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Monat: Mai 2025 (Seite 1 von 6)

Feenkreise

Stell dir folgende Szene vor: Du spazierst durch einen malerischen Wald. Die Vögel zwitschern in der Ferne, die Sonne scheint dir in den Nacken, als du auf einen faszinierenden Ring von Pilzen mitten im Wald stoßen. Dein erster Impuls ist wahrscheinlich, diesen seltsamen Anblick näher zu untersuchen. Wenn man jedoch auf den Volksglauben hört, sollte dein erster Gedanke sein, vor diesen Feenkreis-Pilzen wegzulaufen. Seit Jahrhunderten werden solche Erscheinungen auf der ganzen Welt mit dem Wirken von Feen, Hexen oder sogar dem Teufel in Verbindung gebracht, obwohl einige glauben, dass die Kreise ein Zeichen von Glück sind. Feenkreise waren im Laufe der Geschichte ein wichtiger Bestandteil der Folklore und fanden schließlich auch Eingang in andere Medien wie Literatur und Kunst.

Credit: unukorno

Heutzutage ist der Pilz, der dieses Naturphänomen verursacht, gut bekannt. Mycel ist ein Pilzgeflecht, das in fruchtbarer, feuchter Umgebung wächst. Unter guten Bedingungen entwickeln sich die Sporen zu Pilzen. Der bekannteste Vertreter ist der essbare Schopftintling oder Feenringchampignon. Diese ragen aus dem Boden heraus und bilden einen gut sichtbaren Ring. Unterirdisch verzweigt sich das Myzel unter dem Gras, bewegt sich vom Zentrum aus nach außen, ernährt sich von organischen Stoffen und zersetzt diese dabei. Das tote Myzel bildet eine dicke, wasserabweisende Matte, die den Graswurzeln Nährstoffe und Feuchtigkeit entzieht. Schließlich verdorrt das Land innerhalb des Rings und stirbt vor Hunger ab. Der vordere Rand des Rings bleibt jedoch üppig und grün, da das fressende, sterbende und sich zersetzende Myzel Dünger freisetzt. Dieser Kreislauf kann sich über Jahrhunderte fortsetzen und der Ring kann dabei wachsen, schrumpfen und sich durch die Landschaft bewegen, was die einen erfreut und die anderen stört.

Feenkreise sind überall auf der Welt aufgetaucht und viele Kulturen haben ihre eigenen Erklärungen dafür gefunden. Zwar werden sie gemeinhin mit Feen in Verbindung gebracht, doch es gibt viele andere Erklärungen für diese besonderen Ringe. So sollen die Ringe in Österreich von Drachen verursacht worden sein, die die Kreise mit ihren Schwänzen in den Boden brannten. In dem Gebiet konnte anschließend nichts mehr wachsen außer Pilzen.

Die Deutschen nannten diese Formation „Hexenringe” – einen Ort, an dem sich Hexen versammelten. Sie glaubten, dass die Kreise für jeden, der sich an ihnen zu schaffen machte, äußerst gefährlich waren. Die Franzosen glaubten an eine ähnliche Geschichte, nannten sie aber „ronds de sorcières” (Hexenkreise). Tatsächlich befindet sich einer der ältesten Feenkreise in Frankreich und soll über 700 Jahre alt sein. In der skandinavischen Folklore heißt es, dass die Kreise nicht von Feen, sondern von tanzenden Elfen in den Boden gebrannt werden – daher nannte man sie Elfdans. Wenn ein Mensch den Kreis betritt, kann er die magischen kleinen Wesen sehen, wird aber auch in ihren Bann gezogen. Die Niederländer wussten, dass der Kreis der Ort war, an dem der Teufel seine Milch kochte und dass die Milch sauer wurde, wenn ein Tier den Kreis betrat. Ein anderer europäischer Glaube besagte, dass man sein Augenlicht verliert, wenn man einen Feenkreis betritt. Die Schweizer und Russen glaubten, die Kreise markierten versteckte Schätze, die nur mithilfe einer Fee oder Hexe gefunden werden konnten.

Illustration von Warwick Goble

In der Folklore von Großbritannien und Irland sind Feen vielleicht mehr als anderswo weit verbreitet. Hier warnt man eindringlich davor, einen Feenring zu betreten, da dies der Ort war, an dem die Fabelwesen tanzten. In einigen Legenden dienten die Pilze den Feen als Schemel, wenn sie vom Tanzen müde wurden. In anderen Legenden wiederum benutzten die Feen die Pilze als Regenschirme oder Esstische. Eine walisische Sage besagt, dass die Kreise darauf hinweisen, dass sich unter dem Ring ein Feendorf befindet. Die Waliser glaubten außerdem, dass das Pflanzen von Blumen in der Nähe dieser Kreise ihre Fruchtbarkeit und ihr Glück steigern würde, solange sich Menschen fernhielten.

Allgemein wird angenommen, dass Feenkreise gefährliche Orte sind, die gemieden werden sollten, da sie mit bösartigen Wesen in Verbindung gebracht werden. In vielen Mythen wird davor gewarnt, dass man jung stirbt, wenn man es wagt, einen solchen Ring zu betreten. Außerdem soll man für die Welt der Sterblichen unsichtbar werden und dem Ring nicht entkommen können. Angeblich wird man auch sofort in das Feenreich transportiert. Für deine Dummheit könntest du auch ein Auge verlieren. In jedem Fall bist du gezwungen, um den Ring zu tanzen, bis du an Erschöpfung oder Wahnsinn stirbst.

Um diesem Schicksal zu entgehen, kannst du bestimmte Maßnahmen ergreifen: Laufen beispielsweise neunmal um den Ring (aber wirklich nur neunmal, denn zehnmal ist zu viel und macht das Verfahren rückgängig). Angeblich kann man den Ring bei Vollmond straffrei umrunden, allerdings nur in der Richtung, in die die Sonne tagsüber wandert. Wenn du das tust, hörst du vielleicht die Feen unter der Erde tanzen. Du kannst auch einen Hut verkehrt herum tragen, denn das soll die Feen verwirren, sodass sie dir keinen Schaden zufügen.

Die Existenz von Feenzirkelpilzen beschränkt sich nicht nur auf mündliche Überlieferungen, sondern ist auch in die berühmteste englische Literatur eingegangen, nämlich in die Werke von William Shakespeare. In „Ein Sommernachtstraum” bezieht sich einer der Elfen auf Feenringe:

„Und ich diene der Feenkönigin, um ihre Pilze auf dem Grün zu betauen.”

Es war seine Aufgabe, die Feenringe zu bewässern. Shakespeare erwähnt Feenzirkelpilze auch in “Der Sturm” und weist darauf hin, dass das Gras im Inneren der Ringe für Tiere giftig ist.

Hell erleuchtetes Elfenbein

dass ich den Tanz nicht mehr fürchte, nicht einmal
die Treppen, die ihn unterbrechen und Skelette sich
an die Wände kauern, ein schlotterndes Rippchen
nagt an ihrem Selbstvertrauen, der knochigen Gewissheit,
einst Fleisch geteilt zu haben mit den hungernden
Größen der Unterwelt. Doch nahmen sie alles; was bleibt
ist hell erleuchtetes Elfenbein. Einmal muss man auf dem Arsch sitzen können und strampeln, die Luft aufwirbeln (vielleicht wirbelt auf etwas anderes mit).
Im Keller ist nichts mehr, ich habe nachgeschaut. Sauberkeit hat hier eine Menge zerstört. Der nächste Staubintervall wird ein anderes Bild zeichnen und andere Dinge benetzen. Warum nicht einfach eine Lücke lassen für gewesene Dinge? Sie könnten wiederkehren, wenn ich nur den richtigen Schlüssel finde.
Vor Kurzem sprach ich bereits den ersten Satz einer neuen Monarchie.

Manche Tage sind das Gewürm unserer Erzählungen.

Bruno Schulz

Bruno Schulz drückt die Sache so aus: Das Unwirkliche ist das, was man untereinander nicht teilen kann. Was auch immer aus dieser Gemeinsamkeit herausfällt, das fällt aus dem Kreis menschlicher Angelegenheiten, geht über die Grenzen des menschlichen Theaters, über die Grenzen der Literatur hinaus.

Das Problem mit Bruno Schulz ist: jeder weiß, dass er ein Genie ist, jeder spricht über seinen enormen Einfluss, kommt es aber hart auf hart, bleiben diese Aussagen auf Banalitäten beschränkt, als wäre das Maß dichterischer Größe abhängig von einer Gemeinschaft populärer Entscheidungen. Auf der anderen Seite ist das auch nicht sonderlich überraschend.

Schulz überfällt den Leser von der ersten Seite an und erlaubt ihm nicht, ein einziges Mal innezuhalten, erlaubt ihm nicht, seine Gedanken zu sammeln. Seine Niederträchtigkeit liegt in der Tatsache, dass er jeder Übersetzung widersteht, uns aber dazu ermutigt, zu imitieren, zu paraphrasieren und zu fälschen. Es ist einfacher in Schulz’ Sprache zu sprechen als über Schulz zu sprechen. Lesen wir einen einzelnen Absatz, wissen wir sofort, das ist Schulz, obwohl wir nicht wissen, was wir über den gelesenen Absatz sonst noch sagen könnten.

Selbstporträt von ca. 1933, Bleistift, Kohle, Papier; 11,4 × 9,6 Adam-Mickiewicz-Literaturmuseum in Warschau

Bruno Schulz ist ein Magier, der mit der Exaktheit einer Traumsprache hantiert, ein geistiger Bruder Kafkas, mit dem er überraschende Lebensmomente teilt. Kafkas Texte sind Bleikristalle, während Schulz eine lyrische Phantastik schreibt, die dem Surrealismus und dem Expressionismus noch näher kommt. Die Vernichtung des Individuums aufgrund der Gleichschaltung durch die Massenindustrie sah er voraus. Ein Entkommen durch den Traum ist, wie wir heute wissen, unmöglich. Aber es gibt eine Schönheit des Zerfalls, die tröstlich ist. Scheitern, Vergeblichkeit – sind schließlich die Dinge, die wir haben.

