Kult!

Monat: Februar 2018

Zu den Kanon(-)en

Schon etwas länger plage ich mich mit dem Gedanken herum, einen Kanon zu gestalten, der sich ganz der spekulativen Fiktion widmet (‘spekulative Literatur’ hörte sich vielleicht gebräuchlicher an, aber die Fiktion ist per se ein Gedankenspiel, das der Literatur voran geht, also zuerst da ist. Außerdem gehört die spekulative Fiktion zur Literatur, wie auch die Lyrik, der Comic, das Drehbuch etc. Literatur ist demnach nicht teilbar, Fiktion schon.). Ob das nun Gewäsch ist oder nicht, dachte ich zunächst an eine ungefähre Liste von 100 Büchern, die in loser Reihenfolge vorgestellt werden, bevor die Grenze dann notgedrungen überschritten wird. Auf eine Zahl wollte ich mich eigentlich nicht festlegen, dachte aber heimlich immer an die 1001-Serie der Edition Olms. Natürlich gibt es da auch die 1001 Bücher, die man gelesen haben sollte, bevor das Leben vorbei ist – da aber weigere ich mich. Zu viel davon will ich nicht lesen, zu viel davon habe ich schon gelesen und für nicht weiter wichtig befunden, zu wenig habe ich auf dieser Liste entdeckt, das nicht der Torwächter-Geschmack vorgibt, zu viele bedeutende Werke sind gar nicht vertreten. Da meine Einstellung zu vielen Dingen die natürliche Rebellion ist, dachte ich natürlich zunächst an einen Gegenkanon, was aber sinnlos ist, da kein einziger Kanon wirklich Gültigkeit über sich selbst hinaus besitzt. So auch nicht meiner, sollte er denn je entstehen.

Gegenwärtig habe ich im Phantastikon (und auch schon hier) mit der Stoffsammlung begonnen, aber 1001 Bücher werden es natürlich nicht werden. Tatsächlich bin ich der Meinung, dass es nicht mehr als 300 Bücher (oder Werke, wenn man die Zyklen miteinbezieht) gibt, die wirklich in Stein gemeißelt werden sollten, und das unabhängig vom allesbeherrschenden eigenen Geschmack. Slipstream, Fantasy, Horror, Science Fiction, Magischer Realismus … da gibt es noch eine Menge zu sichten und in vielen Belangen gilt es auch, sich mit Experten auseinanderzusetzen. Was ich seit Jahren tue. Und was bereits vor zwei Jahren zu einer rudimentären Liste der 100 besten Fantasy-Werke geführt hat, die nach hinten dann doch sehr dünn und unhaltbar wurde, weshalb ich sie wieder vom Netz nahm.

Wie mein weiteres Vorgehen diesbezüglich auch sein wird, kann es vorkommen, dass zunächst Bücher in dieser Liste auftauchen, die später wieder entfernt werden. Aber ein Echtzeit-Abenteuer hat durchaus seine Bewandtnis. Man sieht die Leiden des alten Werther, wenn man so will, von einem, dem die Kugel nur das Gehirn gestreift, es aber nicht durchdrungen hat.

Die unsichtbare Bibliothek / Genevieve Cogman

Geschichten über Bibliotheken oder geheimnisvolle Bücher besitzen immer ihren ganz eigenen Charme, so dass man bei genauerer Betrachtung sogar von einer eigenen Gattung sprechen müsste. Und dennoch sind sie so vielseitig und unterschiedlich, dass sie manchmal eben nichts weiter miteinander zu tun haben, als dass es darin um Bücher geht. Die unsichtbare Bibliothek reiht sich da ein. In gewisser Weise steht der Roman der Urban Fantasy und der Portal Fantasy nahe, bedenkt man die unzähligen Parallelwelten, die es hier gibt. Und im Zentrum steht besagte Bibliothek, ein mysteriöses und undurchschaubares Gebilde, so gewaltig, dass man seine Auswüchse gar nicht ermessen kann. Da läuft man schon mal zweieinhalb Stunden von einer Abteilung zur nächsten. Aber das ist noch längst nichts Besonderes. Dass die Bibliothek Zugänge zu allen denkbaren Paralleluniversen unterhält, hingegen schon.

Und die Bibliothekare sind auf besondere Weise an diese Bibliothek gebunden. Sie verfügen über außergewöhnliche Kräfte, weil sie ein Siegel in Form einer Tätowierung auf ihrem Rücken tragen. Das verleiht ihnen Zugriff auf ein magisches System, das Die Sprache genannt wird. Dabei handelt es sich nicht etwa um herkömmliche Zaubersprüche, sondern um die Macht des Wortes selbst, das Dingen befiehlt, wie sie sich verhalten sollen. Und tatsächlich steht Die Sprache im völligen Gegensatz zur – ebenfalls vorhandenen – Zauberei.

Eine dieser Bibliothekarinnen ist die temperamentvolle  Irene, und gleich im ersten Kapitel begleiten wir sie bei der Erfüllung eines Auftrags, bevor sie mit einem Buch, das sie aus einer Parallelwelt gestohlen hat, in die Bibliothek zurückkehrt. Das nämlich ist ihre Aufgabe und die Aufgabe aller Bibliothekare: sie beschaffen seltene Bücher aus allen Welten, um diese zu bewahren. Dieser Einstieg ist gelungen und bereitet und auf das vor, was nun folgen sollte: die Beschaffung eines Buches der Gebrüder Grimm aus einem viktorianisch anmutenden London. Warum? Es könnten einhundert Gebrüder Grimm in einhundert verschiedenen Welten leben, und jedes Mal könnten sie eine andere Märchensammlung verfasst haben. Und genau dort liegt das Interesse der Bibliothek. Wissenschaftliche Abhandlungen spielen dabei keine Rolle, denn Entdeckungen sind in allen Welten gleich, wenn auch in unterschiedlichen Mischungen vorhanden. Und sie werden nicht sie sehr geschätzt wie kreative Arbeit. Diese Kernaussage hat mich persönlich am meisten begeistert, um ehrlich zu sein.

