Kleewald Robinson

In der Staraba, einer Bar am Rande der Stadt, die bekannt war für ihre zwielichtigen Dienstleistungen – sogar eine Wochenzeitung gab man heraus, die gespickt war mit Kleinanzeigen, die ein Normalsterblicher nie hätte entziffern können – saßen Mention Handsome, der seine Frau umbringen lassen wollte und Carl Canal, der Chefredakteur besagter Wochenzeitung 23 Minuten vor der Sperrstunde am Tisch mit der Nummer 7. Die Zeitangabe ist nicht so wichtig, man sehe es mir als eine Marotte nach, die Tischnummer allerdings, die dürfen Sie sich merken, wenn Sie wollen.

“Wenn du die Sache perfekt erledigt wissen willst, gibt es nur einen, den ich empfehlen kann: Kleewald Robinson”, sagte Carl.

“Du weißt, dass ich so gut wie keine Erfahrung im Umgang mit … dieser Sache habe. Ich werde dir vertrauen müssen, auch wenn es mir nicht schmeckt.”

Mention Handsome, der gerne etwas getrunken hätte, aber kein Geld bei sich trug, was er für die Zukunft zu ändern gedachte, befummelte die Tischplatte. Seine Finger hinterließen einen schmierigen Film auf dem Polymer.

“Kleewald Robinson ist der, den du brauchst. Schlag ein oder lass es.”
“Erzähl mir was über ihn.”
“Hm. Das wird schwierig sein am Telefon.”
“Telefon? Was für ein Telefon?”

“Sagen wir so: ich fühle mich in deiner Gegenwart immer wie am Telefon. Und da rede ich nun mal nicht gern. Aber ich kann dich hinbringen. Vielleicht erzähle ich dir unterwegs, was ich weiß. Ich hol’ dich in einer Viertelstunde ab. Ich leg’ jetzt auf.”
“Sag mal, Carl … übertreibst du das mit dem Telefon-Gefühl nicht etwas?”

*

„Es gibt da eine Sache“, sagt Carl und lenkt aus der kleinen Gasse mit dem zweiflügeligen Eingangstor auf die Flingerstraße. Gleich werden sie vor einem pittoresken Gebäude stehen. Wenn man sich das Bestaunen für diesen Tag vorgenommen hat, kann man es durchaus bewundern, was immer man sonst noch vorhaben sollte. Die Nachbarschaft ist abwesend, die Hecken sind bekränzt. Es sieht aus wie ein Lebkuchenhaus oder ein Schloss en miniature mit einem Holzbalkon zur Straße hin, auf dem abgedeckte Moch-Figuren stehen.

Wenn man der vorbeiführenden Straße folgt, fällt man von der Erdscheibe. Niemand weiß, was für ein Ort das ist, an dem man landen wird. Ein Nicht-Ort, vermuten die verbliebenen 23 Einwohner. Aber „Childhood’s End” ist auch nicht ohne: Schwarze Rosen, die nach phytophagen Insektenkot müffeln. „Stell bitte keine Fragen, wenn wir dort sind. Es wird dir etwas seltsam vorkommen – sogar mir kommt es jedes einzelne verdammte Mal seltsam vor.“ Die dramaturgische Hinrichtung seiner Gedanken. „Wir werden mit einer Frau verhandeln. Du wirst ihr nicht widersprechen. Wenn sie etwas wissen will, sagst du es ihr ohne zu zögern, egal, was es ist.“

Mention mustert Carl, der seine Nervosität auf das Gefährt überträgt. Er trommelt mit behandschuhten Händen auf das Lenkrad und überdreht den Motor. Warum ist das so eine große Sache? Wird nicht alle 48 Sekunden eine Ehefrau ins Westjordanland geschickt? Oder wie war die Stoßrichtung? Theoretisch könnte man in einen Park schlendern und
„Suchst du einen Job?”
– eine rhetorische Frage an die Maskierten auf den Bänken mit den gefärbten Koteletten – stellen. Carl hat auch dort sein Personal. Regelmäßig tauchen Spezifikationen in den Kleinanzeigen der Staraba auf. Man kann eine Entführung nicht von einem Taschendieb ausführen lassen. Ein Hochleistungsunternehmen muss sein Profil geschärft halten. „Wenn es sich machen lässt, muss jeder Schatten – ob Halbschatten oder Umbra – seine Qualitäten offenbaren.
„Hör auf, so laut zu denken! Kleewald Robinson ist der Richtige!”

