Kult!

Monat: April 2025 (Seite 1 von 4)

Walden

Die Idylle in Puddingfarben. Hier leben die, die sich die Hände mit Schnaps waschen, den Kuhstall abschwemmen, das Spiel beobachten, Lust gewinnen, begehren, was sie sehen, sprechen : »Komm rein und bring die Wäsche mit!«; als ob ein Hammer auf die Bergkämme schlägt, ein Meister der Skulpturen, dieser trampelnde Gott; doch wer hat so ein Antlitz je mit eigenen Augen gesehen, vom Feuerrot umzingelt wie die wunderliche Walküre, die dem Einen harrt? Der Wind bläst die Laken vom Gestänge, das Hanfseil pfeift polyphon auf allen Flöten des Pan das Lied einer Begegnung, die Mädchen holen Wäsche ein und decken Töpfe zu, die Gärten werden abgesperrt, die Läden schon geschlossen.

Eingepfercht in die Freiheit mit Balkon, ausgesetzt der Stadt und deren ameisenartigen Bewohnern, observiert durch die Klänge dünner Wände, hingegeben der Evolution, Vielfalt der Skelette, atemlose Wunderwelt, Wirtschaftsertragsanimationen, Honigkerzen.

Etwas ungeplant macht sich das Dorf lang und länger, wird, von Thierstein kommend, zu nahezu vier Ortsteilen, wird zweimal von der Autobahn gestreift, was für so ein kleines Idyll eine große Schweinerei ist; man hört das Rauschen der Blechlawinen bis zum Rondell, die Vögel überlagern nicht mehr den entsetzlichen Wirbel, die Zeit reißt auf, aus einer Welt, die vorher nicht existierte, quillt Blut, das ziemlich nach Eiter stinkt.

Aber damals, wenn er mit Carlos zum Rondell ging, um dort vielleicht zu rasten, um dann womöglich noch ein Stück weiter in einem obskuren Gasthaus zu verschwinden (wenn es zum Beispiel Milchbrätlinge und Steinpilze gab), vergaß er nie, zu den Ameisen hinüberzuschlendern, die hier ihre Version von einem Tal der Könige hingestellt hatten, um sie zu grüßen und eine Weile beobachtend im Duft des Waldes zu stehen; die Lupinen reckten in die Höhe und Adam ertrank beinahe in ihrem Violett, weil er nicht größer war als die aufgeschossensten der Blumen. Da war nichts, was die Stille störte, die Vogelstille; die alte Bundesstraße hatte nichts von einer verfluchten Naht (zwei Welten, die sich niemals friedlich begegnen werden); Pandoras Büchse ist geladen : sie hat Scheiße und Verrecken mitgebracht (etwas ungeplant), aber sie ist schön und würde lieber Anesidora sein, denn mit ihrem Bauhelm sieht sie wirklich etwas lächerlich aus.

Stell dir vor, du gingst spazieren und sähest dich selber mit angstverzerrtem Gesicht auf dich zulaufen.

In all den Nächten gab es keine ausgelassene Stimmung, nicht die Heiterkeit, wie eine Sau durchs Dorf getrieben, in den zynischen Ursprung des Gelächters hinein. Die Zeit schrumpfte zu einer festen Kapsel zusammen. Ein Meuchelmorgen lässt uns waten in finsterem Gemäuer.

Der Solomensch von Java

Ein Ort, in Länge und Breite begrenzt, nach oben unendlich. Die Abende schossen aufs Dach, also setzten sich die Schindeln auf die Fensterbank, um Goldvögel zu beobachten, von oben nach unten.

Auf diesen Straßen führen die Löcher an einen Platz, der verborgen im Herzen des Wahrnehmenden liegt, ums Bezaubernde, Zaubern, um Allmagie um uns herum.

Movemento: bewegt im Raum, Zeitketten anorganisch, Urgesichter, Uhrengesichter, Wildwechselmimik, die schönsten Regenschauer auf einen Blick. Ich bin jetzt niemand mehr und das ist die Knute der Vergeltung.

Aufgepelltes Rosenrot, die tonnenschwere Last des unbeachteten Geschirrs, die molesten Stufen; kein Stock wird mich führen, kein Geländer mich hangeln.

Auf und Ab ekstatischer seelischer Zustände, Gleichnisse, Traumgesichte in einem absoluten Tanz.

Aussehen: wie der Solomensch von Java.

The Solo Man Of Java

A place, limited in length and width, infinite upwards. The evenings shot up to the roof, so the shingles sat on the windowsill to watch golden birds, from top to bottom.

On these streets, the holes lead to a place hidden in the heart of the perceiver, around enchantment, sorcery, all-magic around us.

