10. Januar 2025

Die Uhren auf Null

Seit 2007 gibt es die VERANDA, aber sie hat im Laufe der Zeit viele Inkarnationen durchlaufen. Zu Beginn diente sie mir in erster Linie als Werktagebuch. Es war eine Zeit, in der das noch ein interessantes Unterfangen war. Zwischendrin gab es aber immer auch Buchbesprechungen, und – freilich – sehr viele Textfragmente, die später dann zu veröffentlichten Geschichten wurden. Im Laufe der Zeit wechselte ich die Seiten und mischte mich versuchsweise unter die Buchblogger, wobei mir meine zahlreichen anderen Interessen stets in die Quere kamen. Um ehrlich zu sein, tun sie das noch. Allerdings dümpelte der Blog genau aus diesem Grund die letzten Jahre nur müde vor sich hin. Es gab nur zwei Lösungen: entweder die Veranda in die ewigen Jagdgründe schicken oder sie neu beleben. Natürlich hatte ich auch versucht, neue Themen einfach auf den vorhandenen Inhalt aufzupfropfen, aber das Ergebnis war nicht gerade befriedigend. In einer meiner zahlreichen schlaflosen Nächte entschied ich mich dann endlich dafür, über Geschichten zu schreiben. Natürlich in erster Linie über solche, die in Büchern stehen, aber es gibt auch andere. Geschichten sind schließlich die treibende Kraft unseres Lebens. Alles besteht nur aus Geschichten, egal, wo wir hinsehen und hinhören.

Tatsächlich hat die Menschheit im Laufe der Zeit sich immer wieder die gleichen grundlegenden Geschichten erzählt. Von den antiken Mythen bis zum modernen Kino folgen die Erzählungen oft vertrauten Strukturen, wie die Reise des Helden, die Tragödie der Hybris oder der Triumph der Liebe über alle Widrigkeiten. Doch trotz dieser Wiederholungen haben diese Geschichten eine große Anziehungskraft und offenbaren mit jeder neuen Wiederholung neue Dimensionen. Dieses Phänomen lässt sich auf drei zentrale Faktoren zurückführen: die Universalität menschlicher Erfahrungen, die Anpassungsfähigkeit von Geschichten an sich verändernde Kontexte und die vielschichtige Komplexität, die dem Erzählen von Geschichten innewohnt.

Im Herzen jeder Geschichte, die Bestand hat, spiegelt sich der Zustand des Menschen wider. Themen wie Liebe, Angst, Ehrgeiz und Sterblichkeit sind nicht an Kultur oder Zeit gebunden; sie sind der menschlichen Erfahrung inhärent. Carl Jungs Konzept der Archetypen – universelle Symbole und Motive, die im kollektiven Unbewussten eingebettet sind – bietet einen Rahmen, um zu verstehen, warum bestimmte Geschichten für die Ewigkeit gemacht sind. Archetypen wie der Held, der Mentor, der Schatten und der Betrüger kommen immer wieder vor, weil sie grundlegende Aspekte unserer Psyche widerspiegeln.

Die Geschichte eines Helden, der sich ins Unbekannte wagt, Prüfungen besteht und verändert zurückkehrt, ist in allen Kulturen allgegenwärtig. Von Odysseus in Homers Odyssee bis zu Luke Skywalker in Star Wars spricht diese Erzählstruktur zu unserer eigenen Wanderung des Wachstums und der Selbstentdeckung. Die Wiederholung dieser Themen unterstreicht ihre Relevanz; wir erzählen diese Geschichten immer wieder, weil sie Wahrheiten zum Ausdruck bringen, die konstant bleiben, auch wenn sich die Welt weiterentwickelt.

Während die Kernstrukturen der Geschichten bestehen bleiben, verändern sich ihre Details, um die Werte, Ängste und Hoffnungen ihrer Zeit widerzuspiegeln. Diese Anpassungsfähigkeit sorgt dafür, dass sich alte Geschichten für ein neues Publikum frisch und relevant anfühlen. Shakespeares Stücke zum Beispiel wurden unzählige Male in verschiedenen Medien und an unterschiedlichen Schauplätzen adaptiert – vom feudalen Japan in Kurosawas Die sieben Samurai bis zum modernen Highschool-Drama. In jeder Nacherzählung werden Aspekte der ursprünglichen Erzählung hervorgehoben, die mit zeitgenössischen Anliegen in Einklang stehen.

Geschichten sind nicht statisch; sie entwickeln sich mit der Interpretation. Jede Nacherzählung, ob durch mündliche Überlieferung, geschriebenen Text oder visuelle Medien, fügt Bedeutungsebenen hinzu. Die Zuhörer bringen ihre eigene Perspektive ein, die durch persönliche Erfahrungen und kulturelle Hintergründe geprägt ist und ihr Verständnis einer Erzählung beeinflusst. Diese dynamische Interaktion zwischen Geschichte und Publikum sorgt dafür, dass selbst die bekanntesten Geschichten neue Erkenntnisse liefern können.

Man denke nur an die anhaltende Anziehungskraft von Mary Shelleys Frankenstein. Ursprünglich als warnende Erzählung über unkontrollierten wissenschaftlichen Ehrgeiz gedacht, wurde sie seitdem durch so unterschiedliche Aspekte wie postkoloniale Theorie, feministische Kritik und Bioethik neu interpretiert. Jede Generation findet Aspekte der Geschichte, die ihre spezifischen Ängste und Hoffnungen ansprechen, so dass die Erzählung relevant bleibt und zum Nachdenken anregt. Oder Trost spenden.

Vertraute Erzählungen dienen als Anker in einer unberechenbaren Welt, sie bieten Sicherheit und ein Gefühl der Kontinuität. Die Vorhersehbarkeit bestimmter Handlungsstränge, wie z. B. die Auflösung einer romantischen Komödie oder der Triumph des Guten über das Böse in einem Fantasy-Epos, verschafft emotionale Befriedigung.

Außerdem vertieft die Wiederholung unsere Auseinandersetzung mit einer Geschichte. Bei jeder Begegnung fallen uns Details auf, die wir zuvor übersehen haben, wir schätzen die Kunstfertigkeit der Erzählung und denken darüber nach, wie sich unsere eigene Perspektive verändert hat. Die vielschichtige Natur des Geschichtenerzählens sorgt dafür, dass sich das Wiedersehen mit einer Geschichte anfühlt, als würde man einen alten Freund treffen und dabei neue Facetten seiner Persönlichkeit entdecken.

Das, denke ich mir, ist ein gutes Unternehmen: einen alten Freund treffen.

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