Kult!

Monat: August 2019

Der bukolische Rest

1890 am 20. Januar mittags 2 ¼ Uhr erfolgten plötzlich 2 starke Blitz- und Donnerschläge mit darauffolgendem Schneegestöber. 1891 gab es sehr viel Mutterkorn, dass ein Pfd. Um 1,05 Mk. verkauft wurde. 1892 am 1. Mai war ein furchtbarer Schneesturm, der die Waldvögel in die Stadt hereintrieb. Der Schnee lag ein und mehr Fuß tief. Es wurden am 1. und 2. Mai Schlittenpartien unternommen. Dann kam Regen und am 6. Mai wieder Schnee. Der Heuertrag war sehr gut. Die Hitze des Sommers war schier unerträglich: 36 ½ R. (Réaumur) in der Sonne. Das Getreide wurde vormittags geschnitten und nachmittags eingefahren. Es war dies Jahr ohne Unkraut. Kartoffel gab es viele und gute.

Ich habe mich mit dem Land verbunden, bin das Land geworden, weil ich der einzige bin, der das Gestein befragt hat. Jetzt bist du überall, mon amie d’enfanc, und meine Liebe ist eine Liebe aller Zeitalter. Und alles geht seinen Gang auf des Mutters Brust. Ich werde kommen, wenn du mich rufst, aber es wird mir schwerfallen, deine Wunder noch einmal auferstehen zu lassen. Oh, ich werde sie niederschreiben, sei dir gewiß, aber sie werden fremd sein, denn niemand kann dich hören, wie du unter ihren Schuhen tobst, wie du dich windest, vor allem weil du weißt, was aus mir geworden ist. Der ewige Wanderer. Ahasver. Allerdings bin ich kein Schuhmacher, und wenn ich es wäre, würde ich mich anregen lassen von den schlanken Sohlen der Dirnen, denen ich ihre zarte Haut bewahren wollen würde. Und Maß nehmen. Tag und Nacht Maß nehmen. Denn nur in den Schuhen meiner Zunft seid ihr willkommen, wohl in einem Stall, denn etwas anderes habe ich nie bewohnt. Aber wie gesagt, ich bin kein Schuhmacher. Nur jemand, der Koffer wechselt und ausschreitet. Ich bin das Land, der bukolische Rest, im wolkigen Moos faßt sie mich an.

Perlengestirn

Ich ritt in Stiefeln durch ausgestorbene Dörfer, Täler, Wälder, Seen, Plätze, die mein einziges Gesicht zerkratzen, mein stacheliges Tränenhalsband.

Astraler Nebel schwallte durch die Blutbahn, Nacht wurde Herbst, aber nur außerhalb der Körper, die im Perlenglanz erstrahlten. Worüber ich nachgedacht habe, ist die letzte Nacht, eine feste Festung, da hinein fallen Feste, so wie der Mond es vorschreibt.

Mond, holst du mich denn nicht ins Nichts?

Im Nichts unter dem Mond bin ich in allerbester Gesellschaft; neben einem heißen Körper bin ich ebenfalls heißer Körper, Perlengestirn, Perlenschweiß, Perlenmond, Perlendecke; Perlenaugen perlen ab an bronzefarbener Haut, die das Universum umspannt, zwischen den Bananenkisten des Physikers.

Die Zahl 7 ist als einzige Zahl unter den ersten zehn diejenige, die weder Faktor noch Produkt aus anderen Zahlen ist.

Der siebte Himmel ist der Bereich, der die Welt in ihrem Ganzen zusammenhält; da ist der Motor, der Put=Put.

Oh Bienenschwarm, oh Bienenschwarm, allein deine Sensorik, der zentrale Lichtpunkt, die schöpferische Kraft, ein Augenblick der Ewigkeit, der keinen Anfang und kein Ende hat! Selbst die Stille; heute ist sie nicht mehr da, heute ist die Stille wirklich still, aber damals gab es dieses Summen, das über allem lag wie eine Glocke, und einen Druck, das heißt, die Luft war fester, so als würden wir alle zusammengepresst und auf dem Boden gehalten. So überklar hingen im Geäst, in den Wipfeln der Bäume Buchstaben, die Wolken strotzten vor architektonischer Semantik, Schinken aus Prag, etwas Hustensaft aus der Apotheke, Sonntags in den Zoo.