Bruno Schulz wurde in Drohobycz, das heute in der Ukraine liegt, in eine jüdische Familie hineingeboren. Die Gegend war damals Teil des österreichischen Kaiserreichs. Sein Vater besaß ein Stoff- und Kleidergeschäft, überließ die Leitung aber seiner Frau, weil es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten stand.

Schulz studierte Architektur an der Universität Lemberg und Bildende Kunst in Wien, spezialisiert auf Lithohraphie und Zeichnung. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt arbeitete er von 1924 bis 1939 als Kunstlehrer in der lokalen Turnhalle. Einer seiner Schüler erinnerte sich später daran, dass Schulz eine sehr merkwürdige Erscheinung besaß und man hinter seinem Rücken über ihn lachte. Er trug stets eine Flanell-Jacke und einen Schal um den Hals. Nachdem sein Freund Wladyslaw Riff an Tuberkulose starb, hörte er über Jahre hinaus auf, Prosa zu schreiben. Als die Kammer von Riff desinfiziert wurde, verbrannte man auch gleich alle Manuskripte und Briefe von Schulz, die dort gelagert waren.

Schulz startete seine literarische Karriere erst in den 1930ern. Seine Rezensionen erschienen in der Literaturzeitschrift “Wiadomosci Literackie” und er korrespondierte mit den polnischen Avantgardisten Witold Gombrowicz und Stanislaw Ignacy Witkiewicz, begab sich aber nie in literarische Kreise. Mitte der 30er verbrachte er Zeit in Warschau und Paris, stand in regem Kontakt mit der Dichterin Deboah Vogel und anderen Frauen, heiratete aber nie.

1939 erhielt er den Goldenen Lorbeer der polnischen Akademie für Literatur. Als 1939 Deutschland Polen überfiel und der Rest des Landes von der Sowjetunion besetzt wurde, lebte Schulz im von der Roten Armee okkupierten Gebiet, bis die Nazis auch die UdSSR angriffen und der braune Fäzes Drohobycz besetzte.

1942 wurde Schulz auf offener Straße von den Nazis erschossen.

Die Kurzgeschichtensammlung “Der Zimtladen” (1934), gefolgt von “Das Sanatorium zur Sanduhr” (1937) begründeten den Ruhm, den Schulz bis heute weltweit genießt.

In seinen Geschichten entwirft Schulz eine mystische Kindheit, gepaart mit autobiographischen und fantastischen Elementen. Das Artifizielle dieser Prosa ist außerordentlich und spielt mit dem Ungesagten. Eine herkömmliche Entwicklung von Handlung und dergleichen gibt es nicht. Die Welt des Bruno Schulz folgt ihrer eigenen Logik, die Metamorphose ist ihr großes Thema.

Betibú / Claudia Piñeiro

Ein Mann mit durchtrennter Kehle wird in seinem Haus in einem geschlossenen Viertel (Barrio Cerrado) in Buenos Aires von seiner Haushälterin aufgefunden. Hat er Selbstmord begangen? Wurde er getötet? Und wenn ja, warum? Hat sein Tod etwas mit dem Mord an seiner Frau drei Jahre zuvor zu tun? Das sind die Rätsel, denen Claudia Piñeiro in ihrem Roman Betibú auf den Grund geht. Eine Geschichte, in der sich Realität und Fiktion, Journalismus und Literatur überschneiden.

Claudia Piñeiro in ihrem Roman Betibú

Zwar ist Piñeiro eine gefeierte argentinische Autorin, aber in ihrer Popularität stieg sich noch einmal besonders an, als sie eine Aussage zur Netflix-Dokumentation Carmel über den Tod von Marta García Belsunce machte. Sie sagte, dass ein privates Viertel ein guter Schauplatz für einen Krimi ist, weil es die klassische Trope des “locked room” in ähnlicher Weise wiederholt: Jemand stirbt in einem verschlossenen Zimmer und der Verdächtige gehört zum engen Kreis des Opfers.

Zur Erinnerung:

María Marta García Belsunce war eine argentinische Soziologin, die am 27. Oktober 2002 tot in ihrem Haus im Carmel Country Club, einer geschlossenen Wohnanlage in Pilar, Buenos Aires, aufgefunden wurde. Zunächst wurde ihr Tod als Unfall eingestuft, da man annahm, sie sei in der Badewanne ausgerutscht und gestürzt. Eine spätere Autopsie offenbarte jedoch, dass die durch fünf Schüsse in den Kopf ermordet wurde.

Der Fall sorgte in Argentinien für großes mediales Aufsehen und führte zu mehreren Gerichtsverfahren. Ihr Ehemann, Carlos Carrascosa, wurde zunächst des Mordes schuldig gesprochen, später jedoch wieder freigesprochen. Im Jahr 2022 stand ihr ehemaliger Nachbar, Nicolás Pachelo, vor Gericht, wurde aber ebenfalls freigesprochen. Bis heute bleibt der wahre Täter unbekannt.

Dieser Mord war also eine der Ausgangsideen für Betibú. Eine Frau wurde tot in einem Landhaus aufgefunden. Zunächst wurde es als Unfall abgetan, doch es handelte sich zweifellos um einen Mord. Der Fall schockierte auch im Roman die Gesellschaft und wurde monatelang fast ausschließlich in den Medien behandelt. Jahre vergingen, und die Justiz fand den Schuldigen nie. Die meisten Menschen glauben, dass der Mörder ihr Ehemann war. Pedro Chazarreta in der Fiktion, Carlos Carrascosa im oben geschilderten Fall. Der Roman beginnt mit Chazarretas Tod.

Betibú ist der Spitzname der Protagonistin. Nurit Iscar, eine Bestseller-Krimiautorin, ist in doppelter Hinsicht frustriert: von ihrem ersten Liebesroman – einem Flopp – und von der Beziehung, die ihn inspiriert hat. In den Fünfzigern ließ sie sich vom Vater ihrer Kinder scheiden und setzte auf ihre große Liebe, Lorenzo Rinaldi, den Herausgeber eines der beiden wichtigsten Printmedien des Landes. Doch er machte nur leere Versprechungen und verließ seine Frau nie.

Ihr Spitzname ist das argentinische Wort für Betty Boob, eine der bekanntesten Cartoonfiguren der 1930er Jahre. Sie war eine der ersten weiblichen Animationsikonen und tauchte erstmals in den 130er Jahren als anthropomorphe Pudeldame auf, die sich aber schnell zu einer menschlichen Figur mit schwarzen Locken, einem markanten Flapper-Stil und einem frechen Charme entwickelte. Und Nurit sieht dieser Figur also ähnlich. In diesen unzähligen kleinen Geschichten, die sich in diesem Roman zusammenfinden wie mehrere kleine Bäche sich zu einem Hauptstrom vereinen, wird auch erzählt, wie sich Betty Boob auf Nurit Iscar anwenden ließ. Ohnehin sind hier viele Popkulturelle Verweise zu finden, und natürlich wird auch Julio Cortázar erwähnt.

Betty Boob
Betty Boob; (c) Fleischer Studios

Die andere Hauptfigur ist Jaime Brena, Polizeireporter von Beruf, der über den Mordfall an Chazarretas Frau berichtet hatte. Auch er ist gleich doppelt frustriert. Zum einen wegen einer Trennung, zum anderen, weil er aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit Lorenzo aus seinem lebenslangen Resort verbannt und böswillig in den Gesellschaftsteil versetzt wurde, obwohl jeder weiß, dass er die beste Polizeireporter des ganzen Landes ist. Lorenzo Rinaldi verkörpert den Kapitalismus, den Ehrgeiz, die Gewinnmaximierung für das Unternehmen, wie wir es überall beobachten können: langjährige Mitarbeiter werden entlassen und durch billige Arbeitskräfte ersetzt. Natürlich steht dieser Typ auch für das Zeitalter des Postmodernismus, den Hedonismus, die ständige Suche nach dem unmittelbaren Vergnügen, die Oberflächlichkeit.

Es gibt zwei Hauptschauplätze: das private Viertel La Maravillosa und die Redaktion der Zeitung El Tribuno. In Maravillosa schwingt die wirtschaftliche Ungleichheit mit, und in der Redaktion werden die Unterschiede zwischen den Generationen hervorgehoben. Das Verbrechen spielt sich im privaten Viertel ab. ab. Paradoxerweise zieht sich eine kleine Gruppe wirtschaftlich privilegierter Menschen hier in ein Paradies aus Natur und Entspannung zurück, um sich vor der Unsicherheit in den Großstädten der Dritten Welt zu schützen. Niemand kann sich vorstellen, dass die Gefahr von innen kommen könnte. Die Oberschicht von Buenos Aires, die Herren und Meister dieser Ländereien innerhalb der Mauer, und das Personal, das sie für Hausarbeit und Freizeitgestaltung brauchen: Dienstmädchen, Gärtner, Hausmeister, Tennis- und Golflehrer usw., leben dort zusammen. Die Grundbesitzer setzen ihre Regeln durch, um ihre materiellen Güter zu schützen, sogar über die Gesetze des Staates hinaus. Nurit, die keiner dieser beiden Schichten angehört, beobachtet und rügt diese eingebürgerten Verhaltensweisen in diesem Stadtviertel.