Da ist er sich nicht mehr sicher, warum wachsen hier keine … sagen wir, er vermisst eine Pseudolandschaft, einen bepflanzten Kreisverkehr, wunderbar prunkte die Falle, so dass alle unsterblichen Götter, alle sterblichen Menschen betroffen staunten als sie es sahen. Sprossten doch dort gleich hundert Blütenköpfchen aus einer Wurzel; lieblichste Düfte erfüllten das lachende Weltall, droben den breiten Himmel, die Erde, und die schwellende Salzflut … hier ist alles in Ordnung. Schau, wie die Vögel die Abgase vertragen, es findet sich immer noch etwas, das man zum Blühen zwingen kann.

„Ich wusste gar nicht, dass es in der Nähe so eine scheußliche Gegend überhaupt gibt.“ Kleewald Robinson. Katharina. Jetzt tut es ihm leid, damit angefangen zu haben. Im Grunde sind wir nicht geeignet für irgendeine Wahrheit. Wir sind allein auf der Welt, aber nicht in uns.

Als er sie zum ersten Mal traf, war für ihn klar, dass sich die Welt in eine Geschichte verwandelt haben musste. Sie war die Beobachterin seiner Gesten, Bewegungen und Stolpertiraden. Ohne ihre Blicke gab es ihn schlicht nicht mehr. Er war Schrödingers Katze, und sie hatte die Truhe geöffnet, um sich zu vergewissern, dass die Katze am Leben und die Phiole mit dem Gift nicht zerbrochen war. Jetzt ist er ihr Pussytierchen. Hat sie nicht sein Leben gerettet, sein Leben überhaupt erst ermöglicht durch ihre Wahl des Bräutigams, wie es Beltane im Mai will?

“Wenn du mich heiratest, wird es dir gut gehen (und du wirst lange leben auf Erden).”
Aber er wollte nicht, erfand ständig neue Ausreden, hatte nicht gerade viel vorzuweisen, keine Geschäfte in Balnibarbi oder Luggnagg. Manchmal schlief er unter einer Brücke oder auf einer Baustelle, wenn er einen wichtigen Termin vorgetäuscht hatte. Sie füllte ihn mit Wein und feudalen Speisen. Es gab Hummer, Lotte, Erbsensuppe, Atterochse und wilden Saibling, alles mit viel Butter, das Fleisch von Fett durchzogen, Scampi und Taube, es gab Hüftsteak und Seezunge. Und er nahm zu. Zwei Fernsehapparate liefen gleichzeitig mit dem Radio um die Wette, dazu jodelte sie

Holla-re-dü-rü
Jo holleradi-adi-jö
…. gewonnen haben, aber … sweets for my … (jö-hü) … sweet, sugar for my … sagt auch einiges aus, wie wir … honey … und dann die Beute … jo holdri poltri duä … gefügig … schleimig ist, bäh, ab ins Bett … wurde in vielen Ecken neues … juhu

Als er etwa zehn Kilo zugenommen hatte, musste sie ihm neue Kleidung kaufen. Von da an stigmatisierte sie ihn als ihr Eigentum. „Ich glaube dir jetzt, dass du es nicht auf mein Geld abgesehen hast, Bello. Und ich nehme deinen Antrag an“, sagte sie. Er erwiderte nichts, seine Nerven waren unpässlich. Bello. Die Wahrheit war: Er konnte sie von Anfang an nicht leiden – mit ihrer Kegelfigur und dem konkaven Gesicht. Aber sie hatte eine aussagekräftige Schleimspur ausgelegt, ihn in einer Phase der Antriebsschwäche erwischt und seine Planlosigkeit mit ihren Skizzen versehen. Dabei hatte sie jedoch übersehen – oder es vielleicht nicht für möglich gehalten –, dass er nichts anderes tat, als sich zu überlegen, wie er ohne einen Finger zu krümmen zu einer Menge Geld kommen könnte. Als Gigolo hätte er sich durchaus verdingt, auch wenn das Wort nicht zu seinem Gesicht passte. Bei Katharina war er jedoch nicht Pimp, sondern Lutschdrops.

