Kult!

Monat: April 2017

Warum ich ein Phantast geworden

Vielleicht ist es das Dilemma der Geburt, das die Perspektive ein für alle Mal verändert, nachdem wir vorher nichts als Wärme kennengelernt haben, die sich um unseren Körper schmiegt, den wir noch gar nicht kennen und zu diesem Zeitpunkt auch nicht kennen wollen. Uns genügt das mütterliche Meer, in dem wir endlos träumen, bis eines Tages die Vertreibung eingeleitet wird. Das erklärt uns später die Sage von Eden, aber kein Apfel war daran schuld – Erkenntnis ist doch eher ein hartes Brot.

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Das Amulett der Mumie (Hörspiel)

Bram Stokers Original: The Jewel of Seven Stars von 1903, das dem Subgenre der Gothic Fiction angehört, genauer: dem Gothic Horror, einer Vermischung der Schauergeschichte mit der Romantik, und vom Bastei Verlag 1981 unter dem Titel Die sieben Finger des Todes verlegt wurde, erschien sechs Jahre nach Veröffentlichung seines heutigen Bestsellerromans Dracula. Wenn auch den Kennern und Liebhabern der Phantastik bekannt, zählt der Roman hierzulande doch zu seinen weniger bekannten Werken. Schon zu seiner Zeit reagierte die englische Leserschaft eher verhalten. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Original unzähligen Verfilmungen als Vorlage oder Inspirationsquelle diente und bis heute noch dient. Bekannteste Adaptionen sind: Seth Holts Blood from the Mummy’s Tomb / Das Grab der blutigen Mumie (1971), Mike Newells The Awakening / Das Erwachen der Sphinx (1980) und Jeffrey Obrows Bram Stoker’s Legend of the Mummy (1997).

Ägyptomanie in England

The Jewel of Seven Stars enthält typische Fin de siècle-Themen wie etwa den Imperialismus, die Erstarkung eines neuen weiblichen Bewusstseins und auch soziale Fragen. Deutlich melodramatische Tendenzen des viktorianischen Theaters sind erkennbar. Bram Stoker, der ein großer Kenner der ägyptischen Mythologie war, hatte am Trinity College Orientalistik studiert und verwendete große Sorgfalt auf die Darstellung der Details. Was nicht verwundert, da das viktorianische England, das sich von der ägyptischen Kultur fasziniert zeigte, ja sogar eine regelrechte Ägyptomanie entwickelte, bereits 1882 mit dem Versuch begann, Ägypten zu kolonisieren. Was natürlich die Überführung der aufsehenerregenden Artefakte dieser Kultur erheblich erleichtern würde. Es wurde zur Mode, Mumien und Särge öffentlich in Bibliotheken und Museen zur Schau zu stellen. Auf sogenannten Mumienpartys wickelte man die Toten sogar aus. In der Literatur der Zeit kam der Plot des Fluchs der Mumie immer mehr zum tragen und erreichte schließlich seinen Höhepunkt in der viktorianischen Erzählung in Form der Erotisierung weiblicher Mumien, die stets als überirdisch schön und geheimnisvoll beschrieben wurden.

Doch woran liegt es, dass eine prominente Riege, bestehend aus solchen wie Frankensteins MonsterDraculaDr. Jekyll und Mr. Hyde, ohne Mumie auskommen muss?

Die Antwort ist leider einfach. Es liegt an der Umsetzung und Ausführung des Stoffes. An der wenig Spannung erzeugenden, geradlinigen Erzählstruktur Stokers, der allzu pedantischen Beschreibung und Aufführung der ägyptischen Artefakte und an den teilweise kaum nachvollziehbaren Motiven seiner Figuren. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Perry, die sich ausgiebig mit dem Werk Stokers beschäftigt hat, kommt zu dem Ergebnis, dass er versuchte, den Prosarhythmus von Walt Whitman nachzuahmen.

Warum gerade dieses Werk?