Dazu muss man wissen, dass diese sogenannten Countrys in Buenos Aires sich hauptsächlich in der Peripherie der Stadt, insbesondere in den nördlichen Vororten wie Pilar, Escobar und Tigre befinden und bereits in den 1940er Jahren nach US-amerikanischem Vorbild gebaut wurden. Zunächst wurden sie als Wochenendresidenzen für wohlhabende Stadtbewohner genutzt, aber als in den 1990ern die Kriminalität in Buenos Aires zunahm, entschieden sich viele obere Mittelschichtsfamilien, dauerhaft in diese geschlossenen Siedlungen zu ziehen.

In der Redaktion von El Tribuno hingegen arbeiten der Journalist von gestern mit Stift und Papier und die neuen akademischen Journalisten des digitalen Zeitalters, deren Hauptinformationsquelle Google ist, Seite an Seite. Die gegensätzlichen Gewohnheiten der Babyboomer und der Millennials treffen in diesem Raum aufeinander und werden durch Jaime Brena und “den Neuen” repräsentiert. Gleichzeitig wird die Zeitung von ihrer unternehmerischen Seite gezeigt, wo Entscheidungen auf der Grundlage wirtschaftlicher Ziele getroffen werden.

Der “Neue”, der von fast jedem nur “Junge” genannt wird, ist zwar jetzt für die Polizeidokumentation zuständig, aber da Brena sein Leben diesem Bereich gewidmet hat, verfügt er über wichtige Kontakte: hochrangige Polizeibeamte, Staatsanwälte und Kenntnisse der Gerichtsmedizin, also beschließt er, seinem Nachfolger zu helfen. Brena gibt Tipps aus der Praxis, unter anderem, wie man Belletristik liest, und vor allem, was man lesen soll.

Nurit hingegen wird ihre Erfahrungen als Schriftstellerin nutzen, um ihre Intuitionen und Erkenntnisse festzuhalten und sie mit den Lesern von El Tribuno zu teilen. Eine Non-Fiction-Geschichte in der Art, wie es Truman Capote mit “Kaltblütig” machte. Sie trifft sich auch mit ihren Freundinnen und diskutiert über das Leben, die Liebe, das Vergehen der Zeit und kulturelle Ausdrucksformen wie Theater, Kino und Bücher.

Ausgehend vom Mord an Chazarretas Frau reflektieren sie über die große Zahl unaufgeklärter Verbrechen an Frauen, die sich im kollektiven Gedächtnis Argentiniens angesammelt haben. Norma Mirta Penjerek, Oriel Briant, Dr. Giubileo, María Soledad Morales, María Marta García Belsunce und viele andere. Der Roman bekräftigt, dass es keine unaufgeklärten Verbrechen an Männern, keine unaufgeklärten Morde an Männern gibt. Und auch wenn das nicht ganz richtig ist, fußt die Tendenz dennoch auf einer bitteren Wahrheit.

Die Morde im Roman gehen weiter und die Figuren entdecken, was hinter all diesen Todesfällen steckt. Im Laufe der Geschichte finden sie die Antworten auf die Frage, wer es getan hat und warum. Der erste Mord (an Chazarretas Frau), bleibt wie in der Realität: unaufgeklärt. Die anderen werden zwar aufgeklärt, aber der Roman zeigt uns das große Ganze, die Opfer, die Täter und, was uns die Realität immer verwehren wird: die wirklichen Ursachen.

Claudia Piñeiro setzt durch ihre Figuren – die Schriftstellerin und die Journalisten – das Puzzle zusammen. Sie verwendet Teile, die wir leider jeden Tag in den Medien sehen, aber sie zeigt uns auch die Dinge, die von Geld und Machtmonstern gekauft und später vertuscht werden, um jeglicher Strafe zu entgehen. Die Erzählung erfolgt in der dritten Person und mit Zugang zu den Gedanken der Hauptfiguren. Alle Charaktere, auch die Nebenfiguren, sind leicht zu erkennen, obwohl sie erzählerisch ineinandergleiten, so dass sie in einem Atemzug dargestellt werden. Auch die Beschreibung der Schauplätze ist präzise. Betibú wurde 2014, vier Jahre nach seinem Erscheinen, verfilmt. Ist aber nie bei uns erschienen und hat noch nicht einmal einen deutschen Untertitel, was natürlich Bände spricht.

Yuggoth 28 – Erwartung

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

Ich kann nicht sagen, warum manche Dinge in mir
Ein Gefühl von unergründeten Wundern hervorrufen
Oder von einem Riss in der Wand des Horizonts,
Der sich zu Welten öffnet, in denen es nur Götter gibt.
Da ist eine atemlose, verschwommene Erwartung,
Wie die an riesige alten Prunkstücke, an die ich mich halbwegs erinnere,
Oder auf wilde Abenteuer, unkörperlich, ekstatisch
Und so ungebunden wie ein Tagtraum.

Das Rätsel liegt in Sonnenuntergängen und fremden Stadttürmen,
Alten Dörfern und Wäldern und Nebelschwaden,
In Südwinden, dem Meer, sanften Hügeln und beleuchteten Städten,
Alten Gärten, halbgehörten Liedern und dem Mondfeuer.
Aber obwohl jede dieser Verlockungen allein schon das Leben lebenswert macht,
Errät oder vermutet keiner, was sie zu geben bereit sind.

Roderers Eröffnung / Guillermo Martinez

Roderer ist ein „zerebraler Held“, der eifrig und manisch nach der Möglichkeit eines „neuen Denkens“ sucht, das der aristotelischen binären Logik (Sein oder Nichtsein), die er als starres Korsett und philosophisches Gefängnis betrachtet, entkommt, um das „ausgeschlossene Dritte“ zu finden. „Etwas“, wie er sagt, zwischen Sein und Nichtsein, vermutet er in den Schöpfungen der Kunst. Es ist eine Analyse des Seins des Menschen und des Seins der Sprache, die die tiefe Verbindung zwischen ihnen berücksichtigt, wie Michel Foucault sie in den 1970er Jahren vorschlug und ihr den Status einer entscheidenden Frage des zeitgenössischen Denkens zuschrieb. Im Schatten dieses Gedankens (und des Poststrukturalismus im Allgemeinen) scheint Roderers einsames und herzzerreißendes Genie zu wachsen, der binären Logik zu entkommen, Nietzsche folgend, sich im Wandel, in den Fluktuationen zu behaupten und die verlorenen Verbindungen, die Zwischenzustände des Denkens wiederzufinden.

Roderers intellektuelles Bemühen gerät auf eine schiefe Bahn, wenn er sich seinen „Erleuchtungen” hingibt, sich im Konflikt mit den Göttern und der Zeit des Todes wähnt und mit seiner Krankheit, seinem Schmerz und seiner unvorstellbaren Einsamkeit nicht zurechtkommt. Das narrative Design, das Roderers Leben umgibt, folgt einer binären Logik, die in Gegensätzen und Zwielicht verharrt – wie das Leben selbst –, von dem er sich zu isolieren versucht, um seinen „Blick in den Abgrund“ zu wagen. Das luzide Schachspiel, das schulische Wissen und die Selbsterziehung, die Intelligenz und das Genie, Cambridge und die Falklandinseln, das universitäre Wissen und die heilige Vision von Machu Picchu, der Himmel und die Hölle – kurz: die Funktionsweise und Vereinfachung der Intelligenz – wiederholen sich bis zur Hartnäckigkeit. Roderer kämpft gegen diese Tradition an – allein und krank.

Man könnte meinen, dass die Handlung dieses Romans ausschließlich aus der intellektuellen Beziehung zwischen Roderer und dem Erzähler besteht. Da es sich jedoch um eine Allusion handelt, ist dies ein guter Ausgangspunkt, um den Inhalt einer Beziehung zu verstehen, die nicht in den Bereich der Freundschaft, sondern in den eines eventuellen Wettstreits ungewöhnlicher Intelligenzen fällt und somit in die letzte Bedeutung der Suche nach Antworten auf den Schmerz des Daseins eintaucht.

Roderer kommt in die Stadt Puente Viejo, um dort die weiterführende Schule zu besuchen. Er lebt allein mit seiner Mutter, einer aufopferungsvollen Frau, die versucht, alle Bedürfnisse des wissbegierigen Teenagers durch die zahllosen Bücher zu decken, die ihn überallhin begleiten – auch in die neue Schule. Dort sucht er Zuflucht in ihnen und versucht, seinen Platz und seinen Sinn im Leben zu entschlüsseln. Zu Beginn wird er in einem komplexen Kräftemessen in einer Schachpartie mit dem Erzähler konfrontiert. Dieser ist ein hervorragender Spieler und erlebt mit, wie Roderer ihn nach und nach geistig erstickt und schließlich besiegt – fast so, als wäre es eine reine Formalität gewesen.

Doch ab diesem Moment wird der Protagonist und Erzähler Teil von Roderers Existenz – und umgekehrt. Die beiden befruchten sich in einem bisweilen einseitigen Dialog gegenseitig, denn Roderer scheint ein tragischer Erleuchteter zu sein. Er nimmt die Wirklichkeit jenseits des Unmittelbaren mit einer verblüffenden Klarheit wahr. Was Roderer bei diesem Kräftemessen wirklich antreibt, ist der Wunsch, eine Art Resonanzboden vor sich zu haben. Seine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt erfordert jemanden, der die Tiefe seines Verstandes begreift.

Roderer beschäftigt sich mit Autoren, die der Mehrheit unbekannt sind und die sein ungewöhnliches Wissen nähren. Zusammen mit seiner besonderen Intelligenz bringt es ihn an den Rand des Ungleichgewichts. Aus der Geschichte unseres Protagonisten ergibt sich, dass die anderen, weil sie substanzlose Wesen sind, eine banale Realität gestalten, die ihnen aber zusagt. Andererseits trägt Roderer den untrüglichen Stempel einer bestimmten Sorte von Genies, die sich nicht in ein menschliches Universum einfügen können und wollen, da sie dieses in Form und Inhalt verabscheuen.