Movemento: moving in space, inorganic time chains, primordial faces, clock faces, changing facial expressions, the most beautiful rain showers at a glance. I am nobody now and this is the rod of retribution.

Peeled rose-red, the heavy weight of the unheeded crockery, the molest steps; no stick will guide me, no railing will shimmy me.

Up and down of ecstatic mental states, parables, dream visions in an absolute dance.

Appearance: like the solo man of Java.

Die Boten

Immer dann, wenn die Luft einen Hauch von Johannisbeermarmelade über dem Dorf verströmte, ahnten wir, dass sich die Schatten bald wieder zeigen würden. Sie tauchten hinter den Stämmen starker Bäume auf, an den Fenstern leerstehender Häuser, an denen der Farn und der Efeu emporrankten. Sogar unter den Arkaden mancher Hauseingänge standen sie, unentdeckt, weil ja die Sonne ohnehin allerlei dunkle Gespinste produzierte, die jedermann kannte und für alltäglich erachtete. Diese Schatten aber, von denen hier die Rede ist, waren in strengem Sinne gar keine. Sie besaßen kein Objekt, zu dem sie einen unmissverständlichen Teil beitragen hätten können, wenn sie das Licht streifte. Wir nannten sie bald ›Die Boten‹, obwohl sie keine Nachricht überbrachten und auch nicht anzeigten, was sie eigentlich wollten. Das mussten wir selbst herausfinden. Allein deshalb nannten wir sie so. Sie boten uns die Möglichkeit, die merkwürdigsten Ereignisse aufzuspüren. dass wir damit etymologisch sogar auf der richtigen Fährte waren, wussten wir natürlich nicht; dass nur wir sie sehen konnten? Durchaus.

Eines Tages werden wir Knochen in der Grube sein, Asche in einer Vase. Die Pflanzen, die auf deinem Balkon die Schönheit des Augenblicks bezeugen, warm von der Sonne betastet, die es dir mit stehender Blüte danken, sind dann längst graues Gehölz. Wer erinnert sich daran, wie es war, als wir dort saßen, lachten? Wer erinnert sich an die Laute, den Geruch, an die in der Luft hängenden Fetzen anderer Leben? Die Momente sind nur Momente, weil sie einen Pakt mit der Vergänglichkeit geschlossen haben. Die Erinnerung ist nur der furchtbare Augenblick der Wiederkehr der Geschehnisse als Abklatsch. Kein Blut pumpt in ihren Adern, und selbst intensivste Ereignisse locken nur verworren aus einem Jenseits.

Hüfthoch im Korngarten; je länger du stehst, wird auch die Erde weich. Wie lange es braucht, zeigt das verhangene Gesicht. Viele letzte Male. Das Haus hinter dir verkleinert sich und darf nur noch die Größe eines Daumennagels haben, schwer zu erkennen durch Ähren und dieses Etwas, das wir Raum nennen. Zwischen dir und diesem Haus liegt nun die Ewigkeit. Du kannst nie wieder zum Haus zurück, kannst Ewigkeit nicht überbrücken. Versuchst du es, gelangst du zu Ruinen. Aber hier, hüfthoch im Korngarten, kannst du die Fassade betrachten, solange du willst. Dafür sorgen die Schatten, die Boten.

The Messengers

Whenever the air exuded a hint of blackcurrant jam over the village, we suspected that the shadows would soon appear again. They appeared behind the trunks of strong trees, on the windows of empty houses, where the ferns and ivy were climbing up. They even stood under the arcades of some house entrances, undetected, because the sun produced all kinds of dark webs that everyone knew and considered commonplace.

But these shadows we are talking about here were, in a strict sense, not shadows at all. They had no object to which they could have made an unmistakable contribution when the light touched them. We soon called them ‘the messengers’, even though they did not deliver a message or indicate what they actually wanted. We had to find that out for ourselves. That was the only reason we called them that. They gave us the opportunity to track down the strangest events. Of course, we didn’t realise that we were on the right track etymologically; that only we could see them? Absolutely.

One day we will be bones in a pit, ashes in a vase. The plants on your balcony that bear witness to the beauty of the moment, warmly touched by the sun, that thank you with standing blossom, will long since be grey wood. Who remembers what it was like when we sat there and laughed? Who remembers the sounds, the smell, the scraps of other lives hanging in the air? The moments are only moments because they have made a pact with transience. The memory is only the terrible moment of the return of the events as a copy. No blood pumps in their veins, and even the most intense events only lure them confusedly from an afterlife.

Waist-high in the corn garden; the longer you stand, the softer the earth becomes. The cloudy face shows how long it takes. Many last times. The house behind you is shrinking and may only be the size of a thumbnail, difficult to recognise through ears of corn and this something we call space. Eternity now lies between you and this house. You can never go back to the house, you cannot bridge eternity. If you try, you will end up in ruins. But here, waist-high in the corn garden, you can look at the facade for as long as you want. The shadows, the messengers, make sure of that.