„Die Lösung des Lebensproblems merkt man am Verschwinden dieses Problems.“
„Was? … Sag mal – hier ist es reichlich düster … und was sind das für ekelhafte schwarze Rosen?”

*

Vor dem Laden, dessen Schild im Grunde zerfetzt ist und auf dem „Lydias Feinkost” steht, winkt die kleine Katharina den durchfahrenden „Panzermerikanern” hinterher. Die sollen angeblich Kaugummi und irgendein anderes klebriges Zeug verteilen, mit dem man sich den Magen verderben kann. Michaela ist mit Minna noch im Laden, aber natürlich werden sie nicht bedient. Lydia ist auf eine bittere Weise fassungslos. Erstens hat sie in ihrem Leben noch nie bei einem Mädchen in diesem Alter so riesige Brüste gesehen. Zweitens begreift sie nicht, warum sie diesem Mädchen so schamlos aus dem Kleid springen. Zumindest könnten sie sich ihr Angelzeug woanders besorgen. Handel ist schließlich ein Akt der Fairness. Wie eine Kuh angewalzt kommen in dieser schwierigen Zeit – wir erröten alle stellvertretend und nur Zigeuner erröten nicht, denn sie …
atmen mit der flachen Hand zwei Zentimeter unterhalb des Nabels tief ein. Stellen Sie sich vor, wie der Atem langsam bis hinunter zu Ihrer Hand fließt und schließlich Ihre Hand hochatmet. Stellen Sie sich dann vor, wie der Atem wieder über den Brustraum zurück über die Nase nach außen entweicht. Konzentrieren Sie sich darauf, wie die Hand wieder nach unten sinkt.
Aber wenn jetzt alles voller Zigeuner ist, sie hier jetzt ein Schatra bilden und das Gör hier die Bulibasha sein will –

„Ich kenne deine Mutter! Weiß sie, wie du hier herumläufst?“ Die Augen geradeaus, in Minnas Augen. Sie wird sich gleich empören, sie wird jetzt gleich trotzig werden, das Schmuddelkind, und sagen: „Schämst du dich nicht?” Aber Minna stemmt die Fäuste in die Leiste, wirft den Kopf leicht schief, spricht mit ganzem Ausdruck. Aber was sie sagt, strotzt vor Mitleid. Das ist doch nicht zu fassen. „Meine Mutter kennt Sie auch. Aber sie kauft nicht bei Ihnen ein. Sie ist anders als ich. Sie sammelt Trümmer ein und klebt sie wieder zusammen. Von mir aus kann alles verrecken.“ Dann nickt sie mit schiefem Kopf. Die Lider zucken eine Mikrosekunde lang in die Höhe. Sie sagt noch einmal „verrecken“.

„Aber vielleicht gehen Sie nach hinten und rollen Ihren Krüppel herein. Vielleicht hat der ja Lust, mich zu bedienen.“ Minna steht da wie eine Räubertochter. Tatsächlich, sehen Sie doch – Lydia zuckt zusammen, ihren kriegsversehrten Ehemann einen Krüppel zu nennen, ihre blanken Titten mitten im Laden hin und her wippen zu lassen wie eine Drohung. Oh ja, Minna ist zur Drohung entschlossen. Und keine Polizei gibt es vor Ort , die diesen Unruheherd mit dem Gesicht in den Boden rammt, in den Keller eines Erziehungsheims verfrachtet, damit sie nachdenken kann, damit sie dort etwas über Zucht und Ordnung lernt und wo ihr angestammter Platz ist. Was ist nur aus der Jugend geworden? Diese Krankheit muss doch schon wie eine Flagelle darauf gewartet haben, bis die Not am größten ist…

„Draußen kommen Leute“, sagt Michaela. Katharina fühlt sich an diesem Tag nicht besonders gut, scharrt mit den Füßen im Staub herum und würde verleugnen, dazuzugehören. Mythos und Traum, Phänomene an der Grenze von Erinnerung und Vergessen, Verdrängen und Wiederkehr des Verdrängten.