In der Schule wird er als seltsames, zurückgezogenes Individuum wahrgenommen, das sich von seinen Mitschülern entfernt. Dennoch übt er eine unausweichliche Anziehungskraft auf Frauen aus. Cristina, die schöne Schwester des Erzählers, ist schließlich von der geheimnisvollen Atmosphäre, die Roderer ausstrahlt, geblendet, ohne es zu wollen. In dieser Perspektive wird auch Daniela Rossi, ein junges Mädchen, eine ungesunde Verehrung für Roderer empfinden. Diese geht so weit, dass sie auf alarmierende Weise an Gewicht verliert, was in einer fulminanten Magersucht mündet, die mit ihrem Tod endet. Dieses beunruhigende Ereignis führt zu Roderers dauerhaftem Rückzug vom Studium.

Seine Misanthropie verschlimmert sich. Er schließt sich in seinem Zimmer ein und verlässt es kaum noch. Tag und Nacht ist er in seine beklemmende Lektüre vertieft. Der Erzähler kommt zu ihm und sie führen umständliche Gespräche über Roderers unstillbare Suche. Dabei gehen sie Spinoza, Thomas de Quincey und seine Ausflüge in das Opium als Wunderdroge, Hölderlins Texte und seine strengen Analysen der Verbindung mit dem Teufel als Substrat seiner Werke sowie schließlich Nietzsche, Goethe und Heidegger durch. Schließlich gelangen sie zu dem großen fiktiven Satz von Seldom, der die Mathematik revolutionierte und den der Erzähler Roderer nach seinem Eintritt in die Universität nahebrachte.

Dies ist auch ein wesentlicher Teil des unvorhersehbaren Schlusses des Romans. Roderers obsessive Suche nach dem Sinn des Daseins ist das, was Nietzsche als „die neue menschliche Erkenntnis” bezeichnete. Das Werk verführt uns nicht nur mit dem Talent seines Autors, sondern berührt uns auch mit dem trostlosen Leben Roderers: eine einzigartige Figur, die es nicht geschafft hat, irgendwo hinzugehören, obwohl sie vielleicht ihre eigene Welt gewonnen hat.

Thermostatus

Es war heiß an diesem Tag, aber auch nicht so heißt, dass man gesagt hätte: Es ist heiß heute. Das wäre den wirklich heißen Tagen gegenüber nicht gerecht gewesen, die sich immerhin bemühten, durchs Fleisch zu dringen, um die Knochen zu Gelatine zu verarbeiten. Aber es war verdammt viel wärmer als es hätte sein sollen, was impliziert, dass es da jemanden gab, der den Regler nach Herzenslust hin und her drehten konnte. Schau, es gibt da diese Kluft zwischen all den mittelalterlichen Marotten und den fliegenden Strümpfen, zwischen all den Heinis, die in Windeseile Verbrechen aufklären und Mädels, die mit Vampiren vögeln. Die Zeit der Megasuppen ist gekommen, nichts hält uns mehr auf, Sherlock Holmes gegen Graf Dracula in den Kampf zu schicken.

Yuggoth 27 – Der alte Leuchtturm

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

Von Leng kommend, wo Felsgipfel trostlos und kahl
Unter kalten Sternen krabbeln, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben,
Dort schießt in der Dämmerung ein einziger Lichtstrahl hervor,
Dessen ferne blaue Strahlen die Hirten im Gebet wimmern lassen.
Sie sagen (auch wenn es keiner hört), dass sein Ursprung
In einer Kammer aus Stein zu finden sei, ein Leuchtturm,
Wo der letzte der Älteren für sich alleine vegetiert
Und durch Trommelschläge mit dem Chaos spricht.

Das Ding, so flüstern sie, trägt eine seidene Maske
Von gelber Farbe, deren seltsame Linien ein Gesicht zu verbergen scheinen,
Das nicht von dieser Erde stammt, obwohl niemand zu fragen wagt,
Was das für Züge sind, die sich im Inneren offenbaren.
Viele haben in der Frühzeit des Menschen dieses Leuchten gesucht,
Aber niemand wird je erfahren, was sie wirklich fanden.

Der Fall Alice im Wunderland / Guillermo Martinez

Der Fall Alice im Wunderland
Guillermo Martínez: Der Fall Alice im Wunderland

Mit “Der Fall Alice im Wunderland” gewann Martinez 2019 den spanischen Nadal-Preis und ist die Fortsetzung von Die Oxford-Morde. Beide Romane können dennoch völlig unabhängig voneinander gelesen werden. Was sie verbindet ist der Schauplatz Oxford und die Figuren des berühmten Logik-Professors Arthur Seldom, des argentinischen Studenten Martin, sowie des Polizeiinspektors Petersen. Mit ein paar Sätzen verlässt Guillermo Martínez den vorherigen Roman, einen Fall, der eigentlich schon abgeschlossen war, um sich auf diese neue Geschichte zu konzentrieren, eine Geschichte, deren Hauptfigur nicht Seldom oder Martin ist, sondern Lewis Carroll und das Universum von Alice im Wunderland.

Der Roman basiert auf realen Ereignissen, wie dem Fund eines Zettels, der den Inhalt der aus den Tagebüchern von Lewis Carrol herausgerissenen Seiten zusammenfasst, um einen völlig fiktiven Mordfall zu schaffen.

Dies geschieht in einem sehr britischen Stil, nicht nur wegen des Schauplatzes Oxford, sondern auch, weil er, wie schon bei den Oxford-Morden, unweigerlich an den Stil der Romane von Agatha Christie erinnert. Denn obwohl er an mehr Schauplätzen spielt als sein Vorgänger, könnte er sehr gut als Theaterstück umgesetzt werden. Es gibt wahrscheinlich mehr Dialoge und Überlegungen als Handlung.

Lewis Carroll
Lewis Carroll

Die Geschichte des Romans dreht sich um eine Gruppe von Fans von Lewis Carroll, dem Autor von Alices Abenteuer im Wunderland, eine Bruderschaft, die nicht nur das Werk und das Vermächtnis des Schriftstellers bewahrt, sondern auch seinen Mythos pflegt und sein Andenken schützt. Unter ihnen ist auch Seldom. Es ist ein heikles Thema – vielleicht heute mehr denn je, auch wenn der Roman vor einem Vierteljahrhundert spielt -, denn wie wir wissen, wurde das Werk, das Carroll, der eigentlich Charles Dodgson (1832-1898) hieß, unsterblich machte, von einer der Töchter eines gewissen Henry Liddell, seines Dekans am Christ Church College in Oxford, inspiriert. Dodgson, der Mädchen liebte und ein erfahrener Fotograf war, brachte diese beiden Leidenschaften zusammen und porträtierte Liddells Töchter – wie auch viele andere Mädchen – bei zahlreichen Gelegenheiten. Die Grenze zwischen dieser freizügigen Faszination und ihren dunkleren Konnotationen war schon immer eine Quelle von Konflikten, die zweifellos durch die Falten einer Epoche – der viktorianischen – genährt wurden, deren moralische Strenge voller Widersprüche war.

Alice Liddell
Alice Liddell als Bettlerin

Die Handlung des Romans wird durch das Auftauchen eines kleinen Zettels ausgelöst. Darauf notiert eine von Carrolls Nichten, misstrauisch, aber letztlich schuldbewusst, das Wesentliche dessen, was auf einer der Seiten stand, die sie aus den Tagebüchern des berühmten Schriftstellers herauszureißen beschloss. Das Seltsame ist, dass dieses Blatt von all jenen, die sein Leben bis ins kleinste Detail erforscht haben, darunter auch Mitglieder der Bruderschaft, unbemerkt blieb. Diese wenigen Zeilen, so scheint es, könnten die Perspektive, aus der Carroll bisher betrachtet und beurteilt wurde, erheblich verändern. Sie würden unter anderem die Gründe für seinen Bruch mit der Familie Liddell offenbaren. Die bevorstehende Veröffentlichung der Tagebücher wirbelt alle möglichen Gespenster auf und es geschehen Morde, die direkt aus Carrolls Büchern entnommen zu sein scheinen.

Martinez ist ein überzeugter Anhänger des Klassizismus, und seine Herangehensweise an die “weiße” Polizeiarbeit (bei der nur der Verstand zur Lösung kommt und alle Emotionalität hinten angestellt wird) ist ein Bekenntnis zu seinen Prinzipien. Die Darstellung der Charaktere – die weiblichen sind vielleicht am gelungensten -, die Entwicklung der Handlung und ihr Fortschreiten bis hin zur Auflösung der Schleier am Ende entsprechen bestimmten Klischees des klassischen Kriminalromans, und es steht außer Frage, dass er sie mit Geschick wieder aufgreift. Am besten ist der Roman jedoch, wenn er seine Vorlage aus den Augen verliert, insbesondere, wenn er in die Zwischenräume und Zweideutigkeiten von Carrolls geheimnisvollem Leben eintaucht.

Yuggoth 26 – Die Vertrauten

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

John Whateley lebte etwa eine Meile von der Stadt entfernt,
Dort oben, wo die Hügel anfingen, dichter zu werden;
Wenn man sah, wie er seinen Hof verkommen ließ,
Wollte und musste man an seinem Verstand zweifeln.
Er vergeudete seine Zeit mit einigen seltsamen Büchern,
Die er auf dem Dachboden seines Hauses gefunden hatte,
Bis sich merkwürdige Linien in sein Gesicht gruben,
Und sich alle darin einig waren, sein Aussehen als Abstoßend zu empfinden.

Als er mit diesem nächtlichen Heulen begann, beschlossen wir,
Ihn besser vor Schaden zu bewahren,
Also gingen drei Männer von der Stadtfarm in Aylesbury zu ihm –
Kamen aber zurück: allein und verängstigt und ohne ihn.
Sie hatten ihn im Gespräch mit zwei kauernden Dingern gefunden,
Die auf großen schwarzen Flügeln augenblicklich davon flogen.

