewegung speichernd, in Kohorten durch den Raum schwebend.
Alles, was man tun musste, war, diesen Zeitenkelch zu befeuern, damit die Zeit tatsächlich verdunsten konnte.
„Wie viele von diesen Kelchen mag es geben?“, fragte ich die alte Frau am Fenster. Ich erinnere mich, dass dies die erste Frage war, die ich wirklich laut ausgesprochen hatte. Ihre Antwort war das Einzige, was sie je zu mir sagte.
„So viele, wie du willst. Es tut mir leid, ich muss mich jetzt hinlegen.“
Nachdem wir alle gegessen hatten, legten wir die Folie aus. Dorothea legten wir darauf auf den Boden. Die elektrischen Geräte wurden abgestellt und ausgesteckt. Carisma öffnete den Sack, fasste ihrer toten Mutter durch die ordentlich gekämmten Haare am Hinterkopf und zog den „Stöpsel”. Innerhalb von nur wenigen Augenblicken rauschte das Wasser heran. Die Hähne begannen zu tropfen, der Fluss trat über die Ufer und ich bemerkte, dass mein Blut in Aufruhr geriet und ich einen ungeheuren Druck auf der Blase hatte. Die Heizungsventile zischten. Alle Wasser der Umgebung strömten auf Dorotheas Hinterkopf zu und verwandelten sich dort in die schweren Wasser der Kometen und Monde sowie in unsere irdischen Ozeane. Dorothea selbst verlor ihre letzten Gesichtszüge und löste sich im Wogen der Wassermassen auf, bis alle ihre Moleküle davongetragen worden waren und sich mit dem Urozean verbanden, der sich über die ganze Welt erstreckt.
Es dauerte fast zwei ganze Wochen, bis wir den entstandenen Schaden in der Wohnung beseitigt hatten. Auch aus der Nachbarschaft hörten wir, dass unsere Sterbezeremonien eindeutig zu weit gingen.