Genevieve Cogman offenbart bereits in ihrem Debüt eine erstaunliche metatextuelle Gabe. Das wird in folgendem Beispiel deutlich:

Die Welt, in der Irene Winters und Kai ein Buch der Gebrüder Grimm beschaffen müssen, ist “vom Chaos verseucht”. Hier bedeutet das, die Welt ist “verzerrt”, die Dinge haben die Neigung, “in erzählerische Muster zu verfallen”, nehmen also die “Art von Rhythmus und Logik an, die man womöglich in der Erzählliteratur oder in Märchen vorfindet.”

Das ist auch gleichzeitig die Poetik des Romans, Erzähltext und Metatext überschneiden sich. Der Roman ist auch ein Spiel mit Buchwelten an sich, eine unverhohlene Huldigung. Es gibt sogar eine schlüssige Erklärung für die Existenz exotischer Geschöpfe wie Vampire, Werwölfe, Feen und Elben:

“Das Chaos benutzt Geschöpfe, die unlogischen Gesetzen auf logische Weise gehorchen.”

Dadurch destabilisiert das Chaos eine entsprechende Welt, drängt die Ordnung zurück und verseucht sie. Das ist nicht einfach nur ein Status Quo, die entsprechende Welt geht daran zugrunde wie ein lebender Organismus an einer Infektion.

Cogman schreibt mit einer Lebendigkeit und einem Witz, die dem Genre der Urban Fantasy neues Leben einhauchen. Die Handlung verbindet politische und akademische Intrigen mit hochkarätigen Kampfszenen und bewegt sich innerhalb eines atmosphärischen Szenarios. Klischeehafte romantische Spannungen lässt die Autorin glücklicherweise – und entgegen dem gegenwärtigen Strom – aus, eine Fantasy-Schnulze haben wir hier in der Tat nicht vorliegen. Die Scherze zwischen Irene und ihrem Studenten Kai sind hingegen ziemlich erfrischend. Dass man hin und wieder an die Werke von Neil Gaiman erinnert wird, schmälert Cogmans Originalität keineswegs. Und trotzdem lullt die hier vorgetragene Prosa mehr ein als dass sie mitnimmt. Das Geschehen scheint hinter einem Schleier stattzufinden, hat trotz der ausgewogenen Sätze etwas behäbiges, das jedwede Spannung – so sie denn einmal aufkommt – gleich wieder niedertrampelt.

Erschienen bei Bastei-Lübbe.

Seit wann schaukeln meine Schafe?

Hat jemand zwischen den Raunächten Wäsche gewaschen und damit ein Los gezogen? Nimm, Herr Wode, das Dorf nicht achtlos links, kehre ein mit dei­nem Totenheer, der hartgerippte Steinboden sei dein Totenacker, sei dein Kältebad auf deiner wilden Jagd, entfesselter Wind, als der Nachtwind star­rend um die Häuser patrouilliert, die schneebedeckten Zweige schüttelt, hier entlang! Hat jemand die Wäsche gewaschen? Die Zweige neigen sich dankbar für jede Regung, die man ihnen antut, damit sie wenigstens ein bisschen Ge­wicht von sich stoßen können, denn lange noch, lange noch müssen sie den Perchtenmantel tragen.

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Samanta Schweblin: Sieben leere Häuser

Im Grunde ist die ganze phantastische Literatur geprägt von der kurzen Form. Hier sind die eigentlichen Meisterwerke zu finden. Viele Literaturkritiker weltweit sind davon überzeugt, dass Samanta Schweblin zu diesen Meistern gehört. Man hat die Autorin bereits in eine Reihe mit Borges und Cortázar gestellt, hat David Lynch bemüht und – fast schon konsequent – Kafka. Sicher, diese ganzen Aussagen werden vom Feuilleton getroffen und entsprechen selten der Realität (was jedem klar sein muss); man möchte den Verlagen in erster Linie Futter für ihren Umschlagtext liefern, aber auf ein paar dieser kanonischen Meister hat Schweblin als Einfluss selbst hingewiesen.

Meiner Ansicht nach wäre es dennoch besser gewesen, Schweblins eigenen Ton herauszustellen, ihre Eigenheit, ihr Können, tatsächlich ihre Meisterschaft. Ihren Charakteren passieren Dinge, gegen die sie nichts tun können. Sie verstehen nicht, was um sie herum vor sich geht oder wie sie aus dieser Situation herauskommen, in der sie sich befinden, denn es gelingt ihnen fast nie. Schweblin zeigt in der Tat einen gewissen Pessimismus auf, was unsere Fähigkeit betrifft, unser eigenes Leben zu kontrollieren. Vielleicht ist das gemeint. Das und die präzise und klare Struktur ihrer Texte, die völlig ohne Verzierungen daherkommen. Was Schweblin wirklich tut, ist, das Seltsame und Unheimliche an menschlichen Beziehungen herauszuarbeiten. Hören wir uns an, was die Autorin selbst darüber zu sagen hat:

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