Und das bringt mich zur nächsten Frage. Die da nicht wäre: Warum gerade dieses Werk? Denn: Warum denn nicht?! – Hat Stoker uns doch mit diesem Werk einen wichtigen Beitrag zur Mythologie der Mumie hinterlassen. Was aber war das Ziel derjenigen, die diesen Roman zu einem Hörspiel aufbereiten wollten? Und ist es ihnen gelungen? Denn für diese Review ist es notwendig zu wissen, dass sich die Macher dieses Hörstücks einer zweiten, späteren Fassung von 1912 angenommen haben, die uns ein anderes, alternatives Ende präsentiert. So wurde das Chapter XVI “Powers – Old and New” zugunsten eines glücklicheren Endes gestrichen. Auch wurde einiges andere verändert. Warum, wieso, weshalb nun diese Fassung, dazu möchte ich später erst kommen. Daher erst einmal zum Hörstück:

Wir schreiben das Jahr 1904. Sind in London. Im Haus des Archäologen Abel Trelawny, einem Liebhaber und Sammler ägyptischer Altertümer, der, es ist gerade Nacht, in ein mysteriöses Koma gefallen ist. Blut und Wunden am linken Handgelenk weisen auf einen Täter hin. Die erste, die ihn vor seinem Tresor liegend findet, ist seine Tochter Margaret, die gerade zu Besuch ist und sogleich den Rechtsanwalt Malcolm Ross durch einen Brief verständigt und zur Hilfe ruft. Auch ein gewisser Sergeant Daw von Scotland Yard ist gerufen worden und bei Eintreffen des jungen Anwalts von Abel Trelawny bereits im Hause.

Interessanterweise hat Margarets Vater, der seit geraumer Zeit Forschungen über die ägyptische Königin Tera anstellt, mit diesem Vorfall gerechnet, wie wir durch einen Brief erfahren, der an seine Tochter gerichtet ist, in dem er verfügt, wie mit ihm weiter verfahren werden soll und welche Vorkehrungen zu treffen sind. Drei Dinge sind zu beachten: Er darf sein Arbeitszimmer nicht verlassen. Ebenso darf keine der ägyptischen Raritäten von ihrem Platz genommen werden. Alles soll so bleiben wie es ist. Und er selbst muss immer von zwei Personen bewacht werden. Ross, der in Margaret verliebt ist, freut sich mit ihr die erste Nacht bei ihrem Vater verbringen zu dürfen. Doch es kommt anders, da Margaret den ganzen Tag nicht von seiner Seite gewichen war und somit am Abend zu müde ist die erste Nachtwache zu halten. So muss Malcolm mit Schwester Kennedy vorliebnehmen. Die Wache ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn sowohl Malcolm, der in einen tranceähnlichen Zustand fällt, in dem er jene weibliche Stimme vernimmt, die ihn an Margaret erinnert, die Abel Trelawny schon hörte, die ihn ebenso auffordert:

“Vollzieh’ das Ritual! Befreie mich! Bring’ mich zurück! Du kannst es. Tu es! Ich will leben. Leben!!!”

— als auch Schwester Kennedy, die nun ebenso wie Abel in einem komatösen Zustand gefangen ist, schaffen es nicht, den Archäologen zu beschützen und des Rätsels Lösung zu offenbaren. Denn auch er ist erneut angegriffen worden, liegt wieder am Boden vor seinem Tresor. Alle Anwesenden versammeln sich und überlegen erneut was zu tun ist. Sergeant Daw äußert Ross gegenüber sogar Zweifel an Margarets Unschuld, da sie immer als erste am Tatort erscheint. Auch ihr Perserkater Silvio, der auf Kriegsfuß bzw. Kriegspfote mit ihrem Vater steht, der, nähert er sich dem Sarkophag von Tera und ihrer ebenso mumifizierten Tigerkatze, immer furchtbar zu fauchen beginnt, rückt, nach der Begutachtung des Opfers Trelawny von Dr. Winchester, in den kleinen Kreis der Verdächtigen. Die Schnitt- bzw. Kratzwunden am linken Handgelenk des Archäologen sprechen dafür. Zumal er an diesem ein Armband mit einem Schlüssel trägt, der zum Tresor gehört, der zusätzlich von einem Kombinationsschloss mit sieben Buchstaben gesichert wird. Jemand versucht also ins Innere des Tresors zu kommen.