Das Katzengold ihres Herdes

Mein Haus trägt diese Überschrift : Hotel; beherbergt schäbige, quietschende Zimmer, eine Rumpelkammer an vergessenen Relikten, das Säuseln der Frische beendet; mit Schaum vor dem Mund, mit einem Speer in der Hand, bin ich drauf und dran, den großen kerzengeraden Weg zu überqueren. Die ursprünglichen Träume, die Ornamente, Spreu in den Augen, nichts als Bilder und darüber keine Worte, grobe Zeichen, Cussac, Dordogne, Antipode einer ranzigen Fabrik, Leichengelb, mit schwärenden braunen Flecken. Wie Geister blicken sie in die Camera Obscura, Geister, die sie damals nur ein bißchen waren.

Ich ließ dich liegen wie die Blumen das Meer nicht berühren; nichts kam aus seinem Munde, das Atmen nur, das Atmen über den Blüten, wenn er doch nur 4 Mägen hätte (und einen in Reserve). Er könnte sich die Milch selbst heranziehen. Die Nacht dort ist nur halb Nacht, Neon-Nacht, unbedeckte Nacht, ein Funkenflug die Menschen in der Dunkelheit, am Tage kalt, Schlack; sie bewegen sich im Traum erst dann, wenn sie glauben, zu wachen, hüpfen dann um ein Feuer : ihre Stadt brennt, lodert, flackert, spotzt und speit. Sie hoffen, dem exothermen Vorgang zu entkommen, dem sie nicht mehr Oxidation sein wollen, sie bleiben jedoch das Katzengold ihres Herdes.

Der Brunnen der Yoni

Denkst du noch daran, wie du deine Kleider ablegtest, danach dein Höschen wieder anzogst, einen Ohrring herausnahmst? Du zerrißt das Höschen, bis du nur noch den Hosenbund trugst, von dem eine Triangel hing. Du sahst, wie etwas aus dem Meer gekrochen kam und dich musterte, was dir nicht unangenehm war. Du wolltest einen Brunnen graben und brauchtest jemanden, der dir dabei behilflich war.

»Kennst du dich damit aus?«

»Natürlich kenne ich mich damit aus, du hast doch gesehen, woher ich gekommen bin!«

»Das ist nicht dasselbe! Das Meer, das wurde nicht gemacht, das hat niemand geplant.«

Der große Frosch war anderer Meinung und teilte es dir mit, würgte eine Fliege hervor, würgte noch eine Fliege hervor. »Hier«, seine Zunge deutete auf die schwarzen Punkte im Sand, »hier ist die Mitte des Brunnens.«

»Ich sehe sie«, sagtest du. Ihr begannt gemeinsam zu graben, es veränderte sich nur das Wetter. I went down to the crossroads, try to flag a ride. 

Du lernst kennen und du vermisst; die eigentliche Art bleibt dir fremd. Du kommst gut nach Hause und schlecht aus dem Haus, ein Luftspuk, wo immer du bist. So zittern die Stunden, die Jahre vorbei, ein Traum ist so gut wie der nächste, die rührende Nähe der Wünsche vertreibt die Scheu, sich allein im Spiegel zu betrachten. Du gingst (später) in die Stadt der Schenkel, kamst über Haut gepilgert, die wie Sand ihre Formen verändert, gingst zum Brunnen der Yoni und wusstest nicht mehr, was du vorher wusstest. 

Terra finestre

Was bringst du mir heute, Erzähler,von der Welt bei, die du entwirfst und die ich nirgendwo finden kann? Die Augen sind schon seit dem frühen Morgen geöffnet, eine Falltür in den Tag hinein, der eindringt, sobald die Standuhr kurz innehält. Oft denke ich mir, ich kann, indem ich den Atem anhalte, damit auch die Sekunden verzögern,aber ich spüre, wie das Herz weiterwill. Die Bühne der Mime braucht Licht, nur ein Traum holographiert in das Finster (terra finestre).

Die Depeschen stecken pünktlich im Briefkasten, um 9 klingelt es an der Tür, aber aufgrund einer Erektion kann ich nicht öffnen, und ankleiden möchte ich mich nicht. Wir leben hier auf einem absonderlich lauten Schach-Feld.

