Kult!

Monat: November 2021

Jim Butcher: Sturmnacht (Die dunklen Fälle des Harry Dresden 1)

Sturmnacht

Harry Dresden ist zweifellos einer der besten Detektive aller Zeiten. Dass er auch noch Magier ist, mag ihm dabei helfen, tut es aber nicht. Jim Butcher hat Harry ins Leben gerufen, ohne zu ahnen, dass er damit die beste und erfolgreichste Urban-Fantasy-Serie aller Zeiten zu Papier gebracht hat. Inzwischen wurde sie zigfach kopiert, und ein Ende ist nicht in Sicht.

Hierzulande hat die Veröffentlichungspolitik dieser über alle Maßen erfolgreichen Bücher leider einen unglücklichen Weg genommen, der nun aber beendet zu sein scheint. Die ersten Bände erschienen noch bei Knaur, bevor der Verlag das Interesse verlor und Harry zu Feder & Schwert wechselte. Wäre der Verlag nicht in Konkurs gegangen, hätte er es fast geschafft, alle 17 Bände zu veröffentlichen.

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Stephen King Re-Read: Drei

Alte Sendung aus dem “Phantastikon-Podcast”

Während das erste Buch als Vorbereitung auf das, was folgen sollte, gelesen werden kann, beginnt Roland in “Drei” seine Reisegefährten zusammenzusuchen, quasi sein zweites Ka-tet (zum ersten werden wir in Band 4 alles erfahren). Das tut er nicht ganz aus freien Stücken, denn das allmächtige Ka, diese seltsame Schicksalsmacht, hat einen erheblichen Anteil daran. Ka schließt Zufälle zwar nicht aus, aber das eine vom anderen zu trennen ist fast unmöglich. Die Verbindung zwischen unserer und anderen Welten wird zwar schon in “Schwarz” angedeutet, beginnt aber erst hier wirklich imposant zu werden (und bekommt in Band 4 seinen endgültigen philosophischen Unterbau).

War ich mit dem deutschen Titel des ersten Bandes nicht einverstanden, geht für mich der hier gewählte in Ordnung. Im Original heißt das Buch “The Drawing of the Three”, wörtlich übersetzt also: Das Ziehen der Drei, und das ist kein schöner Titel. Doch das dürfte eher Zufall sein, denn bereits der nächste Band “tot.” ist so idiotisch überschrieben wie eh und je.

“Drei” nimmt die Handlung dort auf, wo “Schwarz” beendet wurde. Roland von Gilead hatte den Mann in Schwarz durch die Wüste gejagt, bis es zu einem Palaver zwischen den beiden kommt, wo Tarotkarten gezogen werden. es ist zu diesem Zeitpunkt keineswegs klar, was sie zu bedeuten haben, denn entweder hat der Mann in Schwarz Roland bestimmte Ziele klar gemacht oder sie überhaupt erst in Bewegung gesetzt. Was sie also bedeuten, wird in “Drei” allerdings klar werden. Roland schlief 10 Jahre lang nach dem denkwürdigen Treffen und der Mann in Schwarz entkam.

War der erste Band noch eine Odyssee durch ein dystopisches und sterbendes Land und gleichermaßen eine Hommage an Sergio Leone und Tolkien in drei Akten, kommen jetzt die Portale in Form von Türen ins Spiel. Solche Portale, die unsere Welt mit einer anderen verbinden, werden in der Literatur nicht selten thematisiert, ob nun C. S. Lewis das Portal nach Narnia öffnet oder Philip Pullman in seinem “Goldenen Kompass” Türen in jede x-Beliebige Welt bereit hält. Selbst der Kaninchenbau bei Alice ist so ein Portal. Es funktioniert nicht selten nach dem Muster: Was wir denken können, das gibt es auch. Bei King hat ein Portal allerdings keinen märchenhaften Charakter.

Dass alle Welten miteinander in Verbindung stehen, ist ein höchst philosophischer Gedanke, der weniger mit Träumen zu tun hat. Obwohl der Begriff des Multiversums erst 1963 im Kontext auf Michael Moorcocks “Eternal Champion” zum ersten Mal Anwendung fand, gab es bereits im altgriechischen Atomismus entsprechende Denkkonzepte, die die Wirklichkeit betrafen.

Zunächst wird Roland von einem riesigen Hummer angegriffen und verliert zwei Finger seiner rechten Hand. Daraufhin wandert er im Fieber an diesem Strand entlang, der ihn mit drei Türen konfrontiert, von denen jede nach New York City führt, allerdings zu verschiedenen Zeiten.