Dr. Corbeck, ein alter Archäologenfreund von Abel Trelawny, mit dem er damals gemeinsam das Grab von Tera aufgesucht hatte, betritt das Haus. Beide stützten sich damals auf Nicholas van Huyn, der 1650 in Amsterdam ein Dokument verfasste, in dem er das ‘Tal des Magiers’ beschrieb, eine geheime Begräbnisstätte der alten Ägypter, und in dem auch Teras Grabkammer Erwähnung findet. Mehr und mehr bringt Corbeck Licht ins Dunkel der Geschichte. Er erzählt von den sieben antiken Leuchten, die er auf einer seiner Expeditionen, die Trelawny in Auftrag gegeben hatte, entdeckte. Sieben Leuchten. Stammend aus der Grabkammer der Königin, die in die sieben Vertiefungen des Kästchens passen, dass die beiden in der Nähe ihres Sarkophags gefunden hatten, die ihm jedoch erst kürzlich aus seinem Hotelzimmer gestohlen wurden. Als die Dienerin Mrs. Grant diese wiederum im Wäscheschrank von Trelawnys Tochter findet, erhärtet sich der Verdacht gegen sie weiter. Wir erfahren von Corbeck überdies, dass Tera eine mächtige, in schwarzer Magie versierte Frau war, die von ihrem Vater sehr früh in ihr Amt als Königin eingeführt wurde. Und wie ihr Vater es vorausgesehen hatte, trachteten ihr feindlich gesinnte Priester danach, sie zu stürzen, da sie die Macht des Königstums auf sich übertragen wollten. So kam es, dass man ihren Namen aus der Geschichtsschreibung strich, allenfalls als die Namenlose findet sie noch Erwähnung, denn man glaubte, so hören wir:

“Wen die Götter nicht beim Namen rufen können, dem bleibt die Auferstehung auf ewig verwehrt.”

Tera war zudem im Besitz eines Rubinsteins in der Form eines Skarabäus, der so geschliffen wurde, dass das Licht sich in sieben Richtungen bricht, der ihr auch große Macht über die Götter verlieh. Und diesen Stein, den die beiden in ihrem Grab fanden – sie hielt ihn mit beiden Händen geschützt auf ihrer Brust über dem Herzen liegend – verwahrt Trelawny, der bis zum Schluss an der Entzifferung der Hieroglyphen in ihrem Sarkophag arbeitete, in seinem Tresor. Doch Tera hatte vorgesorgt, sich lebendig einbalsamieren und mumifizieren lassen. Sie plante ihre Auferstehung in einem anderen Land, zu einer anderen Zeit, im Norden, unter dem Sternbild des Großen Wagens, das sich in der Anordnung der Vertiefungen des Kästchens wiederholt. Und Abel Trelawny war und ist, einem Diener gleich, gewillt ihrem Willen nachzukommen, ihr wieder ins Leben zu verhelfen.

Die wichtigste Information aber, die Dr. Corbeck den Anwesenden zu geben weiß, ist diese: Abel Trelawny öffnete das Grab Teras genau zur Zeit von Margarets Geburt in London, die seine Frau nicht überlebte.

Trelawny erwacht wieder und gibt selbst an, dass es die Tigerkatze war, die ihn angegriffen hat. Tera habe sie mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, um an das Amulett im Tresor zu kommen. Und da sich auch die Gestirne in der richtigen Position zur Erde befinden, nimmt die Geschichte ihren vorhersehbaren Lauf: Margaret spricht mehr und mehr in Worten Teras, was auch Malcolm bemerkt, der sich nicht mehr sicher ist, ob es noch ihre Augen sind, die er sieht, oder die einer anderen Frau. Die Mumie wird von ihren Binden befreit: Tera hat die Zeit offenbar gut überdauert. Zudem findet sich auf ihr liegend ein weißes Hochzeitsgewand. Die Leuchten werden in die Vertiefungen des Kästchens gesteckt, Zedernöl wird in sie eingefüllt, und auch das Amulett der sieben Sterne wird ihr wieder auf die Brust gelegt …

“Bring’ mich ins Leben zurück! Vollzieh’ das Ritual! Tu es! Jetzt! Es ist die Zeit.”