Turmzimmer zu Karstenfels

Ich muß erneut eingeschlafen sein. So viele Schlafe, da mag ein Schlaf getrost kein Schlaf sein. Schlaff natürlich wird der Körper, daher kommt’s; aufstehen, erschlaffen und so fort. Ich stecke im Hotelzimmer meiner Chimären fest, das vorzeitige Erwachen betrifft nur meine doppelte Existenz. Jede der beiden will die Oberhand gewinnen. Das könnte sich als wichtig erweisen, wenn es einmal darum geht, wer ich bin, wer ich heute bin, wer ich gestern war. Der Ausschluß anderer Existenzen ist der konsequente Wegfall vieler alternativer Möglichkeiten, aber die Existenz selbst ist so schwammig, daß jedes Philosophieren darüber nur ein weiteres Spiel bleibt, ein Zeitvertreib; jeder Gedanke an ein anderes Leben ein Schatten, der nie wirklich da ist, aber auch niemals ganz verschwunden; mauvaise foi.

Unter verklebten Lidern befindet sich noch ein Rest der wirklichen Umgebung, eine dampfende Laterne, von Faltern umschwärmt. Da ist keine Erinnerung, nur eine trockene Kehle. Körperfunktionen halten inne, der Puls ist ein kleinwüchsiges Klopfen, die Säfte sind erstarrt, tief ins Gewebe zurückgezogen; die letzten Inseln lauernder Funktionslosigkeit. Bilder kehren mit dem Blut zurück zum Herzen, reisen mit Transferrin im Eisenbahnwaggon, Schubtore geschlossen, damit während der Langsamfahrt niemand aufspringen kann, Rucksack in die Ecke, Guitarre raus (ein Hobo!). Nichts gegen den King Of The Delta Blues Singers oder Steve Earle, wir aber reden hier von Gedanken, von Geschehnissen. Das ist kein Swamp-Soundtrack, das ist eine Geige, die sich Ritzen sucht. Da fällt durch, was sie ausscheidet, klagende, kratzende Diarrhoe.

Das Licht spielt, wie es von jeher mit der Welt spielte. Planetenstaub, angebumst von koronalen Massenauswürfen, Tiktaalik rosea, der dann Affe wurde. Bettzeug, das nach barocken Liebeslagern muffelt. Die Zunge der Zeit hat hier mit fetten Zotten den frischen Geschmack in den Rachen befördert. Der Eindruck ist nur noch ein finsteres, oxidierendes Relief. Wo bin ich? Ich will nur meine Stimme hören, die mir der Katzenjammer zugesteht. Es gibt Märchen, da antwortet der Teekessel überschwappend der magischen Brühe : »Rauss mitt diiir, bevor man die Prinsesssin skalpiert!«

Und ein Pferd tritt ein (Ah! es ist ein Friesenhengst, mit Hafer in den Ganaschen!), der junge Held von burlesker, ganymed’scher Schönheit tränkt seinen Körper im jetzt golden dahinfunkelnden Sonnenschein, der durch die Risse der garstigen Schwiegermutterscheiben taumelt. Dann ein recht merkwürdiger Name, sagen wir, Behrokh, sagen wir, Behrokh Espenlauba, die zitternd mit noch blonder Mähne im Turmzimmer zu Karstenfels ganz oben unterm Dach dem Einen harrt, der eine sehr, sehr durstige Kehle hat. Das Märchen beschreibt das runde, zugige, und von außen abgeriegelte Zimmer mit ein, zwei romantischen Paradesätzen, verschweigt die Bettpfanne, den stinkenden Essenstrog, erwähnt allerdings die Unmöglichkeit, das Gemäuer zu erklimmen. Viele haben’s schon versucht, hört man da, alle sind sie schauerlich deformiert und zerbreit an ihrem Leib ins Geisterreich gefahren.

Das letztliebliche Tal

Namen für Kieselsteine : Splitt, Gravel, Gneis, Schiefer, Griffel; in einer Zeit bevor Asphalt, in einer Zeit, da Wege begangen und nicht befahren wurden, in einer Zeit der Fotolinsenbeobachtung; nicht in dieser Zeit, sondern in dieser Möglichkeit.

Sie steht da in Pantoffeln aus zerfranstem Plüsch und verabschiedet mich im Auto, mich und das Auto, das viel früher zu ihr zurückkehren wird als ich. Die Kamera sieht den roten Horch, die Tür noch geöffnet, um keine Barriere entstehen zu lassen zwischen dem Gesichtsfeld und dem Handkuß; sie in einer Schürze aus Polyethylenterephthalat, ich in Baumwolle, nicht sichtbar, fast wie die Kamera blinzelnd, ohne auch nur im Ansatz mit ihrer starren Erinnerung konkurrieren zu können.

