Kult!

Monat: Juli 2018

Lars von Triers Antichrist

Lars von Triers 2009 erschienenes Psychodrama, das sich dem Publikum – schaut man es unter dieser Prämisse – auch in Form einer pathologischen Studie darbietet, setzt dem Horror in ganz eigener Weise Hörner auf. Es ist nicht allein nur eine Studie, die sich die uns hier gezeigte Paarbeziehung zum Gegenstand genommen hat, um einen abnormen Verlauf nachzuzeichnen, es ist auch eine, die sich die nach und nach offenbarte und somit festgehaltene Krankheitsgenese der beiden zum Anlass nimmt, das womöglich eigentliche Thema von Interesse herauszupellen. Und zwar beim Zuschauer. Der vielleicht, wie ich es tue, nach dem Wissensstand der medizinischen Psychologie von heute fragt, vor allem aber nach ihrer Praxis und Anwendung. Eine Studie also, die sich den Patienten anschaut, der ihre heutigen Dienstleistungen in Anspruch nimmt.

Antichrist
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Julio Cortázar: Vertrautheit des Phantastischen

“Was nützt ein Schriftsteller, wenn er die Literatur nicht zerstören kann?”

Die Frage stammt aus Julio Cortázars Roman Rayuela aus dem Jahr 1963, dem dichten, schwer fassbaren und raffinierten Meisterwerk, das gleichzeitig ein hochmodernes Spiel  um das eigene Abenteuer ist. Es enthält eine einführende Anweisungstabelle: “Dieses Buch besteht aus vielen Büchern”, schreibt Cortázar, “aber vor allem aus zwei Büchern.” Die erste Version wird traditionell von Kapitel eins an durchgelesen, die zweite Version beginnt bei Kapitel dreiundsiebzig und schlängelt sich durch eine nichtlineare Sequenz. Beide Lesemodi folgen dem weltmüden Antihelden Horacio Oliveira, Cortázars Protagonist, der von den lauen Gewissheiten des bürgerlichen Lebens enttäuscht ist und dessen metaphysische Erkundungen das Gerüst einer wogenden, höchst komischen Existenzkapriole bilden. Cortázar sagte lakonisch: “Ich bin auf der Seite der Fragen geblieben.” Aber es war der formale Wagemut des Romans – seine verzweigten Wege -, der auf die hartnäckigste und persönlichste Anfrage des argentinischen Autors hinwies: Warum sollte es nur eine Realität geben?

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Die Tat rettet vor der Resignation

Wir hatten dich herausgeholt aus dem Nichts, dem steinernen Garten, die Dunkelheit zwischen zwei Schatten, trügerische Schönheit, die man erblicken will, dorthin sich retten mit letzter beeindruckender Kraft, liegenbleiben, außen herum versinkt die Welt im Chaos, aber dieses Idyll ist das Brandmal auf schwarzem, wissendem Papier, in Hügelketten wellend – eine Sekunde des persönlichen Empfindens, hier spricht die Erde, nichts ist erschaffen, alles entwachsen aus dem Spiel der Gewalten; das Leben kein Spiel – was dann?

Man will seinen Körper schützen, man lässt nicht ab davon, ihn zu erhalten, aber man geht stumm ins Verderben, weil man aus irgendeinem Grunde annimmt, der Stärkere zu sein, jeder Makel muss erst bewiesen werden, in seinem eigenen Körper vermutet man nur sich selbst, die Gedanken hält man für unhörbar, für ein solides Geheimnis, wer immer weiter läuft, bekämpft die eiserne Hand in der Brust, sie wird sich nicht um das rasende Herz schließen können, die Tat rettet vor der Resignation.

Nachtrag zum Magischen Realismus

Der Magische Realismus, über den ich in der Vergangenheit immer einmal wieder gesprochen habe, ist mehr ein literarischer Stil als ein eigenständiges Genre, der sich in seiner Herangehensweise durch zwei unterschiedliche Perspektiven auszeichnet. Die eine basiert auf einer sogenannten rationalen Sicht der Realität und die andere auf der Akzeptanz des Übernatürlichen als prosaische Realität.

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Carl Barks

Vielleicht ist es gar nicht so erstaunlich wie es zunächst scheint, dass die Amerikaner nicht das gleiche Empfinden gegenüber Carl Barks aufbringen wie die Europäer. Ein wenig irritierend ist es allenthalben, wo doch fast sämtliche nennenswerte Kulturleistung von jenseits des Atlantiks zu kommen scheint, dann aber erinnert man sich vielleicht an Poe – der ebenfalls den Umweg über Frankreich (und Resteuropa) nehmen musste, um in seinem Stammland überhaupt wahrgenommen zu werden; aber auch posthum bis heute kaum  seinen Stellenwert behaupten kann (Harold Bloom hat ihn nicht einmal in die Liste der 100 literarischen Genies aufgenommen), während es in Europa nie den geringsten Zweifel gab (und auch nicht geben konnte). Ob man diesen Vergleich nun überhaupt akzeptieren will oder nicht: Carl Barks ist – wie Poe – eine weltliterarische Größe. Und auch wenn Lobo Antunes während einer Podiumdiskussion sein erlesenes Publikum nicht wenig damit brüskiert haben dürfte, dass er sagte, Homer interessiere ihn nicht, aber Micky Maus habe ihn geprägt, ist es doch der “Duckman” Carl Barks, der – neben zahlreichen anderen Figuren – Scrooge McDuck (Dagobert Duck) erfand und Donald zu einem weltweiten Phänomen machte, und dem deshalb ein Platz in der literarischen Wallhalla gebührt.

Ausgekugelte Ohren

Wie Macedonio Fernández an einem Buch schreiben, dass dazu gedacht ist, unbeachtet zu bleiben. Eine reizvolle Idee. Der Idiolekt, die chiffrierte, persönliche Sprache. Daran ändert auch ein Weblog nichts, es ist bequem so, wie ein Schuh, der sich durch Nässe erst aneicht. Früher musste man seinen avantgardistischen Sinn noch mit Flaschen voller Wein und dreckig wie ein Gossenhund in die bürgerliche Welt hineintragen, mitten in ihren Sonntagsstaat. Das hat sich sehr verändert; heute bedeutet alles Rückzug. Man kann alles von oben betrachten. Die Schmierfinken veröffentlichen ein Buch nach dem anderen, das Buch selbst ist das Ziel (oder schlimmer gar: das digitale Nichtvorhandensein – hinfortgedachtes Papier), nicht der Text, schon gar nicht die Sprache. Mit der aber allein ist alles möglich. So beharre ich darauf, manches “falsch” zu betonen, damit – wenn schon nicht die Wörter – der Klang zum Hyperbaton wird, über das man unweigerlich stolpert. Ich liebe stolpernde Zungen, noch mehr aber ausgekugelte Ohren.

Ulixes

Tatsächlich fetzten wir gestern mit einem Mietwagen über völlig verstopfte Autobahnen – was ja an sich eine glasklare Sache ist: SonntagSonne programmiert den Gehirnstamm auf die LandfraßStraßen. Wir aber hatten eine Mission, die wir dann hinter Ulm abbrechen mussten, klaustrophobische Zustände sagten also die Reise in den Odenwald ab (was ein Krankheitsbesuch geworden wäre). Um den Tag noch zu retten, rollten wir ins ehemalige Erdton-Studio, um etwas in meiner Vergangenheit herumzuwühlen und sie auf Gegenwärtigkeit zu testen. Es ist ein üppiges Land dort draußen, aber auch hier bleibt Vergangenes vergangen. Es gibt nicht einmal die Illusion von Gegenwart.

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