Margaret stöhnt, schreit, zittert. Alles taucht in einen dichten Nebel. Keiner sieht was eigentlich vor sich geht. Und als es sich wieder lichtet, findet sich überall Staub. Doch von Tera … : keine Spur. Einzig ihr Hochzeitskleid liegt zurückgeschlagen da, als ob ihr Körper, der darunter lag, aufgestanden wäre. Trelawny und Dr. Corbeck sind enttäuscht. Nur Margaret und Silvio wirken auf den Hörer durchaus in ihrem Wesen verändert.

Und so blieb, erzählt Ross, das Verschwinden der Königin ein Geheimnis. War sie wirklich nur zu Staub zerfallen?

Ross, der ebenso traurig darüber ist, dass Tera nicht zu einem neuen Leben, in einer neuen besseren Welt erwacht sei, in der ihr Herz schlagen dürfe, wird von Margaret mit folgender Antwort getröstet:

“Sei ihretwegen nicht traurig, Malcolm. Wer weiß, ob sie nicht doch fand, was sie suchte. Vielleicht übersteigt ihre Art der Auferstehung bloß unser bescheidenes Vorstellungsvermögen. Sie träumte ihren Traum und ich fühle, dass sie nun zufrieden und endlich zur Ruhe gekommen ist.”

Wie schon erwähnt, arbeitet Titania Medien hier mit der Fassung von 1912, einer, die ein glücklicheres Ende entwirft als das Original, das im Bastei Verlag unter dem Titel Die sieben Finger des Todes erschienen ist. Das mag daran liegen, dass Stokers Leser schon zu seiner Zeit, aufgrund der diffusen Story, verwirrt reagierten. Sie konnten nicht begreifen, blieben perplex zurück, auch weil sie ein Happy-Ending seiner Romane gewohnt waren. Denn im Original überlebt keiner außer Malcolm Ross, der am Ende der Auferstehungszeremonie im Nebel über einen Körper stolpert, von dem er glaubt, es sei Margarets. Die Treppe hinauf im Dunkeln, birgt er ihn in einer Halle. Geht jedoch noch einmal zurück, um Streichhölzer zu suchen, da es im ganzen Haus dunkel ist. Als er zurückkommt, findet er nur noch das Hochzeitskleid am Boden liegend, auf dem nun auf Herzhöhe der Ring funkelt, den die Klaue an einem der sieben Finger trug. Die Klaue, die ihre Opfer traktierte. Nicht etwa der verdächtige Perserkater Silvio oder, wie wir später in der alternativen Fassung erfahren, die Tigerkatze der Königin.

Eine Londoner Zeitung, The Saturday Review, schrieb:

“This book is not one to be read in a cemetery at midnight … but it does not quite thrill the reader as does the best work in this genre … It is due to Mr. Stoker to say that his wild romance is not ridiculous even if it fails to impress.”

Die Klaue muss weichen

Warum um Himmelswillen ist man nicht bei der Klaue geblieben? Zu abstrus und unfreiwillig komisch erscheint mir der Versuch einer Magierin, eine Katze dazu zu bewegen, einen ausgewachsenen Mann vor einen Tresor zu zerren, der den Schlüssel für diesen an seinem Handgelenk trägt. Wohlgemerkt: Mit Pfoten einen Schlüssel verwenden! Selbst dann, wenn es eine Tigerkatze ist. Das hätte mit einer Klaue doch viel besser funktioniert! Auch der kurze Hinweis auf die sieben Buchstaben des Kombinationsschlosses, die keiner kennt, führt ins Leere. Sieben Buchstaben. – O.k.. Denn mit der Zahl 7 können wir etwas anfangen. Aber was für Buchstaben? Das wird nie geklärt. Und auch überhaupt nicht weiter darauf eingegangen. Und welche Motivation hat eine Königin, die ihre Zeit, die von einem Patriarchat geprägt wurde, das sie zu unterdrücken versuchte, floh, ihre Lider in einem viktorianischen England – nicht gerade eine HochZeit für Frauen – wieder aufzuschlagen, um einen Anwalt zu heiraten, den sie gar nicht kennt? Denn – wir erinnern uns – all das wurde von ihr sorgfältig geplant. Ihr neues Leben unter dem Gestirn des Großen Wagens.