Stephen King strukturiert seine drei Türen als jeweils eigenen Teil des Romans, der sich auf jede der Figuren konzentriert, der wir jenseits dieser Türen begegnen. Zu behaupten, er habe seinen Erzählmotor angeworfen, wie man das ab und zu lesen kann, steht in keinem Verhältnis zu der übersprudelnden Fabulierlust, der wir in diesem Buch beiwohnen. King feuert – wie man so schön sagt – aus allen ihm zu Verfügung stehenden Rohren. Und der Mann hat schlicht die größte Menge davon.

Im ersten und längsten Abschnitt des Buches trifft Roland zunächst auf Eddie Dean, einem Drogensüchtigen, dem Roland das Leben rettet, als er ihn aus seiner Situation als Drogenschmuggler heraus holt. Die zweite Tür führt zu Odetta Holmes, einer im Rollstuhl sitzenden schwarzen Bürgerrechtlerin mit multipler Persönlichkeitsstörung; die dritte Tür schließlich ist ein reines Ablenkungsmanöver. Sie führt zu Jack Mort und nicht zu einem Mitglied des künftigen Teams. Er war der Mann, der Odetta vor einen Zug warf, woraufhin sie ihre Beine verlor, und eine jener üblen Persönlichkeiten, dessen Handlungen weitreichende Auswirkungen auf die ganze Reihe haben – und AUSWIRKUNGEN ist genau das, worum es in diesem zweiten Band hauptsächlich geht.

Betrachtet man “Schwarz” als den bizarren Prolog durch eine vage und verschwommene Geschichte, werden die Dinge hier konkret und nehmen ihre unverrückbare Form an. Das ist nicht nur durch den Inhalt gegeben, sondern auch durch Kings Tonalität. “Schwarz” war eines von Kings weniger erfolgreichen Büchern, weil niemand wusste, dass King noch mehr vorhatte. Und auch King wusste es nicht immer. Wer allerdings den ersten band nicht gelesen hat, wird mit dem Verlust von Rolands Fingern nicht viel anfangen können, wer die späteren Bücher nicht liest, wird Morts Geschichte nicht vollumfänglich verstehen. Und wer nicht weiß, wer Jake ist, wird aus seiner Erwähnung in diesem Band ebensowenig schlau.

Tatsächlich ist das Zielpublikum des Dunklen Turms der sogenannte “Dauerleser”, wie Kings Stammleser genannt werden.

Es geht stehts um die Fäden und wie sie verknüpft werden – und das betrifft nicht nur die Saga, die im Zentrum von Kings Schaffen steht – sondern sein Werk an sich. Linien und Themen tauchen immer wieder auf, werden ein- und ausgeblendet, und für sich allein genommen bedeuten sie vielleicht nicht viel. Aber als Teil des Ganzen sind sie etwas Besonderes.

Das ist der Grund, warum die Serie so beliebt ist; wenn man sie als King-Kenner liest, hat man das Gefühl, ein Teil von etwas zu sein. Das ist gut zu beobachten, wenn man die Rezensionen jener liest, die sich mit King nie groß beschäftigt haben.

Jake Chambers stößt übrigens erst im nächsten Teil zur Gruppe. Es ist natürlich der gleich Jake, der nach seinem ersten Tod in New York nach Mittwelt kam und dort in einen Abgrund stürzte. Die Verbindung zwischen Jake und dem Revolvermann ist von Anfang an komplex, wobei “Drei” in dieser Beziehung nur eine kurze Zwischenstation markiert. Wie sehr das Lebend es Revolvermannes mit dem von Jake Chambers zusammenhängt, erfahren wir im nächsten Band.

Alice (Das Wunderland)

Alte Sendung aus dem “Phantastikon-Podcast”

Es war der 4. Juli 1862, als Lewis Carroll (in Wirklichkeit Charles Dodgson) – angeblich ein schüchterner und exzentrischer Mann, der Mathematik an der Oxford University lehrte, die drei kleinen Töchter seines Freundes Henry Liddell zu einer Bootsfahrt entlang der Themse mitnahm. Aus dem, was sich inzwischen aus seinen Tagebucheinträgen ableiten lässt, hat er sich spontan eine lustige und absurd ausgefallene Geschichte ausgedacht, um sie zu unterhalten. Dieser Tag ging in die Literaturgeschichte ein.

Kurz zusammengefasst: Ein junges Mädchen namens Alice (nach einer der Liddell-Schwestern selbst benannt) stürzt versehentlich in eine bizarre Fantasiewelt, in der es auf verschiedene anthropomorphe Kreaturen trifft, einen Wahnsinnigen, der eine sehr seltsame und sehr wunderliche Teeparty veranstaltet, und eine merkwürdige Herzdame, die gerne Krocket spielt, wobei sie Flamingos als Schläger benutzt. Jahre später erinnerte sich Carroll an die Geschichte und entschied sich, sie weiterzuentwickeln und zu transkribieren.