Watchmen / Alan Moore

Dem Autor Alan Moore, dem „Zauberer” hinter „V wie Vendetta”, „Batman: The Killing Joke”, „From Hell” und vielen anderen Titeln, ist es gelungen, seine zeitgenössischen Ideen auf revolutionäre Weise durch das Medium Comic zu vermitteln. Indem er sich mit universellen Konzepten auseinandersetzte und sie durch Symbolismus und Satire aufschlüsselte, erregte er schnell die Aufmerksamkeit der Welt. Er wurde zu einem wichtigen Einfluss in der Populärkultur, denn sein Werk besitzt bis heute eine unvergleichliche Relevanz für die moderne Politik und Philosophie. Zu seinen bedeutendsten Comics gehört das mit dem Hugo Award ausgezeichnete Hauptwerk „Watchmen”, das mit seiner Erzählung, seinen Themen, seinen Figuren und seiner philosophischen Botschaft die Comic-Industrie schlagartig veränderte.

Die Geschichte von „Watchmen” ist in einer alternativen Realität angesiedelt, die sich am Zustand der Welt in den 1980er Jahren orientiert. Sie ist ein ausladender Kommentar zum Superheldenkonzept und seinen persönlichen sowie politischen Implikationen vor dem Hintergrund eines drohenden Atomkriegs. Zwar absolviert Richard Nixon hier mehrere Amtszeiten als Präsident der Vereinigten Staaten und die Vereinigten Staaten gewinnen den Vietnamkrieg, doch die zentrale Wendung dieser realistisch dargestellten Geschichte ist die Existenz von Superhelden und ihre Verantwortung für die Entwicklung der internationalen Beziehungen und die Verbrechensbekämpfung. Während die Spannung ins Unermessliche steigt, deutet der Mord an einem ehemaligen Helden auf ein größeres Komplott hin. Aufgrund des Keene-Gesetzes sind Vigilanten nun illegal und ihre Aktivitäten sind untersagt.

Alan Moore hat sich eines Themas angenommen und eine realistische und doch nihilistische Sicht auf Superhelden vorgelegt, wie es sie vorher noch nie gegeben hat. Durch seine vielschichtige, nicht-lineare Erzählweise bietet er eine intime und doch universelle Geschichte, die den Wahnsinn der Welt durch die Augen von Vigilanten betrachtet. Diese haben ihre Bestimmung in Handlungen gefunden, die darauf ausgerichtet sind, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Ob diese Helden für die Regierung arbeiteten oder nicht, war nicht entscheidend für das Verständnis der keineswegs neuen Erkenntnis, dass die Menschheit zu Schrecken jenseits unserer Vorstellungskraft fähig ist. Anhand verschiedener komplexer Charaktere – vom schwer fassbaren, zwanghaften Rorschach bis hin zum göttlichen, rätselhaften und introspektiven Dr. Manhattan – wird in einer zwölfteiligen Serie ein kritischer Kommentar zur Motivation von Helden präsentiert.

Die schonungslose Sezierung der Superhelden und die fesselnde Krimihandlung sind jedoch nicht die einzigen Eigenschaften dieses Comics. Zeichner Dave Gibbons verdient ebenso viel Lob für dieses bahnbrechende Werk, denn sein Neun-Panel-Raster ist eines der ikonischsten Elemente dieser Geschichte. Die dialoglosen Seiten zeigen eine unglaubliche emotionale Bandbreite und bestätigen das Sprichwort, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt. Der ehrgeizige und selbstbewusste Künstler zögert nicht, die Hauptfiguren zu ignorieren und sich auf die Umgebung zu konzentrieren, um die starke Symbolik der Geschichte zu vermitteln. Tatsächlich gibt es in der gesamten Geschichte erstaunliche Wort- und Bildspiele, die bis ins kleinste Detail analysiert werden können und die Erzählung meisterhaft perfektionieren. Dies hilft auch bei der Illustration einiger der besten Übergänge zwischen den Panels. Letztendlich dient das Artwork als tadelloses Gefäß, um diese erschütternde und doch fesselnde Tragödie zu erzählen, die auf ihrer selbst konstruierten, atemberaubenden Mythologie aufruht.

Dieses Buch wurde seit seiner Erstveröffentlichung endlos zerpflückt. Jedes Bild wurde mikroskopisch genau untersucht, die Handlung, die Charaktere und die Symbole wurden nicht weniger ausführlich analysiert als jene der Odyssee. Die Fans dieses Buches sind wie die Fans aller anderen Bücher auch äußerst einnehmend und streitlustig. Wenn man ein Buch wie dieses zum ersten Mal liest, wird man wahrscheinlich weniger Kritik üben, sondern eher eine intellektuelle Angleichung vornehmen. Was gesagt werden konnte, wurde wahrscheinlich schon gesagt; die Frage ist nun, mit wem man übereinstimmt.

“Watchmen” ist groß, wichtig, brillant – und unerträglich. Es ist mythisch, düster. Es ist fantastisch und dumm. Auf seinen Seiten gibt es Helden, Antihelden und riesige, blaugesprenkelte Superhelden. Es gibt Aliens, straßenkämpfende Lesben und Piraten. Zweideutig böse Genies und durchschnittliche New Yorker sind ebenfalls dabei. Wenn die Gewalt nicht intim ist, dann ist sie global. Wenn der Sex nicht zärtlich ist, dann ist er schmutzig. Die Geschichte von „Watchmen” ist zum Teil ein Krimi, zum Teil ein philosophisches Traktat. Der Schreibstil ist heftig, bahnbrechend, verkniffen und pedantisch. Die Kunst ist stets steif, aber immer angemessen.

Watchmen ist alles. Manchmal ist es sogar langweilig.

Obwohl “Watchmen” als bahnbrechende Graphic Novel bezeichnet wird, lässt sich die Frage, was eine Graphic Novel ist, kaum klären. Das Time Magazine hat ihn zu einem der 100 besten Romane des Jahrhunderts gekürt. Dabei ist “Graphic Novel” einfach das Etikett der Wahl für diejenigen, die lieber nicht beim Lesen von Comics erwischt werden wollen.

Eine der wichtigsten Figuren ist Dreiberg. Er ist kein Held mit Superkräften, aber auch nicht ganz gewöhnlich. Er ist ein Post-Superheld: Seit die Regierung maskierte Verbrechensbekämpfer verboten hat, hängt sein Nite-Owl-Kostüm im Schrank und sein cooles Luftkissenfahrzeug verstaubt im Keller. Aufgrund seines Übergewichts ist sein Selbstvertrauen geschwächt, sodass er sich nur aus der Ferne für Dr. Manhattans kurvige Freundin Laurie begeistern kann. Dr. Manhattan steht außerhalb der Zeit. Als Opfer eines nuklearen Unfalls kann er über Wasser laufen, durch Wände gehen und in einem Anfall von Wut sogar zum Mars fliehen und dort schmollen. Die Geschichte beginnt jedoch mit Rorschach im Trenchcoat – einsilbig und vermutlich geisteskrank – und seiner Vermutung, dass jemand es auf die Maskierten abgesehen hat. Während sich Recht und Unrecht um ihn herum ständig verschieben, ist Rorschach ironischerweise derjenige, der konstant bleibt. Er ist das schreckliche Gewissen von “Watchmen”.

Die Handlung ist komplex und äußerst anspielungsreich. Neben der Haupthandlung gibt es mehrere Hintergrundgeschichten sowie eine alternative Geschichte, die sich im Hintergrund abspielt. Es gibt Darstellungen und Parodien auf die unterschiedlichsten Medien: Comics, Zeitungen, Fernsehen, Werbung, Zeitschriftenartikel usw. Zudem gibt es endlose Verweise auf die jüngere amerikanische Geschichte, die Antike, Philosophie, Poesie, populäre Musik, andere Comics und “Watchmen” selbst.

Die verschiedenen Symbole des Comics – Uhren, Pyramiden und Dreiecke, das berühmte blutbespritzte Smiley-Gesicht, Masken, Tintenkleckse, Vögel und Schmetterlinge, Atome, Parfüm, Knoten, Spiegel und Reflexionen u.v.a.m. – wirken dagegen fast schon konkurrenzlos unsubtil. Pyramid Deliveries. Prometheus Cab Company. Gordian Knot Lock Co. Nostalgie-Parfüm. Utopia Theater.

Einige Handlungselemente wirken überflüssig und einen Schritt zu gewollt. An erster Stelle steht der Piratencomic im Comic. Die Tatsache, dass die Piraten die Superhelden als Thema der Comics abgelöst haben, deutet darauf hin, dass die Welt der „Watchmen” vielleicht düsterer und weniger idealistisch ist als unsere eigene. (Zumindest ist sie düsterer als die Zeit, in der Superhelden die Comics beherrschten.) Doch was ist mit einer Welt, in der Comics wie „Watchmen” dominieren? Moore übertreibt es jedoch, indem er ein morbides Piratenabenteuer einführt, das während der gesamten „Watchmen”-Geschichte Parallelen und Kommentare zur Haupterzählung aufweist. Zunächst ist es ein netter Trick, doch wenn es Kapitel für Kapitel wieder auftaucht, fragt sich der Leser: Was soll das?!? Der Autor des Piratencomics taucht sogar in einer Nebenhandlung auf, hat aber kaum Wirkung.

Die Grafik ist selbstbewusst, manchmal jedoch auch übermäßig konservativ: Die Kiefer sind quadratisch, die Seiten sind stets in neun Panels unterteilt. Das Ergebnis ist eine interessante formale Spannung zwischen einem altmodischen Look und bahnbrechenden Texten. Eine komplizierte Handlung und ein ausgeklügeltes Layout greifen ineinander wie – was sonst? – ein Uhrwerk. Das ist auf technischer Ebene interessant. Es gibt jedoch Momente, in denen sich alles sehr nach der Maschinerie des Plots anfühlt. Dadurch verliert die Geschichte an Leben.