Was ist sie nun? Auferstanden? Oder ist es doch eine Art von Wiedergeburt, eine Reinkarnation, da ihre Graböffnung zeitlich mit der Geburt Margarets vonstatten lief? Wir wissen es nicht genau. Und darauf kommt es in diesem Fall ja auch nicht an. Genaues Wissen. Aber allzu Abstruses …?

Warum Warum Warum …

Warum hat Stoker?

Warum hat Titania Medien?

Offengestanden, ich kann es Ihnen nicht beantworten. Kann nur mutmaßen, dass man auf ein Happyend gesetzt hat (denn eines stand ja zur Auswahl), versucht hat die Atmosphäre der damaligen Ägyptomanie einzufangen. Und ich muss sagen: Ja, das ist gelungen! So funktionierte es für mich die ersten 15 Minuten. Dann aber hängt sich die Geschichte leider an ihrem Verlauf auf. Darüber kann Titania Medien mich nicht hinweg hören lassen. Ein wenig schade ist es, und doch Stoker in die Schuhe zu schieben, dass er mit seiner Tera, eine in ihrer Anlage doch starke Figur, die sehr in ihren Zügen an die historische Hatschepsut erinnert, nicht mehr anfangen konnte: Das gilt für beide Fassungen gleichermaßen, egal ob Stoker von Verlegern genötigt wurde, eine neue aufzusetzen, obwohl ich selbst doch die originale präferiere. Die mit der Siebenfingerklaue.

Ach ja, etwas kann ich Ihnen aber doch noch anbieten als alte Anagrammiertante:

Tera (grch. téras: Ungeheuer) kommt im Namen Margaret vor. In den letzten vier Buchstaben. Von rechts nach links gelesen.

Ob das nun ein Zufall ist oder eine Spinnerei meinerseits, …

… wer weiß das schon!

Amor und Psyche

Die Stadt, die mich heimsuchte, ich wusste nicht welche, nichts über ihr Ausmaß, lag in einem dichten grünen Nebel getaucht. Schritt für Schritt nahm sie jeden meiner Füße derartig moosweich auf, dass ich bei jedem erneutem Kontakt das Gefühl hatte in einem unfassbar weiten Moor zu versinken. Die Glocke um meinen Kopf wog schwer. Der an ihr, auf Höhe meines Hinterkopfs, angebrachte spürbare Schlauch, der mir offenbar Sauerstoff zuführte, reichte anscheinend weit zurück. Wie weit jedoch, das kann ich nicht sagen, da ich mich nicht erinnerte, wie lange ich schon durchs Grün schritt, wie weit ich mich schon von einem Ausgangspunkt entfernt hatte, den ich in meiner Erinnerung gar nicht abrufen konnte. Mein Ausgangspunkt. Ein Ausgang, der doch vielmehr einen Eintritt bedeuten musste. In etwas, das ich immens wahrnahm. Obwohl ich zugleich dachte, das lag wohl an der Weise wie meine Schritte von ihr aufgenommen wurden, dass sie doch eher mich wahrnahm. Mich langsam in sie einverleibte. Es war mir als wäre Tag. Als ob Licht in diesem üppig grünen Nebel lag. Er schien in seiner Natur konvex zu sein, konvex zu funktionieren. Sich mir geradezu entgegen zu wölben in seinen ‘Bildern’, setzte ich einen Fuß vor den anderen, und doch waren sie nie so nah, wie sie mir schienen, ja ich würde sogar sagen, wie ich sie sah. Denn ich sah in ihm tatsächlich etwas. Sah sich entwickelnde und verändernde Landschaften, Figuren und Formen, die sich mir darboten als wären sie Begleiter meines unbestimmten Weges, den ich nahm. Doch eigentlich bietet es sich an, sie eher als Begleiter meines Daseins zu bezeichnen, da von einem Weg ja nicht wirklich gesprochen werden kann. Ich ging schließlich nur. Ohne Ziel. Ohne irgend einen Anhaltspunkt. Hielt ich je an? Hatte ich geruht? Gar geschlafen? Ich weiß es nicht. Schritt ich überhaupt voran? Oder trat ich nur auf der Stelle?