Jetzt steigt sie endlich aus dem lauwarmen Wasser mit dem eingefallenen Schaum, der seinen Lavendelkörper auf Rosmarin-Apfel trotzdem nicht zurückhält.

Sie war natürlich zu Geld gekommen und heiratete Mention, der ihr in einer sozialen Umgebung, die sie nicht einschätzen konnte, am ungefährlichsten schien. Alles läuft aus dem Ruder und wieder zurück. Was ist aus Minna geworden? Sie erinnert sich nicht, nicht jetzt. Die Konturen verblassen, alles ist so weit weg. Irgendjemand steht in ihrem Flur. Meine Güte, wie schnell sich die Bilder in ihrem Kopf ändern. Sie hatte in Grün geheiratet, mit einer Pfauenfeder statt eines Blumenstraußes, Mention in Hellgrau, blass wie eine Wand, mit dem Gefühl, übertölpelt worden zu sein, hin- und hergerissen zwischen morastiger Freiheit und dem bequemen Leben, das ihnen die Käseecken-Firma versprach, die täglich mit den Abfällen der Molkerei gefüttert und zu einem Oleomargarinekäse emulgiert hoch im Kurs stand, vererbt von ihrem Vater unter der Voraussetzung, zu heiraten, was sie tat, denn sie wollte nicht länger die Durchzugsschachteln verpackungsbereit machen. Nichts bist du, was ich dir nicht gebe.


Das Marketing nannte die Triangeln Farmer-Käse, weil ihnen die Bezeichnung ‘Schmierkäse’ zu vulgär und schweißig rüberkam, Anklänge von Filzpantoffeln und Arbeitsstiefeln schwangen da im Wortklang. Ihr Bruder war sogar der Meinung, Schmierkäse nenne man die Ablagerung unter der Vorhaut. Und Nillenkäse schmiert sich nun keiner aufs Brot zu seiner Leberwurst, auch nicht in extraordinären Zeiten. Farmer-Käse aber ist Farbenrauschen, vor allem Stimmung. Es erklingt die Erdgebundenheit, die Schwingung einer ehrlich verdienten Brotzeit. Der Erdwirtschafter im Saft der Erde, der Hahn gockelt, das Bett wird verlassen und die Pflicht im Angesicht des pulsierenden Helios, der die Proton-Proton-Kette schmiedet, zur Zufriedenheit der Feldfrüchte, Bastrüben und Triticale, wird angegangen. Diese Lust am Pflug – und dann der Appetit, der aus dem limbischen System nach oben steigt (auch wenn es sich bei diesem Verlangen, das den Käse im Visier hat, um Pikazismus handeln muss) – diese Lust am Vereinamen und Ausscheiden, am Säen und Düngen, oh Natur, oh Leben.

*

In diesem Augenblick hat sie keinen blassen Schimmer, was ihr mehr Furcht einflößt. Dass da einer ist, der da nicht hingehört oder dass sie in ihr selbst oft genug fremder Nacktheit gesehen werden könnte. Sie hat gelernt, ihr Gefäß zu ertragen, so wie man lernt, das Altern zu ertragen – dieses sinnlose Gespenst, das durch das Ineinanderschlingen von Zeit und Materie entsteht und Prädatoren um sich weiß. Sie hat nichts übrig für eine betonte Lässigkeit, wie sie ihre Freundin Abelina an den Tag legt, wenn sie breitbeinig auf der Nudistenwiese liegt und Träumen nachhängt, die sich in ihrem Busch spiegeln, Träume von unerlaubten Handlungen, Stieren, Pferden, Hunden, Schlangen, Früchten und Gemüsen. Katharina treibt es über der Unterhose, manchmal auch nur durch den Hosenschlitz. Sie fragt „Hilfe?”, was natürlich seltsam klingt, ans Kreischen denkt sie nicht einmal. Es gelingt ihr, das Handtuch so zu knoten, dass sie sich zwar immer noch albern, aber nicht mehr unansehnlich albern vorkommt. Gerade in dieser außergewöhnlichen Situation wünscht sie sich ein Abendkleid an den Leib, ohne Dekolleté, respektvoll – diese Macht, die man in Kleidern verspürt, die der Natur eins auswischt.

