Der Scherenschnitt als Okkupator

Das Haus stand vermutlich deshalb leer, weil keine Straße hinführte. Es
gab einen Trampelpfad, von Felberich überwuchert, aber mehr Annehmlichkeiten
hatte es nie gegeben, auch wenn die asphaltierte Straße, die in Schlangenrhythmen
durch das langgestreckte Dorf führte, nicht weit entfernt lag. Das Haus hatte
keine Interessenten, weil es niemand zu Gesicht bekam
so verborgen zwischen Gestrüpp und komplizenhaften Bäumen. Auch schien es
niemandem zu gehören und wirklich keiner wusste zu sagen, wer zuletzt darin
gelebt hatte. Man erinnerte sich an ein, zwei vage Bewegungen,
die man einst sah, vergas aber schnell, was man eigentlich sagen wollte.

Das Haus sah nicht etwa unheimlich aus, eher traurig,
wie alle schon seit langem leerstehenden Häuser. Wenn es Nacht wurde,
wurde es auch im Haus Nacht, und wenn es Tag wurde, wurde es auch im Haus Tag.

Um die leicht offenstehende Haustüre, ganz aus durchweichtem Holz,
huschten Distelsträucher, die aus dem Innern zu strömen schienen. Nicht alle
Doppelglasfenster waren eingeschlagen. Tatsächlich glaubte ich ohnehin
nicht daran, dass jemand hier vorbeigekommen wäre, um auch nur einen Stein
gegen das Haus zu erheben. Die Scheiben waren von unbekannten Kräften
eingedrückt worden, das Alleinsein der verlassenen Räume wird auf diese Weise bestraft.
Damit hätte der Wüterich Anteil am Verfall des kleinen Häuschens in der Mühlgasse.

Alles befand sich an seinem Platz in der Natur, als ich den Schwarzen Mann sah,
wie er dem Haus erst zu nahe kam und dann, die Disteln zerstampfend,
hinter der Tür verschwand, ohne sie ganz zu öffnen. Er hatte nicht
das geringste Licht abbekommen, blieb auf diese Weise zweidimensional
wie ein Scherenschnitt, nur an den Rändern die Konturen gefräst, den
Hut an der Stirn fetstgetackert und schwarz übermalt, damit auch hier
keine Reflexion zu erwarten war. Als ich mich bückte, um die Disteln zu untersuchen,
stellte ich fest, dass sie eben nicht zertrampelt waren. Die geheimnisvolle Erscheinung
war demnach wirklich ein Scherenschnitt, also folgte ich ihm.

Die Tür wollte ich nicht anfassen,
deshalb zwängte auch ich mich durch den offenen Spalt in die
dunkle Kühle eines gemörtelten Flurs hinein. In den einzelnen Zimmern
gab es nichts außer einer vergangenen Möglichkeit. Die Wände wollten sprechen,
aber sie fanden ihre Worte nicht; das verschweißte Atmen ihres Halses
sagte mir, es ist Zeit zu gehen. Ich vermutete, dass sich
der Scherenschnitt in einer der Schubladen versteckt hielt, die noch
zu einem Schrank gehörten. Auch wenn ich blieb, war das Haus allein;
wenn ich aber ging, blieb nur der Schwarze Mann,

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