Immer wieder blitzten mir weiße Augen auf. Hier und da. Dort drüben. Milchig aus den sich zusammenziehenden Dickichten schauend. Dickflüssig weiß. Mit den Lidern in die fließend grünen Landschaften verwoben, die sich mir wellenweise wie Kontaktlinsen näherten. Als ob sie mich besahen. Sich ein Bild von mir machten, mich in Augenschein nahmen, sich mir in sich immer verändernder Weise zeigend, als ob sie mich aus jeder denkbar möglichen Form, die sie annahmen, wahrnehmen wollten. Und immer wenn sie das taten, vernahm ich an diversen Stellen meines Körpers Lidschläge, als würde ich meine Augen auch an anderen Stellen meines Körpers öffnen. Mal an meinen Beinen. Mal an meinen Oberkörper. Mal an meinen Armen. Ich versuchte meinen Körper abzutasten, nahm ihn jedoch in seinen Einzelheiten, seinen Untergliederungen und Extremitäten als einen einzelnen Vielkörper wahr. Das heißt: Wenn ich nach meinem Bein tastete, spürte ich eine Vielzahl von meinem Bein, die sich aus meinem ergab. Ich spürte also ein Vielbein. Gleiches nahm ich an meinen Armen wahr, berührte ich sie. Es war ganz gleich wohin ich fasste, einzig mein Kopf, der in der Glocke geborgen lag, blieb mir vom Versuch verschont auch ihn in einer Vielzahl wahrzunehmen. Jedoch wusste ich nicht, ob es sich dann ebenso verhielte, nähme ich die Taucherglocke ab, zumal ich auch nicht wusste, ob ich in dieser nebelgrünen Atmosphäre atmen konnte. Und ich brannte auch nicht gerade darauf es herauszufinden. Zu wahnsinnig erschien mir die Idee, meinen Kopf, meine Gedanken, alles, was ich wahrnahm und mir zu einer sich stetig verändernden Information einer Welt wurde, in der ich mich befand, potenzierter wahrzunehmen als ich es ohnehin schon tat. Und so konnte ich die Augen nicht tasten. Fand nur immer wieder diese Vielzahl von meinen Beinen und Armen bestätigt, versuchte ich mich erneut davon zu überzeugen, dass ich in den vorherigen Versuchen einem Missempfinden gefolgt war. Das Kuriose war, je länger ich konzentriert zu tasten und zu fühlen versuchte, desto schneller rasten die Beine und Arme aus meinen Beinen und Armen hervor. Als würde damit verhindert, dass eine Kette des Fortdauerns unterbrochen würde. Das hatte etwas sich Generierendes. Als brachte eine Blüte sich selbst immer wieder hervor. Eine Blüte die der Blüte dient, um überhaupt zu sein.

