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Die Henker auf dem Galgenhügel

Last updated on 29. Juli 2024

Die Zeit ist oft auch nur ein architektonisches Wunder, und manchmal scheint es, als sei die Pest noch nicht lange fort. Die Platten der Epochen haben sich ineinander geschoben. In diesem Falle kann ich sehr nah an ein Haus herantreten, bis die Moose in den Ritzen ganz groß vor meinen Augen erscheinen. Während dann hinter mir die Zeit, in der ich lebe, in die fremde Ewigkeit hinaus rast, überbrückt das Gesims, das ich betrachte, Jahrhunderte. Manchmal fand sich kein Mensch auf der Straße, und es war dann leicht, darüber nachzudenken, dass dieses Dorf völlig ausgestorben war. Nur ein letztes Glimmen im Kamin. Oft wehte ein staubiger Wind den Geruch toter Nagetiere durch die winkligen Gassen. Viele Familien klagten über ein unbestimmtes Unglück, das die Frauen spüren wollten und die Männer, seltsam berührt von derartigen Äußerungen, wegzulächeln gelernt hatten. Die Bäume der Alleen waren bis zur Hüfte eines erwachsenen Mannes kahlgefressen, aber die Ernte auf den Feldern war stets reich und auch die übliche Heuchelei hielt sich in Grenzen.

Ich wollte mich niemals erinnern müssen, und über all die Jahre fiel ich tatsächlich dem Vergessen anheim. Wenn man das jugendliche Alter abstreift, dann verblassen auch die Bilder, die sich in die Nacht gebrannt haben. Sie wurden mir nicht für immer genommen; am Tage meines Todes werden sie mir erneut präsentiert werden, und ich fahre ein in eine von mir selbst gewählte Verdammnis. Diese Bilder werden mein Jenseits sein, meine Hölle und meine Ewigkeit. Werde ich sterben, wie ich gelebt habe? Wird mir dieser kleine Trost vergönnt sein, bevor die Flammen mich verschlingen und meine Erlebnisse, die Ideen meines Lebens, die Gedankenkraft und die Träumereien wie das Holz in einem Kamin aufzehren?

Wir wollten einen Blick hinter die Kulissen erhaschen, und wenn schon nicht mit den toten Ahnen, wollten wir mit Geistern kommunizieren, die vielleicht niemals die menschliche Form angenommen hatten. Die Jugend ist ein weites Feld, auf dem man sich selbst als Held stehen sieht, der allem und jedem gewachsen ist. Tod und Teufel fürchtet man nur in den einsamen Stunden, die es in dieser Phase des Lebens kaum gibt. Wir glaubten jede Geschichte, und so glaubten wir auch daran, dass sich auf dem Galgenhügel zu einer bestimmten Uhrzeit und einer präzise berechneten Sternkonstellation ein Pakt schließen ließ, der unsere Unantastbarkeit für alle Zeiten festschrieb. Nur den Wagemutigen stand das Tor zum Jenseits offen, jenen, die sich nicht beeindrucken ließen vom Gespött der Aufklärung, denn wir waren nicht getrennt von dieser unbekannten Welt, in die nur die Hexen und Zauberer zu reisen vermochten, die Verrückten und die Kinder der Nacht, die ihre Qual am Leben durch ihren absonderlichen Schlafrhythmus ausdrückten, indem sie das Tageslicht mieden. Schon wurden sie von ihrem Umfeld gebeten, etwas Freude in ihr Leben zu lassen, etwas Farbe in ihr Haar zu geben und etwas Sonne auf ihre Haut kommen zu lassen, um gesünder auszusehen. In Wirklichkeit machten sie sich weniger Sorgen um die Tochter oder den Sohn, sondern um sich selbst. Jede Todesnähe hat von jeher die Lebenden erschreckt, denn am Liebsten würden sie die Erinnerung an das Unausweichliche für immer hinter dicken Türen einsperren. Sie aber würden nur vergehen, sie würden fallen wie gemähtes Gras, das in alle Winde davonstob, um den Mund der Fäulnis zu nähren. Warum sollten sie nicht auch uns gehören? Warum sollten wir uns nicht im Jetzt und Hier an ihrer Lebenskraft bedienen, ihnen nur hinterlassen, was sie für ihr unbewusstes, ängstliches Siechtum benötigten? Wir würden wie Vampire sein, die ihre Opfer wie in einer Speisekammer frisch hielten und nur gerade so viel nahmen, wie sie zu ihrem eigenen Vergnügen benötigten, um sich in die Lüfte zu erheben – warum nicht?  

Oft träumte mir, ich könne die oberflächliche Welt hinter mir lassen und es gäbe nichts als die Reinheit der Ewigkeit um mich herum. An den Teufel glaubten wir ebensowenig wie jeder Mensch, der einmal in die Natur hinaus ging und das Lauschen erlernte. Es ist gut, dass es nur wenige von uns gibt, deren Zahl sich über all die Zeitalter konstant hielt.

Also kamen wir an einem Donnerstag zusammen, an dem nicht nur der Mond günstig stand. Wir versammelten uns an diesem durchlässigen Ort, an dem so viele Menschen gerichtet wurden, dass sich deren Energie unmöglich weit fortbewegt haben konnte. Selbst die Henkersfamilien hatte man ganz in der Nähe zur letzten Ruhe gebettet, ein kleiner Friedhof, der um eine mächtige Buche gruppiert war, zeugte davon. Wer es genauer wissen wollte, der konnte von einem eingefassten und überdachten Schild die genauen Daten ablesen. Mir war kein anderer Ort bekannt, der so wie der natürliche Tempel aller Richtstätten wirkte wie dieser. 

