Spürst du, dass du dich dort oben befindest? Mitten auf dem Marktplatz der Stadt. Bemerkst du das Ungleichgewicht? Dein linker Arm ist kräftiger als der rechte. Deine Augenbinde ist dir die eigentliche Obsession und hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Trotzdem haben sie dir einen falschen Namen gegeben. Das hat der Leibwächter im Anzug da unten überhaupt nicht geblickt. Auch er sieht, wie alle anderen, auf dem Weg in dein Haus, die Tauben, hat aber immer nur die gleiche Wahrnehmung von ihnen. Allenfalls deine freigelegten Brüste hat er, kurz einmal aufschauend, besehen. Anfassen kann er sie ja nicht, dafür stehst du zu hoch.
Hexenwerch
albera anders stellt hier auszüge einiger ihrer poetischen arbeiten vor. um auch ihre bilder anzusehen (oder ihre essais zu lesen), empfiehlt es sich in die rubrik ALBERA ANDERS zu wechseln.
Rote Arbeit
M: Sie sagten, Sie hätten rote Arbeit an ihm verrichtet. Wie meinen Sie das?
F: An seinem Körper.
Ich habe ihm die Kehle aufgeschnitten.
Habe meine Hände in sein noch warmes Blut getaucht.
Nur ins Blut, nicht in dich. Immer nur ins Blut, niemals in dich,
habe ich mir immer wieder gesagt, um es auszuhalten.
Der Tanner
Aus der Borke der Zeit, einer Ewigtanne, schnitzte sich vor vielen vielen Jahren und Abermyriaden von Blüten und Bienenstaaten, die vergingen, ein Herbergsvater. Der Tanner eines Hauses, das stets versank, sobald die Sonne den Mond ablöste. Er tat es mit jenem Messer, das bis dahin fortdauernd den Broten überlassen war, die die Bewohner dieses von Eulen bewachten Hauses, in dem sie das Licht der Welt erblickten, zu ihren Lebzeiten buken, doch niemals von ihnen aßen.
Er, der Wirt dieser Seelen, die an das Haus gebunden, ihrem Hunger ergeben waren, wie es Vogelküken im Nest der ersten Lichtstrahlen sind, die sie wachläuten, trug sie des Nachts, nachdem er sie durch seinen Mund in sich aufgenommen hatte, durch das Dorf, um Wirbellose für sie zu sammeln. Nacktschnecken und Würmer, die er ihnen in ihre Münder gab, die sich trotz des Schlafes, der sie barg, weit in seinem Holzrücken öffneten. Er selbst aß niemals etwas. Aß nichts außer ihnen. Und er tat es auch nur, sobald sie der Müdigkeit anheimfielen, die sie tagtäglich ereilte. Was an ihren sich langsam schließenden Augen zu bemerken war, die den Möbeln und Wänden übergeben waren.
So musste er sich beeilen, geschwinde sein, da es bis zum Morgengrauen nicht mehr lange dauern würde und er rechtzeitig mit ihnen wieder im Haus, in der Küche, an selber Stelle sein müsse, um fest und stämmig zu werden. Damit sie in jenem Moment zurück wären, in dem Aurorah an ihm ihren täglichen Platz nehmen würde, auf dass ihre Geister abermals und erneut aus ihren Mündern in seinem Rücken in die Augen des Hauses entweichen könnten, in jene, die sich ihm in seinem Schlaf dann öffnen würden.
Crash
Der Druck auf meine rechte Körperseite, auf diese Extremitäten, die Knochen, die äußeren Flächen. Das Hervortreten der Schulterblätter. Die Unterbindung des Blutflusses der Beine. Das Gras berührt, die Wange den Boden. Das Klaffen der oberen Lippe. Die Beckenschaufel wieder und wieder in Erde bewegt. Die starkschnellen Schläge. Links, unter meiner Brust. Unter den Rippenbögen, die flache Atmung. Die Weite von vorn, von hinten Wärme. Die Haut deiner Hand. Das Blut schmeckt eisern. »Maybe the next one. Maybe the next one.«
(angelehnt an die Romanverfilmung "Crash" von David Cronenberg)
Edith
Ich kann nicht sagen, wie viele Hände ins große Spargelfeld meiner
zweiten Mutter gesickert sind, und ob sie dort noch liegen.