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Notizen zur unheimlichen Literatur

Natürlich hat das Leben keinen Sinn. Aber der Tod auch nicht. Und das ist eine weitere Sache, die das Blut in Wallung bringt, sobald man Lovecrafts Universum entdeckt. Der Tod seiner Helden hat keine Bedeutung. Der Tod lindert nichts. Er bedeutet in keiner Weise das Ende der Geschichte. Unerbittlich zerstört HPL seine Figuren und bring damit nur die Verstümmelung von Marionetten hervor. Gleichgültig gegenüber diesen erbärmlichen Wechselfällen wächst die kosmische Angst weiter. Sie schwillt und nimmt weiter Gestalt an. Der große Cthulhu erwacht aus seinem Schlaf.

  • Michel Houellebecq*

Ich habe das Gefühl, dass zu viele Menschen von Lovecrafts Monstern, Tentakeln, Polypen und Shuggoths besessen sind. Ehrlich gesagt, ich denke, dass sie den Kern nicht verstehen. Zumindest kann ich sagen, dass sie jenen Teil nicht verstehen, der den größten Einfluss auf mich ausgeübt hat. Da wäre die Wichtigkeit der Atmosphäre zu nennen, das gefundene Manuskript als narratives Element und HPLs Wertschätzung dessen, was Paläontologen und Geologen Tiefenzeit nennen. Tiefenzeit ist entscheidend für seinen kosmischen Schrecken, den existenziellen Schock, den ein Leser aus seinen Geschichten zieht. Unsere Kleinheit und Bedeutungslosigkeit im Universum insgesamt. In allen möglichen Universen. Im Konzept der Unendlichkeit. Nichts und niemand kümmert sich um uns. Niemand passt auf uns auf. Für mich ist das die Aussage Lovecrafts.

  • Caitlin Kiernan

In gewisser Weise ist [Lovecrafts] Ruf das Opfer seines Mythos. Er wurde als ein Gegenmittel zum konventionellen viktorianischen Okkultismus konzipiert – als ein Versuch, den imaginativen Reiz des Unbekannten zurückzugewinnen – und ist nur eine von vielen Möglichkeiten, wie seine Geschichten Schlimmeres oder Größeres suggerieren, als sie zeigen. Er ist auch nur eines seiner Mittel, um ein Gefühl der Verwunderung (Sense of Wonder) beim Leser zu erreichen, mit dem Ziel, die besten Werke des visionären Horrors hervorzubringen (und das ist keineswegs alles, was zum Mythos gehört). Seine Geschichten sind ein Tasten nach der perfekten Form für die Weird Tale, ein Prozess, während dem er alle Formen und Prosa-Stile ausprobierte, die er nur kannte.

  • Ramsey Campbell

Alles, was ich liebte, war bereits seit zwei Jahrhunderten tot … Ich bin niemals Teil von irgendetwas um mich herum – in bin in allen Belangen ein Außenseiter.

  • H. P. Lovecraft

Die besten Arbeiten heutiger “unheimlicher Literatur” (und das schließt ältere Figuren wie Ramsey Campbell, Thomas Ligotti, T. E. D. Klein, Dennis Etchison und andere mit ein) wird zunehmend nur von einem kleinen Kreis von Kennern und nicht von der Allgemeinheit gelesen. Ich weiß nicht genau, was man dagegen tun kann; vielleicht ist es auch nur der Beleg dafür, dass, wie Lovecraft vor langer Zeit schrieb, die Weird Fiction wirklich nur für die “wenigen Sensiblen” gedacht ist.

  • S.T. Joshi

Per definitionem basiert die seltsame Geschichte auf einem Rätsel, das niemals gelöst werden kann. Abgesehen von der Semantik ist für mich in einer so genannten seltsamen Geschichte das Wichtigste ein undurchdringliches Geheimnis, das die Handlungen und Manifestationen in einer Erzählung erzeugt. Ein gutes Beispiel ist Lovecrafts Lieblingsgeschichte “Die Weiden” von Algernon Blackwood. Es gibt nichts in den Weiden selbst, das für die Phänomene verantwortlich ist, die die beiden Männer bedrohen, die auf einer Insel rasten, während sie die Donau hinunterfahren. Die Weiden sind nur ein Symbol für eine unsichtbare, unerkennbare Kraft, die nichts Gutes mit denen vorhat, die unglücklicherweise vom schlechten Wetter an diesen atmosphärischen Ort gefesselt werden. Diese Kraft ist offensichtlich übernatürlich – oder, angesichts von Blackwoods Sicht auf die Natur, überwirklich.