Die veröffentlichte Version, die von John Tenniel illustriert wurde, war ein sofortiger Erfolg, der von Erwachsenen und Kindern gleichermaßen geschätzt wurde. Selbst die berüchtigte, schwer zu beeindruckende Queen Victoria war amüsiert. Alice im Wunderland war reiner Eskapismus (wie jede gute Literatur) – völlig absurd und doch wunderbar bunt, erhebend und unendlich inspirierend.

Aber, wie es vielleicht bei jedem erfolgreichen Kunstwerk unvermeidlich ist – sei es literarisch, theatralisch oder filmisch -, wurde Carrolls Geschichte in den kommenden Jahren einer immensen Prüfung unterzogen. Kritiker und Wissenschaftler brüteten über die Geschichte und zerlegten jede Zeile in verzweifelten Versuchen, eine potenziell kodierte, tiefgründige und vielleicht unheimliche verborgene Bedeutung aufzudecken. Als außergewöhnlich intelligenter und offensichtlich gut belesener Mann ist es wahrscheinlich, dass Carroll bei der Entstehung seiner eigenen Geschichte auf verschiedene Einflüsse zurückgreifen konnte. Tatsächlich ist das Buch gefüllt mit literarischen und kulturellen Anspielungen sowie einer Reihe von mathematischen Problemen, Denksportaufgaben und Rätseln, die frustrierend unbeantwortet bleiben. Carroll scheint sich an seiner eigenen klugen Kreativität zu erfreut zu haben, dass seine Leser über ihre Lösungen und Konnotationen bis in alle Ewigkeit nachdenken und darüber streiten können.

Von allen Analysen, die Carrolls Arbeit im Laufe der Jahre erdulden musste, sind sich mindestens zwei darüber einig, dass Caroll die Erfahrungen seiner Protagonisten tatsächlich selbst gemacht haben muss, und zwar, indem er halluzinogene Drogen konsumierte. Noch verunglimpfender ist jedoch die Frage nach Carolls Beziehung zur echten Alice – der Tochter seines Freundes, der er die Geschichte als erste vorlas. Kurz: Man hat Caroll der Pädophilie bezichtigt.

Alice im Wunderland ist in der Tat ein Rätsel, und es ist unwahrscheinlich, dass außer dem Autor jemals jemand seine wahren konnotativen Bedeutungen vollständig verstehen wird. Dies ist jedoch zweifellos ein wesentlicher Teil der Attraktivität des Buches. Seit mehr als einem Jahrhundert lädt die Mehrdeutigkeit und Komplexität der Geschichte verschiedene Künstler — von Film- und Theaterregisseuren über Modestylisten bis hin zu Tänzern, Fotografen und anderen Kunstschaffenden — dazu ein, ihre eigenen Interpretationen von Carrolls Geschichte zu finden. Walt Disney und Tim Burton sind nur zwei der Legenden aus der Filmwelt, die Alices Geschichte verfilmt haben, das russische Model Natalia Vodianova hat sich als junge Heldin für die Vogue ablichten lassen, und der spanisch-amerikanische Bildhauer José de Creeft hat ihr zu Ehren eine Bronzestatue geformt, die im New Yorker Central Park steht. Die Herzkönigin, der wunderbar verrückte Hutmacher, und die grinsende Cheshire-Katze haben ebenfalls viel Ruhm erlangt und sind so etwas wie kulturelle Symbole geworden.

Die Natur dieser Interpretationen ist ebenso faszinierend. Disneys fröhliche, familienorientierte Animation wird von viel Gesang und Tanz begleitet, während Burtons Version von 2010 mit Johnny Depp und Mia Wasikowska eine viel dunklere Angelegenheit ist. Salvador Dali schuf 12 Illustrationen auf der Grundlage des Romans, die so surreal und verblüffend sind wie Carrolls Originalgeschichte. London verfügt über einen angemessen exzentrischen Boutiquenladen, der Alices Utensilien (Alice Through the Looking Glass) gewidmet ist, sowie über einen Cocktailklub und einen malerischen, aber dennoch schrulligen Teeraum im Wonderland-Stil im Sanderson Hotel.

Selten hat eine Kindergeschichte einen so zeitlosen und weltweiten Reiz ausüben können – umso außergewöhnlicher, dass sie unbeschwert, tiefgründig, unheimlich, modisch, schön und bizarr zugleich ist und praktisch jeden denkbaren Aspekt der Populärkultur durchdringt. Alice und ihr wahrhaft bemerkenswertes Erbe werden sicherlich noch Jahrhunderte andauern – die charmante junge Protagonistin und ihre Wunderlandfreunde sind nicht nur in Carrolls Büchern, sondern auch in unzähligen Interpretationen und Bearbeitungen für immer verewigt worden.

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