Dieser Gedanke machte mich rasend, ebenso rasend wie sich mir die Vegetation des Nebels anpasste. Ich wusste nicht, ob ich es war, die sich dabei schnell bewegte, obwohl ich keinen einzigen Schritt tat, oder ob es diese fließend dickichte Landschaft war, die mich umgab, mich in sich hatte, so sehr war ich mit ihr verbunden, dass ich mir das nicht beantworten konnte, dass ich das Gefühl hatte, dass meine Haut nun ganz mit ihrer verwoben war. Es war ein von Anfang an warmes waberndes Empfinden. Klimatisch feucht. Doch jetzt, obwohl ich noch immer die Taucherglocke trug, hatte ich das Gefühl, dass es mir meinem Atem raubte, ich immer weniger Luft bekam, mich erdrückte, meinen Brustkorb fasste und engte. Ich blieb am Boden, versuchte mich zu sammeln, zu beruhigen, um erfassen zu können, was um mich herum passierte. Strengte meine Augen mehr an, indem ich sie leicht zusammenkniff, in der Hoffnung: doch noch etwas zu erkennen, das vielleicht hinter diesem konvex dickichten Nebel lag, den ich durchdrang ohne mich zu erinnern in ihn, diese Vegetation, eingedrungen zu sein, die mir undurchmessbar erschien. Als wäre ihre Weite eine Dauer, die mir zugleich jegliche Empfindung für Zeit nahm. Ich versuchte etwas zu erkennen, das mir einen Weg hier raus bedeuten könnte. Ich suchte allein mit meinen Augen. All meinen Augen, die sich aufschlugen, denn mir war klar, mich fortzubewegen, würde nichts nutzen, da ich ja überhaupt nicht wusste, ob ich es überhaupt getan hatte, mit jedem meiner Schritte. Zunehmend hörte ich meinen Herzschlag in der Glocke, meine Atmung wurde heftiger und kurzfrequenter. Das kleine Fenster beschlug nun im Innern. Ich konnte noch sehen, dass sich um mich herum Umrisse einer Stadt abzeichneten, die der grüne Nebel nach und nach freigab. Aber sogleich sie mir wie eine erlösende Fatamorgana erschienen war, wurde sie vom Kondenswasser meines Atems verdeckt, das sich an meinem, so dachte ich mittlerweile: kleinen Seelenfenster sammelte. Ich entschied mich auf allen Vieren zu ihr vorwärts zu krabbeln. Zu weich waren meine Beine vor Angst. Nur woher sollte ich wissen, dass ich mich immer noch in der richtigen Richtung befand. Ich kam mir vor wie eine heillose Eva in der grünen Hölle. Einzig der moosartige Boden unter meinen Händen und Knien blieb mir als etwas Reales, das mir Orientierung gab, mir versicherte, dass noch etwas außerhalb dieser Glocke, die nun die sichtbare Welt um mich herum bedeutete, existierte. Das war ein beklemmendes, kaum auszuhaltendes Gefühl, mit dem Körper in einer zu sein, die außerhalb derjenigen lag, die ich sehen konnte. Diese Zweiteilung: Der eigene Körper, der sich in einer für mich nicht (mehr) sichtbaren Welt die fortdauernde Existenz erkrabbelt, während mein Kopf, meine Gedanken in einer kleinen Taucherglocke festsaßen. Knie um Knie, Handfläche um Handfläche krabbelte ich voran. Der moosige Boden wuchs mich ein, mit jedem Zentimeter, den ich mich weiter traute, mich von ihm umschließen zu lassen. Näher den Umrissen der Stadt zu. Ich bewegte mich, je mehr es mich in sich nahm, weich und weicher werdend, spürte meine Kniescheiben, die Knochen und Muskeln meiner Hände kaum noch. Kam aber dennoch weiter, denn ich verlor auch an Gewicht, das ich zu tragen hatte. Ich wurde leichter und leichter. Bis keines mehr da war. Nur mein Kopf blieb durch die Taucherglocke unverändert schwer. Bald war nur noch er es, in dem ich mir bewusst war. Die inneren Ränder der Glocke wurden mir zum letzten Raum, in dem ich mir noch gewahr wurde. Das aber wurde mir im Nichts, in dem ich mich ansonsten befand, zuviel. Noch immer, das Fenster war weiterhin beschlagen und beschlug auch weiterhin, atmete ich. Was mir aus mehreren Gründen ein Rätsel war, da ich meinen Brustkorb nicht mehr spüren konnte, und auch nicht das Gefühl hatte, dass der Schlauch mich weiterhin mit Sauerstoff versorgte. Ich war einfach nur noch. War nur noch in dieser Taucherglocke. Sah weiter nichts als meinen eigenen Atem, der sich an dem kleinen Fenster zu Wasser kondensiert hatte. Ich ertrank an meinen eigenen Gedanken, die diese Hölle mir machte, die kein Mensch auszuhalten fähig wäre. Und so stieg das Wasser in ihr. Es wurde dunkler und dunkler. Ich sank. Erinnerte mich sogar mich noch dankbar empfunden zu haben. Doch je mehr ich sank, umso mehr spürte ich einen stärker werdenden Sog, der mir meinen Körper wieder ins Bewusstsein gab. Mit einer Gewalt, die zur Folge hatte, dass ich ihn wie ein tonnenschweres Gewicht wahrnahm, das mich in meiner Taucherglocke rasant in die Tiefe zog. Mir wurde kalt und kälter, umso mehr sich mein Körper rekonturierte. Mein kleines Seelenfenster gefror zunehmend bis es schließlich sprang und ich mich in vielen kleinen Spiegeln im Dunklen als ganzes Wesen sah: Nackt und klein. Ich versuchte die Spiegel mit den Händen aus meiner Glocke zu lösen. Einen nach dem anderen. Und mit jedem einzelnen, den ich löste, legte ich ein sonderbares Wesen frei, das sich hinter diesem Seelenfenster schon die ganze Zeit verborgen hielt. Ein Wesen in Nacht, das über mir beugte wie ein riesiger Falter. Das mich mit großen grotesk runden Augen puppig betrachtete, dessen Körper ich mit meinen Händen als einen männlichen tasten konnte. Es war als blickte ich in das personifizierte Kindchenschema der Natur, das den Blick nicht von mir nahm, mich ansah als würde es in mich hineinsehen, und je länger es schaute, desto mehr nahm es in seinen Gesichtszügen, ja gar in der Farbe seines Haaransatzes meine Erscheinung an. Es, dieser Scheme, verpuppte sich durch mich. Durch mein offenes Fenster muss er wohl eingedrungen sein. Oder war ich es mit fellnen Flügeln, die seine Gestalt annahm?