  • Thomas Ligotti

ALLE ZITATE ÜBERSETZT VON MICHAEL PERKAMPUS. *DAS HOUELLEBECQ-ZITAT WURDE AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT.

Vir Desideriorum

Ich kannte Adam. Schließlich hatte er mich in die Brennnesseln geworfen (oder ich war gefallen, das sage ich mir wieder und wieder). Mit Bestimmtheit kann ich jedoch sagen, dass er mich bei einem Wettrennen vom Rad stieß, weil ich drauf und dran war zu gewinnen. Ich lag auf dem Schotter, meine Beine bluteten, aufgeschlagen wie die frischen Kalkschalen zweier Hühnereier. Wir waren schicksalhaft aneinander gebunden, vermochten uns nicht aus dem Weg zu gehen, auch wenn wir es noch so sehr gewollt hätten.

Ich weiß, dass unser Bewusstsein auch durch das Land geprägt wird, auf dem sich das Verborgene heranpirscht und erwacht. Aber erst mit den Jahren lernte ich zu verstehen, dass es nicht nur brach liegt oder sich gerne nur betrachten oder durchwandern lässt, sondern, ganz im Gegenteil, eingreift in die Geschicke der Menschen, die ihm mehr oder weniger ausgeliefert sind. Dem Land. Dem, was wir Bewusstsein nennen. Seit diesen Tagen frage ich mich immer, wenn ich mich irgendwo von Neuem niederlasse: Was will das Land von dir, und was ist es bereit, für dich zu tun, wie wird es versuchen, dich zu verführen?

Der Landstrich, in dem wir damals mehr oder weniger angenehm gefangen waren, war vielleicht einfach nur da, um die Wiege Adams zu sein, ihn auf die Reise vorzubereiten, von der wir natürlich alle irgendwann Kenntnis bekamen. Gerüchte gab es allerhand, ob nun der Nachtgiger in den Wäldern gesehen worden war, oder ob die Wölfe wieder über die Böhmische Grenze gekommen sein sollten. Man wob Schauerliches zusammen, es passte eben zur Kulisse. Jene aber, die Bescheid wussten, und die Adam hätten retten können, starben auf mehr oder weniger dramatische Weise. Es gehörte alles zum Plan, sozusagen. Auch ich gehörte dazu. Vieles weiß ich nicht mehr, es ist im dunklen Gewässer der Geschichte verlorengegangen (ich bemerke, wie sich stets ein Schatten über meine Erinnerung legt), dabei war mein Part vielleicht nicht einmal so gering zu werten, wie ich das stets glauben wollte. Ich weiß nichts Genaues, wirklich … ich weiß nichts, aber da ist etwas, das auch mich zeichnete. Wäre ich dort geblieben …

Mit mir zusammen betippte Adam eine kleine rosa Schreibmaschine aus Puppenplastik, wohl seine erste. In den Betriebswohnungen waren wir eingesperrte Küken, wir schwelten als Futter, wenn auch nur vorübergehend, in unseren eigenen Dottermägen. Mit meiner neu zusammengewürfelten Familie lebte ich gegenüber des Granitwerks, das sich nur ein paar hundert Meter weiter die provisorische Straße abwärts von der Kunststoffabrik befand. Folgt man ihr weiter durch den massiven Wald, kommt man in Schwarzenhammer wieder raus. Soweit ich mich erinnern kann, besuchten uns Ludwig und Adam dort nur ein einziges Mal, wir zogen da ja bald aus. Mein Stiefvater baute sein Haus direkt in die Nachbarschaft der Familie Pikid, oben am Waldrand gelegen, direkt neben dem Jagdhaus mit der alten Sonnenuhr an seiner Vorderseite.

Wie ich schon sagte, wir konnten uns nicht voreinander verbergen.

Adam fand mich nicht mehr auf seinem Weg nach Raha, und ich suchte ihn nicht, aber die Blätter und Nadeln der Bäume raunten Geschichten. Ich verstand nicht viel von seinem Gedicht, das er mir bei stillem Lindenfieber und brausendem Sekt in der Badewanne vorlas.