Es wird deutlich mehr Zeit auf die Figuren als auf die Geschichte verwendet. Das ist ein weiteres Indiz dafür, warum „Graphic Novel” als Etikett funktionieren könnte – wenn man dazu geneigt ist. Charaktere wie Dan Dreiberg, Laurie Juspeczyk und ihre Mutter Sally Jupiter sind allesamt erkennbar menschlich und äußerst dreidimensional dargestellt. In ihrer Welt ist alles kompliziert, ironisch und unangenehm.

Was Rorschach, Dr. Manhattan und den von Alexander besessenen Geschäftsmann Ozymandias betrifft, hätte man sich in einer anderen literarischen Inkarnation vorstellen können, dass sie einen langen, erholsamen Spaziergang vor dem Internationalen Sanatorium Berghof gemacht hätten, während sie mit ihren Stöcken klickten und über die Auswirkungen des Determinismus nachdachten. Leider werden sie in “Watchmen” auf die ganze Erde und sogar auf den Mars losgelassen. Sie sind kaum mehr als mythisch-philosophische Typen mit gequältem Vokabular. Sie schweben über unserer bloßen Sympathie oder Empörung.

Ein weiteres Problem bei „Watchmen” ist die Wirkung, die der Comic auf das Medium selbst und sein Publikum hatte. Die Comicfirmen haben aus „Watchmen” die falsche Lektion gelernt. Anstatt neue Wege zu finden, um bekannte Geschichten zu erzählen, dachten die Autoren und Künstler im Grunde, dass die Gewalt und die „Reife” dafür verantwortlich waren, dass „Watchmen” so beliebt war. „Reife” bedeutet jedoch mehr als nur Blut und unanständige Worte. Das wusste „Watchmen”, seine Nachahmer in den Jahren danach jedoch nicht. Anstatt dem Beispiel von „Watchmen” mit seiner Tiefe, seinem sozialen Kommentar und der Art und Weise, wie es das Medium nutzt, zu folgen, wurden die Comics einfach nur düsterer statt komplexer. Das hat die Comics verändert – jedoch nicht immer zum Besseren.

“Watchmen” ist durchweg ernsthaft und äußerst ehrgeizig. Es ist groß und strebt danach, wichtig zu sein, aber zu oft ist es einfach nur selbstgefällig. Moores Texte strotzen nur so vor Überheblichkeit und werden von Zeit zu Zeit zu einer Parodie ihrer selbst.

In “Watchmen” gibt es einen herzzerreißenden Moment. Er ereignet sich am Ende des vorletzten Kapitels, wenn der Videomonitor weiß wird und alles entsetzlich still ist. Dieser Moment ist wie geschaffen für einen Mythos, für eine Geschichte, in der es um das Unbekannte geht, um das, wofür wir zunächst keine Worte haben. Der Mythos blickt in das Herz einer großen Stille. Bemerkenswert an “Watchmen” ist die Art und Weise, wie methodisch und manchmal grausam die „essentielle Albernheit” seiner Charaktere entlarvt wird (um Moore in seinem Vorwort zu The Dark Knight Returns zu zitieren), während gleichzeitig der Geist und die Mission des Mythos aufrechterhalten werden.

Und das, obwohl Mythen und Romane, oder Comics und Romane, traditionell ein Widerspruch in sich sind. Sicher, Mythen mögen sich manchmal wie Romane lesen, aber die beiden Formen haben eigentlich nichts gemeinsam. Selbst die experimentellsten Fiktionen müssen sich bis zu einem gewissen Grad auf psychologischen Realismus stützen; ohne ihn wären ihre Figuren unerkennbar und ihre Handlungen uninteressant. In den Mythen hingegen geht es genau um dieses Widersprüchliche und das Unerklärliche. Das Leere. Das Schweigen.

Letztendlich überwiegt jedoch die visuelle Komplexität von “Watchmen” viele seiner literarischen Schwächen. Es ist interessant anzuschauen. Und die Welt, die Alan Moore erschaffen hat, ist so umfassend und tiefgründig erdacht, dass sie einen in ihren Bann zieht und am Ende nicht mehr loslässt.

Hexenstunde, Geisterstunde, Teufelsstunde

Im zarten Tanz zwischen Nacht und Tag gibt es einen flüchtigen Moment, der von Legenden und Überlieferungen durchdrungen ist – eine Zeit, in der die Grenzen zwischen dem Physischen und dem Metaphysischen verschwimmen. Dieses flüchtige Intervall ist als Geisterstunde bekannt, ehemals als aber als Hexenstunde. Ein Begriff, der manchmal sowohl Angst als auch Staunen hervorruft. Die Geisterstunde wird gemeinhin als die Zeit zwischen Mitternacht und 3 Uhr morgens definiert, eine Zeit, von der man annimmt, dass übernatürliche Aktivitäten auf ihrem Höhepunkt sind.

Das Konzept geht auf die europäische Folklore zurück, der zufolge Hexen, Dämonen und andere übernatürliche Wesen in dieser Zeit besonders aktiv sind. In dieser Zeit versammelten sich Hexen zu ihrem Sabbat und nutzten die dunklen Energien der Nacht. Oft wurden diese Versammlungen als böse dargestellt und aufgrund des Aberglaubens versetzten sie viele Menschen in Angst und Schrecken. Auch ist es die Zeit, in der die Geister der Vorfahren die Lebenden besuchen kommen, und man achte darauf, diese Wesen vor dem Schlafengehen zu ehren, um etwaiges Unglück zu vermeiden.

In bestimmten afrikanischen Traditionen wird diese Zeit ebenfalls als eine Zeit erhöhter spiritueller Aktivität angesehen, in der Wahrsagerei, spirituelle Rituale und Ahnengespräche am wirkungsvollsten sind. Die Nacht dient in vielen Kulturen als Brücke zur spirituellen Welt, in der Weisheit und Führung von den Ahnen erbeten werden können. Die Vorstellung von einer Hexenstunde hat tiefe Wurzeln in der Folklore hinterlassen. In der Nacht verstärken sich unsere tiefsten Ängste, aber auch das Begehren, das Vertraute verwandelt sich in das Unbekannte und führt zu Geschichten über Spuk und unerklärliche Phänomene.

Der Begriff “Witching Hour” lässt sich bis ins Jahr 1775 zurückverfolgen, und taucht zum ersten Mal in Reverend Matthew Wests Gedicht “Night, an Ode” auf. Die Ursprünge reichen jedoch noch weiter zurück, als die katholische Kirche aus Sorge vor dem wachsenden Einfluss der Hexerei in Europa eine Ausgangssperre für die Zeit von 3.00 bis 4.00 Uhr nachts verfügte.

Hexenprobe; (Stich von G. Franz, 1878)

Geprägt wurde der Begriff “Hexenstunde” erst im Jahr 1560 von Papst Pius IV. Die Hexenverfolgung hatte begonnen, da die Menschen nicht verstehen konnten, warum Krankheiten so weit verbreitet waren, und beschlossen, die Praxis der Hexerei dafür verantwortlich zu machen, wie es manche geisteskranke Kleriker empfahlen. Dies löste eine weit verbreitete Panik und Misstrauen aus, da die Menschen diejenigen anzeigten, von denen sie annahmen, dass sie die dunklen Künste ausübten. Man glaubte, dass die Hexerei vor allem während der Hexenstunde praktiziert wurde, da ihre Kräfte dann größer waren. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wurden schätzungsweise 60 000 Menschen im Rahmen von Hexenprozessen hingerichtet. Im Buch Exodus des Alten Testaments (22:18) heißt es eindeutig: “Du sollst nicht zulassen, dass eine Zauberin lebt“, und die Beschuldigten wurden entweder auf dem Scheiterhaufen verbrannt, erhängt oder enthauptet. In dieser Zeit wurde auch Wasserprobe angewandt, bei der eine beschuldigte Person gefesselt ins Wasser geworfen wurde. Wer unterging, galt als unschuldig, während diejenigen, die schwammen, als Hexen überführt waren.

In der abendländischen christlichen Tradition gilt diese Stunde seitdem als Spitzenzeit für übernatürliche Aktivitäten. Von der Kirche wird dieser Zeitraum als “Stunde des Teufels” bezeichnet, weil er der Zeit entgegengesetzt ist, zu der Jesus angeblich starb, nämlich um 3.00 Uhr nachmittags. Man glaubte, dass diese dunkle Umkehrung der Zeit es bösen Mächten erlaubte, frei umherzuziehen und die Nacht mit Schatten des Schreckens zu überziehen. Die Entscheidung der frühen katholischen Kirche, während dieser Stunde Beschränkungen aufzuerlegen, war durchaus bedeutsam. Mit diesem Erlass wurde aktiv das bekämpft, was die Kirche als das Aufkommen ketzerischer Praktiken, einschließlich Hexerei und anderer heidnischer Rituale, ansah. Die Beschränkungen zielten gleichzeitig darauf ab, diese Umtriebe einzudämmen und die Nacht symbolisch von den Bösen Einflüssen zurückzuerobern.

In der heutigen Zeit lebt die Idee der Hexenstunde als Geisterstunde weiter, wenn auch oft in einem eher spielerischen oder symbolischen Sinne. Sie ist nach wie vor ein beliebtes Thema in Filmen, Büchern und anderen Medien und spiegelt unsere anhaltende Faszination für das Mysteriöse und Makabre.