Ich erinnere nur das:
Stets zur Mittagszeit refelten sich feinflechtig, an vier schwebenden
Stühlen aufgespannt, zwei rote Beine auf.
Ich blieb, um zu sehen, wie sie sich verflüchtigten.
Konvex blieb um mich herum der Wald als große Lungenblase
berstend gegen die Ortschaft stehen.
Es dauerte bis in den Abend hinein bis die Spannung seiner
Oberfläche einen Riss bekam, und er mir so sein dunkles Nadelmeer vor Augen spülte.
Es war wie eine gewaltige Traube, die barst.
Ich fand mich unter den Rücken der Tannen wieder.
Von Weitem rief Edith nach mir.
Ich lief zu ihr.
Sie nahm mich an ihre rechte Hand, einen schwarzen
Eimer, gefüllt mit Spargeln, in der linken.
Mich mit ihren durch die dickwandigen Gläser, die sie trug, stark
vergrößerten Augen anschauend, nahm sie mich mit sich.
Die Mädchen wehen die Bäume
A: Sie sagten, die Mädchen wehen die Bäume. Schließen Sie die Augen und versuchen Sie sich zu erinnern. Um was ging es? Warum wehen die Bäume? Wir müssen wissen, warum die Bäume wehen.

P: Ich weiß nicht so genau. Erinnere mich nur an diese eine Patientin, über Fünfzig war sie. Sie hat mir davon erzählt. Es ging um irgendwelche Mädchen, die über ihr wohnten bzw. vorbeikamen, um dort eine Radiostation zu betreiben, mit der sie das Wetter beeinflussen konnten und durch die sie sich mit ihr unterhielten, sie aber auch beschimpften. Die Mädchen wehen die Bäume, hat sie immer wieder gesagt. Die lackieren sich die Nägel auf Russisch. Das wären nämlich Russinnen, die sie „fertig machen“ wollen. Sie wäre ihr Hund oder so. Hat auch recht viele Redewendungen benutzt, nur immer sehr eigensinnig abgewandelt. Das Interessante war, so abstrus das alles klang, nach einer Weile kamen immer mehr Informationen hinzu, die die Lebensgeschichte dieser Frau dahinter durchschimmern ließen. Sie hatte Germanistik studiert und war mal Lehrerin in einer reinen Mädchenklasse. Das hat auch viel über ihr Selbstbild als Frau und aus dieser Zeit erzählt. Sie sagte immer wieder: Die Mädchen. Die Mädchen wehen die Bäume. Ich weiß nicht, wieso. Was wollen Sie von mir?
Schemenform (Proto)
Wieder lief ich des Weges, den ich einst nahm.
So oft warf ich meine Hände dabei ins Feuer.
Und jedes Mal in jeder Mitte dieses Waldes ließen
sie mein Haus, auf das sie mit ihren nachtlangen Fingern zeigten,
erneut in diesem großen Kessel versinken.
So lange habe ich dich hier nicht mehr gesehen.
Die Bäume brachen ihre Borken durchgehend stumm auf.
Fleischweiß ist es hier geworden. Einzig hinter der Tränenmauer
gingen Wölfe auf Zehenspitzen auf und ab.
Cheir
Meine Hand, gespalten am Glas, wollten sie mir wieder schließen.
Ich sah hin und wusste:
das ist ganz und gar unmöglich,
schreibe ich und lese: Blut
Vom Erinnern (Inspiriert von: El lado oscuro del corazón. Von Eliseo Subiela.)
K: Du bist die Frau, mit der Oliverio fliegen kann, stimmt’s?
F: Ja. Woher weißt du das?
K: Er hat vorhin gelächelt als er dich gesehen hat. Da war ich bei ihm. Hat mitten im Satz aufgehört zu sprechen. Und dann schaute er ganz traurig. Hat auch nicht wieder angefangen. Ist einfach weitergelaufen.
F: Und da kommst du zu mir?
K: Ja! Weil ich von dir wissen will, wieso er dort ist und du hier? Versteckt ihr euch voreinander?