Du wirst immer Falter sein

Wehe dem Mond

Vir desideriorum; ein Titel wie blanke Ferne. Mann der Sehnsucht, nicht homme de lettres, nein, vir desideriorum, einer, der sich nicht mit dem plumpen Vorhandensein zufrieden gibt. Wir tranken damals leise, nahmen uns den Krimsekt vor, das Flittergetränk meiner Mutter, feierten unsere Zusammenkunft, die gleichzeitig der Abschied war. Staunend lief er über den Marmorboden, betrachtete mich so, dass mir im warmen Wasser kalt wurde (wahrscheinlich wäre mir im kalten Wasser warm geworden). Er stellte diese schreckliche Musik ein, die er betwixt and between nannte, erzählte von Robert Johnson, der an den Crossroads seine Seele dem Teufel verkauft hatte. Standinʼ at the crossroad, tried to flag a ride. Didn’t nobody seem to know me, babe, everybody pass me by – und blickte drein, als hätte er selbst es getan.

Wir befanden uns nicht mehr auf dem Weg, sondern bereits mitten auf der Kreuzung. Ich blieb auf der großen Straße, aber er schlug sich ins Gebüsch. Vielleicht hätte ich ihn allzu früh geliebt, wenn wir nicht mehr oder weniger zusammen aufgewachsen wären (und ohne seine Attacken, die nicht meine Niedergeschlagenheit beabsichtigten, die nur etwas verhindern wollten, aber nicht verhindern konnten, dass wir jetzt hier zusammen saßen).

»Ich erinnere mich nur, weil du es nicht vergessen hast!«

Bei den Langbooten aus Kunststoff-Harz, die in einem Lagerschuppen vor dem Teich aufgebahrt waren, fing ich mir die erste Berührung ein, die Brennhaare, die Methansäure des jähen Zorns. Aber war er es, der mich in die Brennnesseln warf, war es nicht das Land, die Luft, war es nicht etwas um ihn herum, das ihn zur Einsamkeit zwingen wollte? Er ahnte nicht, dass ich später, wenn die Zeit reif dafür war, die erste sein würde, die seine Federn zählte, die erste, die Spaß daran hatte, alles in Bewegung zu setzen.

Zunächst lag ich mit meiner Hand zufällig im Schritt halb auf der Seite, aber doch schon bäuchlings, bewegte mich, weil ich träumte, weil mich etwas am Nacken fasste. Ich wollte etwas sagen, aber aus mir heraus kam nur Miauen. Mein Hals fühlte sich rau an, als wären dort mehrere Seile gespannt, auf denen Zugvögel meditieren. Etwas biss mir in den Nacken und erreichte die Hand in meinem Schritt, die sich nicht bewegte, die mucksmäuschenstill da lag und eingeschlafen war. Um sie zu wecken übte ich etwas Druck aus, aber mir explodierte nur mein pulsierendes Organ. Ich sah eine Sonne vor mir, die ihre Arme nach mir ausstreckte, mir war, als hätte ich diese Sonne verschluckt, denn sie befand sich in meinem Bauch und ihre Strahlen sausten mit dem Blut durch meine Adern. Ich miaute, miaute, miaute, ging tiefer in den Schlaf hinein, sah mich nackt unter Rehen stehen, aber nicht ganz nackt, denn auch ich trug ein Fell, waldbraun und sumpfig. Die Rehe nickten mir zu, ich ließ mich hinunter auf alle Viere und trank den Tau von den Grashalmen, den Blüten der Margeriten. Das Flutlicht vierteilte uns, aus der Umkleidekabine drangen ebenfalls Licht, Musik und Gelächter. Aber wir, wir befanden uns ganz alleine auf dem dörflichen Fußballplatz, wir waren Rehe. Niemand schien uns zu beachten, niemand war zu sehen. Und doch fraß uns etwas auf. Keine Bestie, wie wir sie aus Filmen kannte, davor hätten wir fortlaufen können. Es war etwas viel Schlimmeres und es bestand aus einer Traumsubstanz, die nie ganz zu begreifen war.

Man On The Silver Mountain von Rainbow kam aus den Kabinen getönt, wo es nach Lederbällen, Schweiß, Bier, und nach trockenem Holz roch.