Historisch gesehen haben die Gesellschaften die Geisterstunde immer schon unterschiedlich betrachtet. Manche sagen, sie dauert von Mitternacht bis 1 Uhr morgens, während andere glauben, dass sie sich von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang erstreckt. Psychologische Studien deuten jedoch darauf hin, dass Erfahrungen mit unerklärlichen Erscheinungen am häufigsten zwischen 2:00 und 4:00 Uhr nachts auftreten und ihren Höhepunkt tatsächlich um 3:00 Uhr morgens erreichen, also dann, wenn der Melatoninspiegel am höchsten ist.

In Hamlet schrieb William Shakespeare:

‘s ist jetzt die Hexenzeit der Nacht, wenn die Kirchhöfe gähnen und die Hölle selbst ausatmet.

Ronald DeFeo; Suffolk County Police Department photographic records.

Eine der berühmtesten Horrorgeschichten der Welt beruht auf tragischen Ereignissen aus dem wirklichen Leben. Am 13. November 1974 um 3 Uhr morgens erschoss Ronald DeFeo, Jr. seine Mutter, seinen Vater und seine vier Geschwister, während sie in ihren Betten schliefen. Um 18 Uhr desselben Tages betrat er eine örtliche Bar und schrie: “Ihr müsst mir helfen! Ich glaube, meine Mutter und mein Vater sind erschossen worden!” Die Morde ereigneten sich in der Ocean Avenue 112 in Amityville, Long Island, das heute vor allem durch den Film Amityville Horror bekannt ist. Die Ereignisse rund um die Morde waren insofern ungewöhnlich, als die Nachbarn keine Schüsse hörten und keines der Familienmitglieder aufwachte, als die ersten Schüsse abgefeuert wurden. Außerdem lagen alle Familienmitglieder mit dem Gesicht nach unten in ihren Betten, und es gab keine Anzeichen eines Kampfes. Die Morde bestätigten den Glauben, dass 3 Uhr morgens die Stunde des Teufels ist, da DeFeo den Ermittlern erzählte, dass er zuvor Stimmen in seinem Kopf gehört hatte und sich in einem tranceähnlichen Zustand befand und erklärte: “Als ich einmal angefangen hatte, konnte ich einfach nicht mehr aufhören.” DeFeo wurde des sechsfachen Mordes zweiten Grades für schuldig befunden und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Eine urbane Legende aus Mexiko, die als La Mala Hora bekannt ist, wird mit “Die böse Stunde” übersetzt. Die Legende besagt, dass um 3 Uhr morgens ein böser Geist auftaucht, der einsame Reisende in der Nacht heimsucht. Sie hat das Aussehen einer alten Frau mit dem Gesicht eines Dämons, und wenn man das Pech hat, ihr zu begegnen, wird angeblich ein geliebter Mensch bald sterben. Diejenigen, die in abgelegenen Gegenden auf dem Land unterwegs sind, werden von den Einheimischen gewarnt, dass sie wahrscheinlich auf ihre unheimliche Präsenz stoßen werden. Es wird vermutet, dass der Ursprung der Spuklegende darin liegt, alle davon abzuschrecken, spät in der Nacht allein unterwegs zu sein, und als Warnung zu dienen. Dass sich La Mala Hora in der Dunkelheit der Nacht an Orte am Stadtrand heranpirscht, ist auch ein Symbol dafür, dass das Übernatürliche an diesen Grenzen lauert – vor allem um 3 Uhr morgens.

Im Jahr 1910 beschrieb Aurelio Espinosa la Mala Hora oder la malogra als einen bösen Geist, der nachts die Kreuzungen heimsucht und diejenigen jagt, die allein auf der Straße unterwegs sind. Wer ihn sieht, wird unweigerlich in den Wahnsinn getrieben. Laut Espinosa sieht La Malogra wie ein großes Wollknäuel oder eine schwarze Wolke aus, das sich vor dem Betrachter ausdehnt und zusammenzieht. Sie erscheint selten in menschlicher Gestalt, aber wenn, dann ist es ein sicheres Omen des Todes. Modernere mexikanische Versionen beschreiben sie auch als eine furchterregende Frau in Schwarz, die Reisenden nachts erscheint, wenn ein Todesfall bevorsteht.

Der grüne Mann

Der Grüne Mann ist ein Waldgeist, der seit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von Jahren in der Folklore verankert ist. Die Legende vom Grünen Mann stammt angeblich aus Europa, doch es gibt Geschichten und Belege dafür auf der ganzen Welt. Googelt man nach diesem Wesen, findet man eine Fülle von Informationen über seine Motive und Skulpturen, die in Kirchen in ganz Europa zu sehen sind. Doch hinter der Legende des Grünen Mannes steckt mehr.

Während der Grüne Mann in der heutigen Zeit als Gartenkunstwerk betrachtet wird, war er für unsere heidnischen Vorfahren einst ein Waldgott und der ultimative Wächter des Waldes.

Er wird als Mann mit grüner Haut dargestellt, der vollständig mit Blättern verschiedener Arten bedeckt ist. Die beliebtesten Darstellungen des Grünen Mannes zeigen Eichenblätter und Eicheln, Weißdornblätter und manchmal Stechpalmenblätter und -beeren. Manchmal hängen Blätter aus seinem Mund. Er ist ein allgegenwärtiges Symbol für Wiedergeburt, Verjüngung und den Kreislauf von Leben und Tod in der Natur. Seine Aufgabe ist es, den Wald wild zu halten – die Heiligkeit des Waldes (Pflanzen, Bäume, Flüsse und Tiere) zu bewahren, die durch unseren “Fortschritt” bedroht ist.

Bevor wir uns mit den verschiedenen architektonischen Darstellungen des Grünen Mannes befassen, sollten wir zunächst klären, warum er überhaupt auf Kirchenwänden und in der Architektur zu sehen ist. Schließlich war es das Ziel der Kirche, das Heidentum auszurotten. Es gibt zwei Theorien: Erstens könnten die Menschen, die die Kirchen bauten, noch an ihren alten heidnischen Glaubenssystemen festgehalten haben. Zweitens könnte die Kirche der Meinung gewesen sein, dass die einzige Möglichkeit, die alten Götter (oder „Teufel”) zu besänftigen, darin bestand, ihnen einen Ehrenplatz an den Wänden der Kirche einzuräumen. Eine andere Theorie besagt, dass die Grünen Männer in die Architektur der Kirche integriert wurden, um den Einheimischen zu zeigen, dass die alten Götter jetzt zu Stein geworden sind und somit von der Kirche besiegt wurden.

Grüner Mann, Kathedrale Chartres

In der Kathedrale von Chartres in Frankreich sind die Grünen Männer an der Wand dieser Kirche interessanterweise zu dritt. Buchstäblich drei grüne Männerköpfe zusammen … Sie scheinen eine dreifache Gottheit oder Trinität darzustellen. Die gotische Kirche stammt aus dem Jahr 1194, also lange nachdem die Kirche die Heiden in der Gegend bekehrt hatte. Es scheint, als hätten die beiden auf der äußeren Seite Blätter aus ihren Mündern hängen, während der mittlere Grüne Mann keine hat. Der Mann auf der linken Seite scheint Trauben in seinem Laub zu haben, während die beiden anderen eher mit Eichenlaub bedeckt sind. In der Kathedrale von Exeter in England, die im 12. Jahrhundert etwa zur gleichen Zeit wie die Kathedrale von Chartres erbaut wurde, finden sich in der gesamten Architektur dieser normannisch-gotischen Kirche mindestens 20 Darstellungen des Grünen Mannes. Viele von ihnen ragt Grünzeug aus ihrem Mund. Der Grüne Mann ist auch ein beliebtes Motiv auf schottischen Friedhöfen und steht wahrscheinlich für die Schöpfung und das Leben, das aus dem Tod hervorgeht. Neben den beiden genannten Kirchen gibt es buchstäblich Dutzende weitere, die den Grünen Mann als Motiv aufweisen. Oder ist er mehr als nur ein Motiv? Wir denken schon. Auch wenn er kein Bestandteil der Kirchenarchitektur ist, ist es doch interessant, dass viele alte Gasthäuser und Pubs in Großbritannien und den USA nach ihm benannt sind. Möglicherweise hängt dies mit der Tradition zusammen, dass alte Apotheker, die vor Jahrhunderten Kräuter sammelten, oder Förster (Holzfäller), die sich in Grün kleideten, mit dem Grünen Mann in Verbindung gebracht wurden.

Green Man Pub in der Edgware Street, London

Es gibt die Theorie, dass der Grüne Mann einst eine zentrale Figur des Maifeiertags war. Dieser wurde im alten Irland Beltane genannt und war ein Feuer- und Fruchtbarkeitsfest. Während diese Theorie umstritten ist, können wir den Grünen Mann in der Figur Jack in the Green betrachten. Jack in the Green ist ein Mann, der in Laub gekleidet ist und am Maifeiertag in einer Prozession mitläuft. Dieser Brauch war fast ausgestorben, erfuhr aber durch heidnische und historische Gruppen in England eine Wiederbelebung. Während dieser Brauch in der heutigen Zeit seltsam anmutet, wurde er in der Antike durchgeführt, um eine reiche Ernte zu sichern. In Schottland gibt es mit dem Burryman eine ähnliche Tradition: Ein Mann wird mit klebrigen Klettenköpfen (den sogenannten Burries) bedeckt und tanzt durch die Stadt, um Glück für das kommende Jahr zu bringen. In Derbyshire wiederum ist der Garland King ganz in Blumen gekleidet. Die Tradition, sich mit Laub zu bedecken, ist demnach nicht neu.