F: Nein, das tun wir nicht. Aber das ist auch nicht so einfach zu erklären. Oliverio und ich, wir beide brauchen Asyl, sind sehr schutzbedürftig, und auch nur, weil wir das bemerkt haben.
K: Versteckt ihr euch vor ihr, dem Tod?
F: Ja, das kann man wohl so sagen. Du musst wissen, wir haben beide vom langen Vergessen getrunken und uns erinnert. Zwei, das macht eine ganze Welt aus, weißt du. Auch du verstehst das einmal. Irgendwann. Ganz sicher.
K: Ich weiß, er hat gesagt, ihr müsst euch wie Hunde auf der Straße herumtreiben. Das ist traurig. Habt nichts als den Himmel über euch. Er sagt, das ist grauenhaft. Flucht auch sehr viel deswegen. Ich mag das nicht. Er erzählt auch immer irgendwas von einer Unverborgenheit.
F: Ja, das ist leider so! Wir sind unverborgen. Sind nicht geborgen. Immer dann, wenn wir zusammen sind. Alle sehen uns das an. Obwohl wir etwas sehen. A-létheia. Etwas, das den Spross will. Etwas, das die Blüten beleckt, ihre Farben, sie mit roten Fingerkuppen der Sonne öffnet. Es ist ein Blick. Einer, den man hat, wenn man im Herzen glücklich ist.
K: Deswegen schaut Oliverio immer so komisch! Das will er also sehen?
F: Das hat er längst.
K: Malst du mir meine Fingerkuppen rot?
F: Du willst wieder zu ihm, nicht wahr?
K: Ja! Ich will meine Hände wie ein Dach über ihn halten.
F: Ja dann …
(K: Kind; F: Frau, mit der Oliverio fliegen kann)
Vom Fliegen (Inspiriert von: El lado oscuro del corazón. Von Eliseo Subiela. Und dir.)
K: Oliverio hat gesagt, sie, der Tod, kann ihn noch nicht haben. Verstehst du das?
F: Ja, ich kann Oliverio verstehen.
K: Wieso?
F: Er sucht die Frau, mit der er fliegen kann. Deswegen kann sie ihn noch nicht haben.
K: Fliegen ist toll!
F: Ja, sehr sogar! Alle wollen fliegen. Brauchen den Anderen dazu. Nur Kinder allein können das noch und nur für sich. So wie du. Sonst nur Vögel, Insekten und Fabelwesen. Erwachsene brauchen sich gegenseitig.
K: Aber was ist mit der Frau, mit der er fliegen kann? Wo ist sie?
F: Sie sitzt im Dunkeln, nackt auf einem Stuhl, die Beine gespreizt. Sie weiß, wie wunderschön das Fliegen ist. Hat ihre Hand auf ihr Geschlecht gelegt. Damit es nicht wegfliegt, weißt du. Sie muss es schützen. Für sich und Oliverio. Lauscht den Geräuschen der Welt. Spürt nur die Wärme. Die Brustkorbhebung. Die Brustkorbsenkung. Sie denkt an Oliverio. Weint. Auch weil sie weiß, wenn sie ihre Hand auf die Brust legt, dass sich durch die abgegebene Wärme ihre Milchgänge weiten. Gänge, durch die vielleicht nie etwas fließt. Strahlenförmige Galaktogänge sind das. Denn Milch, erst wenn sie austritt, erhält durch das Sonnenlicht ihre stillende Farbe, in der alle Farben sind.
K: Warum aber ist sie wegen ihm traurig, wenn sie doch mit ihm fliegen kann?
F: Na, weil das Fliegen eben schön ist. Weißt du doch! Und manchmal weinen wir Erwachsenen auch dann. Weinen, wenn uns etwas stärkt, wenn es uns gut tut. Aber du hast Recht! Denn ja, sie ist deswegen auch traurig. Weil sie noch mehr als mit ihm zu fliegen auch den Boden mit ihrem Geschlecht berühren will. Auch dafür braucht sie ihn. Allein kann sie das nicht. Und sie will es auch nur, weil sie beide fliegen können. Weil er ihr diese Kraft gibt. Ich kann Oliverio verstehen. Verstehst du ihn jetzt auch?
K: Ja! Er ist ein bisschen wie ich.
(K: Kind; F: Frau, mit der Oliverio fliegen kann)