I’m the day, I’m the day

I can show you the way

And look, I’m right beside you

I’m the night, I’m the night

I’m the dark and the light

With eyes that see inside you

Irgendwie hörte es sich bereits nach Abschied an. Adam starrte mir auf die nackten Beine, betrachtete das Muttermal, mein Australien an der Wade, klein wie Madagaskar, meine Hand zufällig im Schritt, halb auf der Seite, aber doch schon bäuchlings, während ich träumte, dass er mich am Nacken fasste und ich miaute, dass er mich biss, und ich wie ein Reh meinen Pelz abzog, um im Mondlicht zu tanzen. Blut lief an meinen Beinen herab, sah aus wie Wein, aus meinem Inneren sprudelte Wein, dort öffnete sich die rote Frucht. Ich die Rebe, das Reh, miaute auf der eingeschlafenen Hand, sah eine Sonne, explodierte in der Mitte zu einer Musik, die rief: »Myrrha, Myrrha!« Doch das war nicht der richtige Name, nicht mein Name, mein Name lautete Starstruck, Lady Starstruck, Bad Luck.

»Was tust du da, warum liegst du so lange im Bett? Brütest du etwas aus?« Die Mutter an der Tür. Wenn ich jetzt aufstehe, wird sie mein Fell entdecken, das mir über Nacht auf dem Fußballplatz gewachsen war, und das mich zu einem Opfer stilisierte.

Aber vielleicht habe ich es nur angezogen, übergestreift. Vergangenheit, in die wir niemals wieder zurückkönnen, Vergangenheit wie ein Traum. Ich betrachte mich im Jetzt und denke, dass ich nicht die Frau bin, an die ich mich erinnere, die ich durch Zufall geworden bin. Es ist eine geheimnisvolle Welt in meinem Kopf, und ich frage mich, ob wir dort immer noch sitzen und trinken und Rainbow hören, ob das bereits vor dem Urknall geschehen ist, ob dieses Zeug, das die Welt ausmacht, auf uns gewartet hat und dann in der Mitte explodiert ist; und seitdem bin ich Frau. Ich meine, nicht nur körperlich. Uns allen wurde etwas ausgetrieben damals. Kinder verschwanden. Erscheinungen tauchten auf. Das Schweigen wurde durch billige Lautstärke ersetzt. Man sprach sogar von Ritualmorden, aber das wurde nie bestätigt.

Ich war nun schon lange nicht mehr dort, es ist interessant, das Sie mich das fragen. Aber ich weiß von einer Freundin, dass Schwarzenhammer das Ebenbild einer Geisterstadt ist. Nein, ich war nicht mehr dort, seit Adam zu mir sagte: »Ich muss jetzt gehen. Myrrha, ich muss jetzt gehen!«

Mein Name ist Emma, sagte ich zu ihm. Erinnerst du dich?

Adams Tinte war die erste Tinte, die ich sah, und in mir lähmte sich ein Nerv (oder lähmte mich gar der Stift?). Ich konnte mich – festgenagelt an mein Bett – konnte mich erinnern, wie ich vom Rad flog, in die Brennnesseln, und wie ich auslief. Erst Blut, dann Tränen, dann seine Tinte, die ich in mein Hemdchen schmierte, in die Innenseite, damit niemand auf die Idee käme, zu fragen: »Was ist das?«, die Mutter nicht fragt: »Was ist das?« Denn ich lief ja aus, klebte an ihm fest, und konnte es nicht vermeiden, jeden Tag erneut durch sein Fenster zu krabbeln, um seinen ganz und gar aufrechten Stift zu berühren, mit dem Mund, mit den Füßen. Es ging alles viel zu schnell, schon stürzte ich, aber danach sagte ich: »Das kann doch nicht alles gewesen sein!«

Ich zeigte ihm meine Narben an den Beinen, kleine, beginnende Monde, neue Monde, vergehende Wunden von vor Jahren, als wir der Definition nach noch sächlich waren. Er nannte mein Muttermal: »Dein Australien an der Wade«, weswegen ich mich schämte. Ein tiefer, dunkler Impuls ließ mich jede Nacht mit ihm gehen, damit er sich ausprobieren konnte. Ich lag da und starrte an die Zimmerdecke. Nacht für Nacht brachte er mich auch wieder zurück, sobald ich alles in mir hatte. Jeden Tag wusch ich meine Kleider selbst, aber dann ertappte mich meine Mutter dabei, wie ich mein Höschen ausleckte.

»Was ist das?«

Der dunkle, tiefe Impuls.

Ich durfte Adam nicht wiedersehen, wurde in ein Internat geschickt und bekam eine andere Welt in mein Ohr geblasen, lernte die Dinge neu, blieb auch der Erinnerung fern für allezeit, die Erinnerung an die ersten Dinge, wenn keine Erwartung die Erfahrung trübt, wenn alles ohne Zutun, ohne Tatkraft, ohne Ordnung in das Leben bricht, wenn eine süße Gewalt die Ohnmacht steuert. Heute würde ich an ihm vorübergehen, heute würde ich ihn ansehen und wissen. Ich bin mir heute sicher, dass wir damals unser Leben dadurch retteten, indem wir uns gegenseitig entdeckten.