Faun
Faun

Der Mythos des Grünen Mannes spiegelt verschiedene Waldgeschöpfe und Götter wider. Er könnte mit diesen gleichgesetzt werden oder die Legenden anderer ähnlicher Wesen, wie die der Wilden Männer (auch bekannt als Woodwose, Wodwose oder Wudwas), des gehörnten Gottes Cernunnos und der griechischen Waldgeister, der Faune, inspiriert haben. Die Wilden Männer des Waldes sind Waldwesen, deren Herkunft ebenso geheimnisumwoben ist wie die des Grünen Mannes selbst. Es handelte sich um Männer, die in den Wäldern lebten, überall mit Haaren bedeckt waren und über eine überirdische Weisheit verfügten. Die Waldmenschen könnten einst heidnische Götter gewesen sein, die von der Kirche verteufelt wurden und in die Kategorie „Folklore” fielen, nachdem ihre Kulte unter dem Druck der Bekehrung zusammenbrachen. Im finsteren Mittelalter wurden die Menschen davor gewarnt, zu tief in die Wälder zu gehen, da sie befürchteten, dort auf Ungeheuer, Feen und wilde Männer zu treffen. Waren diese Wilden Männer des Waldes die deutsche Version der römischen Faune? Oder waren sie dasselbe wie der Grüne Mann?

Da die wilden Männer der Wälder ziemlich haarig waren, tief in den Wäldern lebten und oft mit Blättern und Zweigen in den Haaren gesehen wurden, könnte es eine Verbindung zum Sasquatch der amerikanischen Legende geben. Sicher, der Sasquatch hat im Laufe der Jahre einen schlechten Ruf bekommen – vor allem wegen Scharlatanen, die seine Existenz für ein paar Dollar vortäuschen. Die Ureinwohner des pazifischen Nordwestens jedoch haben Legenden über den Sasquatch, der im Wesentlichen als Wächter des Waldes gilt. Ähnliches gilt für den Yeti aus dem Himalaya, der wie ein Affe aussieht und die Berge des Himalaya in Tibet bewacht. Ein anderer Name für den Yeti ist Migoi, was so viel wie „Wilder Mann” bedeutet.

Auch Robin Hood wurde mit dem Grünen Mann in Verbindung gebracht. Auf der Website LeftLion heißt es:

„Robin war nicht so sehr der Held der Selbstjustiz, für den er heute gehalten wird, sondern er erinnerte eher an launische, heidnische Feen und Kobolde.“

Bis zur Herrschaft von Elisabeth I. verkleideten sich die Festbesucher oft als diese Verkörperung des Unfriedens und der Fröhlichkeit und zogen randalierend durch die Stadt. In einem von einem Volkskundler zitierten Fall aus dem Jahr 1492 rechtfertigte eine Gruppe junger Männer, die sich als Robin und sein Gefolge verkleidet hatten, ihr betrunkenes Verhalten damit, dass es sich dabei um eine alte Tradition handele, durch die der Rausch zum Kulturerbe werde. Es sei darauf hingewiesen, dass Robin bekanntlich grün trägt und ‚aus dem Wald‘ stammt. Und die Legende des Grünen Mannes ist in der gleichen Gegend Englands allgegenwärtig, aus der Robin Hood stammt.

Cernunnos
Cernunnos

Faune sind römische Fabelwesen, die den Wilden Männern des Waldes ähneln. Der Faun hat ziegenähnliche Züge, während die Wilden Männer des Waldes menschenähnlich sind. Er hat Ziegenbeine, gespaltene Hufe und einen Schwanz. Aber täuschen Sie sich nicht – sowohl Faune als auch Wilde Männer waren haarige Bestien, die in den Wäldern lebten. Sie wurden gefürchtet und verehrt. Sie waren dem Grünen Mann sehr ähnlich, der allerdings mit Blättern statt mit Haaren bedeckt war.

Ich möchte auch auf die Legende und den Kult des Cernunnos, des gehörnten Gottes der Kelten, hinweisen. Auch hier haben wir es mit einem Wesen zu tun, das Herr des Waldes war, Hörner auf dem Kopf trug und dessen Spuren sich in ganz Europa finden lassen. Ich bin nicht der Erste, der einen Vergleich zwischen Faunen und Cernunnos zieht, und auch nicht der Erste, der Cernunnos mit der Legende vom Grünen Mann vergleicht. Denn sie alle stehen für den ursprünglichen, wilden Teil des Menschen, der einst so tief mit der Natur verbunden war. Sie alle symbolisieren die unberührten Teile des Waldes, die sich weigern, gezähmt zu werden. Sie sind allesamt fruchtbare, virile Kreaturen mit einer Liebe für die Wildnis. Und während die meisten Normies diese Wesen als Fantasie betrachten, waren sie einst mehr als das.

Yuggoth 25 – Tsathoggua

Yuggoth

Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Derleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971. Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

FUNGI FROM YUGGOTH (Übersetzt von Michael Perkampus)

“Hüte dich vor dem zerrütteten Glockenspiel der Kröte!”, hörte ich
Ihn schreien, als ich mich in diese verrückten Gassen stürzte,
Die sich südlich des Flusses, wo die alten Jahrhunderte träumen,
In dunkle und verdrehte Labyrinthe teilen, alle ohne Ziel.
Er war eine verstohlene Erscheinung, gebückt und zerlumpt,
Und in einem Nu war er aus dem Blickfeld entschwunden,
Also grub ich mich weiter durch die Nacht,
Dorthin, wo sich die bösartig-zackigen Dachgaupen erheben.

Es gibt keinen Leitfaden, in dem verzeichnet steht, was hier lauert –
Doch nun hörte ich einen anderen Alten schreien: “Hüte dich vor
Dem zerrütteten Glockenspiel der Kröte!” Und als mich die Schwäche überkam,
Hielt ich inne, als ein dritter Graubart voller Angst krächzte:
“Hüte dich vor dem zerrütteten Glockenspiel der Kröte!” Voller Entsetzen
Floh ich dann – bis plötzlich diese schwarze Spitze drohend vor mir ragte.

Frightened / Flynn Berry

Der etwas befremdliche deutsche Titel “Frightened” – im Original treffender “Under the Harrow”, ein Wortspiel aus “Unter Qualen” und “Unter der Egge” – markiert Flynn Berrys Debütroman, der für den Edgar Award nominiert war. Häufig wird das Buch mit Bestsellern wie “Gone Girl” oder “The Girl on the Train” verglichen. Und tatsächlich gibt es Parallelen, insbesondere die unzuverlässige Erzählerin. Doch Berry gelingt es mit ihrem eigenwilligen Schreibstil, der gleichermaßen die Geschehnisse enthüllt und verschleiert, eine eigene Stimme zu finden und sich von der überfüllten Landschaft der Psychothriller abzuheben – wenn auch ohne die Wucht der genannten Vergleichstitel zu erreichen.

Die Geschichte beginnt mit Nora, unserer Ich-Erzählerin, die mit dem Zug von London aufs Land reist, um ihre Schwester Rachel zu besuchen. Doch kaum betritt sie das Haus, wird sie mit einem grausamen Anblick konfrontiert: Rachel und ihr Hund wurden brutal ermordet.

Bemerkenswert ist Berrys Entscheidung, die Geschichte in Präsens zu erzählen – eine eher seltene, aber hier durchaus gut umgesetzte Wahl. So gelingt es ihr, die Handlung zugleich intim und distanziert wirken zu lassen. Wir erleben die Geschehnisse hautnah mit, doch unser Wissen bleibt begrenzt auf das, was Nora preisgeben will. Ihre wahren Gedanken bleiben verborgen, und wir müssen ihre Gefühle aus den Reaktionen der Menschen um sie herum selbst deuten. Das Lesen gleicht dem Schälen einer Zwiebel – Schicht für Schicht werden neue Facetten enthüllt, doch das Zentrum bleibt lange im Dunkeln.

Der Roman spielt gekonnt mit den Erwartungen des Lesers. Wir sind es gewohnt, unseren Erzählern zu vertrauen, doch Nora entzieht sich dieser Gewissheit. Dadurch entsteht eine permanente Unsicherheit, die perfekt zum Genre des Psychothrillers passt. Der ungewöhnliche Schreibstil verstärkt diese Wirkung zusätzlich. Die Erzählweise im Präsens vermittelt ein Gefühl der Rastlosigkeit und Vorahnung – wir wissen nicht, was als Nächstes passiert, und auch Nora hat keine Gewissheit, wie alles enden wird. Es gibt kein reflektierendes Zurückblicken, keine Sicherheit, kein Versprechen, dass sie unversehrt aus der Geschichte hervorgeht. Alles ist möglich.

“Frightened” erinnert eindringlich daran, wie selbstverständlich wir eine bestimmte Erwartung beim Lesen eines Romans vor uns aufbauen – und wie leicht sie uns entzogen werden kann. Zudem thematisiert das Buch, dass wir die Fehler der Toten oft wohlwollender übersehen als die der Lebenden und dass die gefährlichsten Lügen oft jene sind, die wir uns selbst erzählen. Nora verliert sich in Erinnerungen an die Vergangenheit, insbesondere an einen gewaltsamen Übergriff, der Rachel nie losgelassen hat und zu ihrer Obsession führte, den Täter zu finden.

Als Nora die Fäden von Rachels geheimer Suche aufnimmt, taucht sie immer tiefer in eine gefährliche Wahrheit ein. Die Handlung entwickelt sich wie ein ins Rollen geratener Felsbrocken – unaufhaltsam und mit wachsender Intensität. In dem verschlafenen Städtchen, das Nora aufmischt, werden zu viele Geheimnisse ans Licht gezerrt, die viele Leben unwiderruflich verändert. Alles steuert auf ein Finale zu, das alles Vorangegangene auffliegen lässt.

Flynn Berry gelingt mit “Frightened” ein spannender, atmosphärisch dichter Thriller, der das Genre um eine interessante Stimme bereichert. Wer unzuverlässige Erzählerinnen, subtile Psychologie und ein langsames, aber unaufhaltsames Aufdecken düsterer Wahrheiten schätzt, wird hier auf seine Kosten kommen.

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