Amor und Psyche von Johann Heinrich Füssli (um 1810)

Ich kann es nicht sagen. Ganz grün die Lippen.

Fleischsauce am Haken

Gäbe es eine Disziplin der Unmöglichkeiten, wäre Fleischsauce am Haken ein Dauerbrenner. Kempten hat noch sehr viele echte Fleischer, Haudegen am Hackebeil, am Viehschußgerät und am Rippenzieher. Die Auswahl fällt schwer, ein Qualitätsproblem gibt es hier nicht, die umgebundenen Schürzen der Metzger sehen besser aus als die im Klinikum, hygienischer auch, schließlich ist es beim Tier nicht egal, wie es verreckt.

Vinzenzmurr
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Hallo die Post

Für den Kanon kam heute Benjamin Percys “Roter Mond” an. Die Postbotin klingelt mich verlässlich um 9 Uhr aus dem Bett, ich versuche dann, ohne in den Schrankspiegel zu fallen, zur Sprechanlage zu gelangen. Sie sagt: “Hallo, die Post.” Sie sagt es ohne Komma: Hallodiepost. Und ich sage: “Ich komme!” Dann drücke ich auf den Summer und mache mich auf den Weg. Von oben kann ich dann das Päckchen auf der ersten Stufe der Haustreppe liegen sehen.

Percy schrieb auch für Detective Comics und sehr erfolgriech für Green Arrow, aber auch für das Wall Street Journal oder den Esquire. Diese Verbindungen sind immer wieder amüsant, wenn man unsere eigene literarische Landschaft so betrachtet. Die Rezensionen über Jedediah Berry Handbuch für Detektive und Steven Ericksons Das Meer kam um Mitternacht für das Phantastikon sind geschrieben, ein Interview mit Berry habe ich übersetzt. Gegenwärtig sehe ich mir Kirsten Bakis und ihr Leben der Monsterhunde genauer an (in Wirklichkeit lese ich es). Man muss sich den Slipstream, also die Phantastik, die nicht unter dieser Kategorie firmiert, überall mühsam zusammensuchen und dann auch noch nachsehen, ob es überhaupt eine Übersetzung gibt. Manchmal überrascht mich das, manchmal enttäuscht es mich, der Punkt aber ist: ich werde fündig.

This is the wall of dolls
Secret world of smalls

– Golden Earring, The Wall of Dolls

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