„Wir alle sind Henker“, flüsterte ich meinen Verschwörern zu. „Wir alle wollen von der Kraft dieser heiligen Kunst zehren.“ 

Und alle stimmten mir zu, auch wenn ich in manchen Augen den zweifel und die Hoffnung erkannte, die Nacht möge weniger nah und vollkommen sein und es möge sich um ein Abenteuer handeln, das in seiner Unheimlichkeit nur ein kurzer folgenloser Streich bliebe.

„Wir wollen Mörder sein,“ flüsterte ich weiter. „Wir wollen zehren von der Ewigkeit, in der die Jäger ewig leben.“ Sind denn nicht alle Henker notwendigerweise Mörder? Von der Gesellschaft, der sie ihre Dienste zur Verfügung stellen, gleichermaßen geächtet und legitimiert, bereits im Leben von jenseitigem Geist, wie die Huren, die Schausteller, die Bader, Müller, Schäfer und Gerichtsdiener – all diese ehrlosen Berufe der Schattenseiten einer bürgerlichen Vorstellung. 

Wir sahen und hörten nichts, so sehr wir uns auch konzentrierten.

Stendhal lachte vor Anspannung, bevor er aufschrie und uns mitteilte, dass er nicht mehr sehen könne. Seine Augen waren aufgerissen und das Mondlicht, das uns alle blendete, spiegelte sich in seinem Gesicht, bis auch wir anderen nichts mehr zu sehen vermochten. Noch bevor die Angst in uns kriechen konnte, war es auch schon wieder vorbei.

„Wir haben die Augen gewechselt bekommen“, erklärte ich. Noch sah alles aus wie vorher, aber ich war davon überzeugt, dass sich das bald ändern würde. Doch das hatte es schon.  

Von hier aus hatte man einen freien Blick über die Schieferdächer des Dorfes und des weiteren Umlands. Die Kirche sah man nicht, dafür aber jene im Nachbardorf. Wie ein kalter weißer Finger ragte ihr Glockenturm aus dem schwarzen Dickicht des weiten Waldes und reckte sich in den Rachen des schwarzblauen Himmels hinein. Hier oben gab es nicht einmal eine Kapelle.

„Mir ist schwindlig“, sagte Stendhal und verließ unseren Kreis. Wir sahen ihm nach, wie er mit der Dunkelheit verschmolz. „Es ist viel zu still!“, rief er. „Und außer dem Mond ist nirgendwo ein Licht zu sehen.“

Wir anderen erhoben uns, um uns davon zu überzeugen, denn Stille gab es in unserer modernen Welt nicht, es gab nicht einmal Ruhe. Tatsächlich machte jeder von uns diese Erfahrung zum ersten Mal. Wir hörten nicht das leiseste Geräusch. Der Mond trieb wie ein elfenbeinfarbener Kahn durch mäanderndes Wolkenwerk. Zu unseren Füßen schliefen die braven Bürger, die Schäfchen und Diener, denen die Willkür der Welt noch nicht viel angetan hatte. Die anderen, die in Scheunen hausen mussten, sich hinter Treppen verschanzten, kannten diesen sorglosen Schlaf nicht. 

Wir standen zu dritt am Rande des steilen Abhangs und senkten unseren Blick wie Schwerter auf die Häuser nieder.

„Wir sind Henker“, wiederholte ich, „denn wir haben nicht die Absicht zu behüten und zu schützen.“

„Aber wir sind keine Richter“, sagte Stendhal.

„Nein, das sind wir nicht, denn Gericht wurde schon längst gehalten.“

Hinter uns standen die Familien im fahlen Licht und beobachteten uns, blieben aber in der Nähe ihrer Gräber. Wenn wir jetzt hinabstiegen, würden wir die Schlafenden nicht aus den Betten zerren müssen, wir würden warten, bis man sie zu uns brachte.

Wir hatten nicht vor, bei Torturen, Folter und peinlicher Befragung arglistig zu sein, aber auch nicht gelinder oder schärfer zu foltern als es das Urteil erforderte. Wir leisteten den Eid, keine zauberischen Mittel einzusetzen, um das Bekenntnis der Gefolterten zu erpressen. Wir schworen, barmherzig zu sein, und niemanden im Dorf unnötig leiden zu lassen. Dann drehten wir uns zu den Familien, schritten durch ihren Spalier, nahmen Abschied von den nebulösen Umrissen der Henkerstöchter, die je ein rotes Tuch aus ihren geisterhaften Schürzen nahmen und uns winkten. Es war ein leichter Wind aufgekommen, der uns bis nach unten begleitete. Die Pflicht, die unsere Schritte lenkte, wich nach kurzer Zeit der Sehnsucht nach dem Galgenhügel. 

„Wie muss es einst gewesen sein, eine Henkerstochter zu lieben?“, brach Stendhal das Schweigen. 

„Es war wie jetzt“, sagte ich. „Denn auch damals kam man nicht umhin, sich zu bekennen.“ 

Wir machten uns an die Arbeit. 

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