Kleewald hört förmlich ihr Erstarren. Der Auftrag ist leicht: Eine solche Matrone wird in erster Linie verblüfft sein, wenn er das Spiel beginnt und in dieser weinroten Robe mit Posamentenverschlüssen vor sie tritt. Zunächst will er jedoch abwarten, ob sie es tatsächlich wagt, aus dem Badezimmer zu kommen. Die Wohnung ist geräumig, ein richtiger Bungalow, in dem er sich sogar verstecken könnte, falls sie sich mit einer Schere oder einer Haarnadel dem Unbekannten stellen will. Auf den ersten Blick mag es unklug erscheinen, dass er bereits Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, aber das gehört zum Spiel, zum Nektar seiner Schaffenskraft. Tau, der nicht vom Himmel fällt, sondern aus den Poren quillt. Die Hyperhidrose löst Hunger in ihm aus. Diese Aufträge sind ein merkwürdiges Besäufnis, bei denen es ihm überhaupt nicht um Geld geht, auch wenn die Entlohnung nichts zu beklagen übrig lässt. Von Geld hat er kaum eine Vorstellung. Damit konnte man sich die Dinge nur kaufen, wodurch sie völlig bedeutungslos wurden. Aber Schweiß in einem Sunkist-Tetrapak-Dreieck in den Geschmacksrichtungen Angor und Timor, dazu Amygdala-Nüsschen auf einem Tablett der Bienenkorbmarke … Kleewald liebte es, in die Welt der Erwachsenen einzubrechen und sie mit ihrer Überraschung zu strangulieren. Er fragte nie nach dem Grund, denn ebenso wenig wie Geld interessierten ihn die Beweggründe seiner Auftraggeber. Ihm kommt es nur darauf an, es auf seine Weise tun zu dürfen.

„Vor 50 Jahren“, sagt sie sich (immerhin ein halbes Jahrhundert), „war ich unter den jüngsten Vögeln der jüngste.“ Vor 50 Jahren waren sie in den Dörfern in der Überzahl, hatten Amazonen-Banden gegründet und schauerliche Mutproben durchgeführt, die man je nach Ansturm modifizierte. Minna Berger, die im Krieg beide Familien verloren hatte, nannte sich Maroula. Sie war die Älteste von ihnen und ließ sich am Lagerfeuer mit Asche die unterschiedlich großen Brüste tätowieren. Da wir alle da oben rum gar nichts hatten, entkamen wir dieser Enteignung unserer Euter in Potentia. Nachdem alle vom Speierlingmost besoffen auf der kalten Trümmererde lagen, musste Marlene ihr eine Blüte mit sechs Blättern, die sich leicht überlappen, gravieren. Sie stöhnte bei jedem Stich, als ginge es um ihre eigene Haut. Minna saß mit ihren ausgepackten Glocken und glasigen Augen einfach nur da und machte keinen Mucks. Nachdem sie dem ersten Spötter ihrer Barbusigkeit den Unterkiefer entzahnt und mehrmals gebrochen hatte (zugegeben, sie tat es mit einem Stein, aber trotzdem), wollte auch der eine oder andere der spärlich gestreuten Jungs aufgenommen werden. Der Männlichkeitsanspruch der gedemütigten Männer, der Krüppel und Hungerleider schien fürs Erste gedeckt gewesen zu sein. Zunächst wurden auch diese verdroschen und nach Hause geschickt – oder zumindest dorthin, wo einst ein Haus gestanden hatte. Dann änderte die Bande ihre Strategie: Man konnte sich die jungen Burschen durchaus als Sklaven halten. Und sie taten wirklich alles, um dabei zu sein. Für eine kurze Spanne hatte die trinitäre Juno alles unter Kontrolle.