»Wo kommst du her?«

»Aus Raha.«

»Wer lebt in dieser Stadt?«

»Unverändert wir.«

Jene, die nur Sporen wittern und zur Tränke gehen, wir, die wir dort baden, die weiße Haut ausgelassen von der Sonne. Adam kennt die Nächte dieser weißen Flecken, Adam kennt das Mauerwerk ohne Putz, fünf Gärten für die Sinne. Den Garten der Hesperiden, den Garten des Alkinoos, Olymp und Asgard. Schändlich, wer sich gefangen gibt, und sei es im Namen des allgemeinen Nutzens. Er setzte all seine Erwartungen einzig in seine Ungebundenheit, in diesen Drang, sich treiben zu lassen, um allem zu begegnen, ein Drang, der eine Gemeinschaft zwischen ihm und den anderen ungebundenen Menschen herstellte, als wären sie berufen, sich plötzlich zu vereinigen, mit dem Mund, den Füßen, den Händen. Ich kannte dich in diesen Sommerstunden, dich, der mich aus den Nesseln hob, der mich im Schotter liegen sah, in meiner schwächsten Stunde, die er selbst herbeigerufen hatte.

Falter aus nächtlichem Horn

Das Paradies ist nicht vorgesehen, solange Zeit existiert, die ihrerseits keine Ermüdung erkennen lässt, sich sogar beschleunigt. Kein Lichtstrahl findet je zu seiner Quelle zurück. Ich geistere durch jedes einzelne Zimmer des leeren Hauses.  Jahre alte Seifenstücke hängen gefangen in einem Nylonsäckchen im Bad, Badeschaum in der Luft. Das Bett im Schlafzimmer ist gemacht und verströmt einen modrigen Geruch. Wenn jemand stirbt, ist er schneller fort als man glaubt. Gepackte alte schwere Koffer liegen auf den Schränken, durchsichtige Folien über den Möbeln, um sie vor Staub zu schützen. Ein langer Flur; das Wohnzimmer, das ich noch voller Leben kannte. Meine schlaflosen Nächte in der Küche, die ich schreibend verbrachte, weil ich erst schlafen konnte, wenn die Sonne aufging. Die Musik wirkt in den Räumen schauderhaft, und doch dringt sie lebendig an mein Ohr. Ich bilde mir ein, ich sei am Leben und hätte nichts verloren. Der Gedanke, eines Tages mein Gesicht im Spiegel sehen zu müssen und zu wissen : das sind nicht mehr meine Augen, das ist nicht mehr mein Mund. Wo wird der Mensch sein, der mich dann noch kennt?

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Im Garten der Hyacinthe (Reprise)

Der Turm der höchsten Trümmer liegt in Sprachen, sendet Mauerstein hinein in die brühende Melange. Zucksuppe gischtet brandig, sendet das schwarze Röcheln uteralwärts. Schaumige Maische verdreht die Worte. In diesem Blut erhebt sich Pflanzenseiber, darin gebettet befinden sich die Kehlen, die sich rühren, kleben finster, schlotig, kahl hochgereckt an der Wand, die sich farblos gen Norden neigt. Man hört sie röcheln, aber kein Wort formuliert sich. Schutt und Schlamm in inniger Umarmung.

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Die Gesänge der Banshees

Als sie gemeinsam am Küchentisch saßen, die Blicke gebannt in die Holzmaserung drückten, die je nach Fantasie etwas anderes zeigte, sprach keiner ein Wort. Die Natur spuckte aus, es war Stille im Universum. Nur die Steine sprachen miteinander. Die ersten Stufen hell erleuchtet. Nebel, die Treppe aus Knochenmark geformt, in der Mitte schwielig, braun zurückgelassene Fußabdrücke, Dornenstaub darüber, Gestalt des Wahnsinns, Augensaft : die Tränke der Nymphen; Hermann bellte, die Lippen straff und geöffnet, künstliches Loch, die Zunge wie ein Rollmops, großmütiger Ausdruck, dieses Gesicht, das vielleicht eines Tages das eines anderen sein wird, mit Doppelkinn, Tränensäcken, und anderer Überschüssen im Gesicht eines Mannes.

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