*

Den Einhebelmischer bedient sie mit den Füßen. Dann verbrüht sie sich den linken Hallux valgus am Metall der heißen Zuleitung. Dampf quillt durch das kleine Badezimmer und vernichtet die Doppelung im Spiegel. Sie stellt sich vor, wie der Föhn im Wasser einschlägt und wie es sich anfühlen müsste, wenn ihr Herz auf 2 000 Umdrehungen pro Minute beschleunigt und ihre Nieren im Körper gar werden. Wahrscheinlich gäbe es nur einen Knall und die Sicherung würde überschnappen. Aber sie schielt ihn an, fasziniert von der Vorstellung, dass alles so schnell gehen könnte. Dann wirft sie ihre Gedanken wieder in das Buch – das deswegen nicht gleich aufweicht – und zumindest in die Geschichte. Sie reguliert noch etwas am Wasser herum.

Sie hört etwas, sie kann nicht genau sagen, was es ist, aber es deckt sich auf wundersame Weise mit den Zeilen, die sie liest. Chandler hat sie längst durch. Die Gossensprache mochte sie zu dieser Zeit. Jede Zeile roch nach männlichem Schweiß. Beim Lesen wurde sie regelrecht geil – und auch später, wenn sie nur an Marlowe dachte. Da hatte sie ihre ersten Vergewaltigungsfantasien, drei Wochen bevor sie wirklich vergewaltigt wurde. Außer einem Dammriss und einem Veilchen, die sie sich zugezogen hatte, verlor sie die Liebe zu den Hardboiled-Krimis. Sam Spade hatte sie nie begonnen. Im Augenblick war Wilkie Collins ihr Favorit. Das Geräusch vernimmt sie erneut, obwohl die Zeile des Geräuschs längst in der Vergangenheit gelesener Seiten vegetiert.
„Hallo?“

Ja, hallo, immer die gleiche Leier. Noch schlimmer ist: Ist da jemand? Man lässt diesem Jemand, der nicht da ist, keine Chance, diese Frage ordnungsgemäß zu beantworten. Jemand, der nicht da ist, wird nie „Nein” sagen, und jemand, der da ist und „Nein” sagt, lügt. Aber was ist, wenn jemand Ja sagt? „Ja, aber Sie kennen mich noch nicht.” Das wäre ausgesprochen unklug, wo sie doch gerade in der Wanne liegt. Sie könnte diesem Jemand kaum anbieten, sich in die Küche zu begeben und schon mal einen Kaffee zu machen, weil er die Küche ja noch gar nicht kennt. Er würde sie zwar finden, aber würde er den Kaffee zwischen all diesen Dosen erkennen, randvoll mit Tees aus China?
„Ist da jemand?“, fragt sie dann aus Trotz.

“Nein!” flüstert dieser jemand und sie saust nach oben. Das Buch plumpst ins Wasser und scheitert mit seinen Versuchen, sich über Wasser zu halten. Sie verliert das Rennen zum Handtuch, erstens wegen der zitternden Finger und zweitens wegen dieses komischen Winkels, denn sie sitzt noch, erhebt sich und steht schon – und das gleichzeitig. Ihr eiskaltes Blut schießt in die Adern (um etwas Wilkie Collins beizumengen), ihr bisschen Körperflaum reckt sich tastend in den wabernden Nebel hinein. Sie hat einen Lügner im Haus.

*

Wie eine frische Sommerbrise saust die Axt von oben herab und spaltet Katharinas Kopf wie eine Wassermelone. Die Geräusche sind sonderbar, für manche lassen sich keine Worte finden – aber dieses lässt sich mit einem umgestoßenen Teller Suppe beschreiben. Rinderbrühe mit Brocken, die um 1:21 Uhr auf den Boden platscht.

Axtmorden ist anstrengend.Die Axtschneide muss leicht und tief in den Körper eindringen können. Deshalb ist der Axtkopf von Kleewald poliert. Der Stiel aus dem Hartholz Hickory ist ergonomisch geformt, damit die Schlagkraft in den Kopf geht – was er gerade vorgeführt hat. Die Schneide stoppt nicht vor dem Brustbein, drei Zähne poltern in die metaphernbeladene Suppe und eine Fontäne spritzt nach oben, als würde ein Wal Blut spritzen. Die Melone klappt links und rechts zur Seite, grauer Schleim verliert sich in der Szenerie. Ja, Freunde, damit denken wir. Kein Wunder, dass dabei nichts rumkommt!

*

Als es mit dem Käseersatz einmal nicht so gut lief, entwickelte die Marketingabteilung einen Farmer-Toast, der in der Mikrowelle das Popcorn als Kultblaupause ersetzen sollte. Die Käsemasse schmolz jedoch nicht im herkömmlichen Ofen, sondern wurde nur braun und schließlich schwarz. Dabei bröselte sie auf das Backblech. In der Mikrowelle schmolz der Käse durch die Poren des Toasts, übrig blieb eine flüssige Masse ohne Kruste, die den Toast in einen Schwamm verwandelte. Dann aber brachte die Firma Whirlpool ein Gerät mit einer neuen Funktion auf den Markt. Mittels doppelter Mikrowellen-Einspeisung, einer speziellen Crisp-Platte und einem Quarz-Grill gelangen in der Mikrowelle knusprige Leckereien und der Farmer-Toast gehörte fortan zu den Klassikern der modernen Küche. Mit all diesen Erfolgen hatte Mention jedoch wenig zu tun. Er vervollkommnete lediglich das Unternehmerprofil einer intakten Familie, spielte den Bauern in Gummistiefeln und Mütze, der neben einem Fendt Dieselross stand und seitwärts in ein Brötchen biss, auf dem der hauseigene Käse wie ein Ungeheuer schwärte. Traktor Nummer eins verunglückte jedoch während der Überführung. Er sollte einen Tag vor dem Fototermin ankommen und herausgeputzt werden. „Handsome Farmer-Toast” sollte auf die Schnauze gepinselt werden. Doch der fünfzehnjährige Hannes Markwart polterte mit dem Vorkriegsmodell in einen Graben, aus dem er nicht mehr erwachte. Traktor Nummer zwei wurde erst gegen Abend aktiviert. Als er dann dastand, stellte sich heraus, dass es sich um ein völlig unbrauchbares Modell namens „Farmer Fix” handelte. Voller Entsetzen wurde es 20 Uhr.

„Den können wir nehmen“, sagte Mention. Wer kennt sich schließlich mit Traktoren aus? Die Crew wurde unruhig, die Anstreicher verloren die Konzentration und saßen gelangweilt im Schuppen. Chesna Briggs, die Leiterin der Marketingabteilung und gelernte Kanadierin, war da keine Ausnahme. ‚Aufgeben‘ stand auch bei ihr nicht im Repertoire. Es ging gar nicht um den armen Farmer Fix, sondern um die Idee, das Ideal eines Plans – und der sah nun einmal einen ganz bestimmten Schlepper vor. … Aber wer kennt die einzelnen Teile und ihre Namen, bis sich alles zu einem Schlepper fügt? Nach immer wieder überdachten und überarbeiteten Plänen wachsen die Organe deines Schleppers, lieber Freund, aus dem toten Stoff in sinnvoller Arbeit heran. Fendt Dieselross: das beste Pferd in deinem Stall.

“Den können wir nicht nehmen! Bist du auf deine Rolle vorbereitet, Mention?” Chesna telefoniert, Katharina trainiert ihr Mannsbild, oder richtet es ab, so genau lässt sich das nicht unterscheiden.
“Na … ich beiße in die Semmel …”
“Falsch. Schon falsch! Du beißt voller Wonne in das Brötchen, aber erst, nachdem du bereits zweimal abgebissen hast …”
“Und die ersten beiden Male …”
„Für die Katz!“ Die kannst du ausspucken.“ Es dreht sich alles um ein Brötchen, das schon zur Hälfte gegessen ist. Wir überraschen dich mitten in deiner Pause und sehen dir zu, wie du Ambrosia zu dir nimmst und dir damit Kraft für dein hartes Tagewerk zuführst. Du stehst neben deinem Dieselross, das sich mit dir freut, während du …“
“Katharina!” Chesna aus dem Bürofenster.
“Was ist denn?” Sichtlich verärgert, während ihrer Regieanweisungen gestört zu werden.
“Der dritte Traktor …”
“Was ist mit dem dritten Traktor?”
“Der hat sich verfahren …”

Vielleicht war es dieser Moment (oder einer der zahllosen anderen), der in Mention die Idee keimen ließ, doch demnächst ein Bier in der Staraba zu trinken.

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