Vom Verschwinden

Das Verschwinden um uns herum ist bizarr. Es beginnt mit Kleinigkeiten: ein Café wird aufgegeben, die Adresse eines Freundes stimmt nicht mehr, oder die Erinnerung verblasst und reiht sich ein in die Prozession toter Clowns, die von der anderen Seite winken. Sie tun das nur in einer Stadt mit Fluss, wo sich das Rechts vom Links trennt, oder das Nord vom Süd. Gemeinhin nennt man das Verschwinden auch Veränderung. Die Worte sind jedoch nicht dasselbe; die Veränderung kann ohne Verschwinden auskommen, auch wenn trotzdem ein bestimmter Teil nicht mehr vorhanden ist, das Verschwinden aber hat etwas Geisterhaftes in seiner veränderten Form und bedeutet einen völligen Verlust. Ich kenne das Verschwinden sehr gut, es widerfährt mir in so vielen Gesichtern.

Lass uns anfangen, die Nacht war schrecklich

Gut. Im Wald. Es beginnt immer im Wald.
Eine junge Frau im Nachtkleid flüchtet
Die Schienen entlang, fällt zwischen Bärenfallen,
Ich will nicht im Vorfeld schon alles erzählen,
Aber es ist wahrscheinlich Nacht, ein Dorf,
Schwer zu finden ohne Taschenlampe, nicht
Einmal im Mondlicht, Zauber hin oder her.

Versteck dich!, will man ihr zurufen,
Zieh dein Kleid aus und versteck dich dahinter!
In ihr lodern Fackeln, ihre Haut ist
Unbeschriebenes Pergament, ein Kuss hinterließ
Einst eine Rose zwischen ihren Brüsten, den
Bergen, die sie simulieren. Stromschnellen zwischen
Den Schulterblättern, dort verirrt sich das Dickicht selbst.

Die Stunden ihrer Flucht sind ihr ins Haar
Geflochten, aus ihren Ohren quillt Musik,
Verträumt sich im Ginster. Nichtgefallener Regen
Lauert in ihren Augen, der nächste Schritt
Löst das Bedauern aus. Etwas Luftiges
Fällt zu Boden und ihre Hand ist ganz nass.
Sie spricht : “Was wäre ich ohne jedes Hindernis?”

Wenn also ein Fluch in der Wiege sitzt,
Mit Stemmeisen bewehrt, und hohen Zoll verlangt,
Zieht man sich besser in die Stadt zurück,
Die jede Verrücktheit kennt und alle Wunder
Ignoriert. Die Erscheinungen sind hier nur Spiel
Der Lichter, roter Wein, die Gespenster nur
Laken, mit denen man sich vor Kälte schützt.

Transformiert durch Mauerwerk

Ich hatte lange nicht gewusst, wie sehr sich die Stufen nach unten auflösten, während ich ihnen folgte. Einmal zählte ich sie sogar, aber ihre Zahl ist mir nicht in Erinnerung geblieben. Irgendwo in meinem Echoraum ist sie gespeichert, aber sie hat wohl keine numerologische Bedeutung. Könnte es nicht möglich sein, dass sich die Gebäude, in denen man gelebt hat, auflösen, bevor sie sich für einen neuen Bewohner zusammensetzen? Dass man sie auch von außen nicht mehr erkennt, obwohl man all ihre Poren studierte, um niemals zu vergessen, was sich anschickte, von drinnen nach draußen zu gelangen, transformiert durch die Dunkelheit innerhalb des Mauerwerks? Sicher bleiben Sätze hängen, die man mit einer speziellen Röhre abhören kann; die aber immer schwächer werden und irgendwann nur noch in ein allgemeines Summen übergehen, in ein Hintergrundrauschen des eigenen Urknalls. Ich höre mich sagen: “Bin unten!”, und beginne mit dem Zählen der grauen Stufen.

Dorfstraßen sind mächtige Wege; das heißt, sie waren es früher einmal. Heute gibt es nur noch Straßen, Wege aber sind kaum mehr zu finden. Der Unterschied besteht darin, dass Straßen irgendwo hin führen müssen, deshalb bewegt man sich auf ihnen, man will die Strecke schnell bewältigen. Ein Weg hingegen ist zum Flanieren gedacht, nicht allein, um anzukommen. Wo auch sollte man ankommen wollen?

Früher war alles besser; aber nur, wenn man heute lebt. Fortschritt ist doch nur das Fortschreiten – das sich-entfernen – vom Guten. Vergessen wir dabei nicht, dass ein Gutes kein Paradies ist, kein endgültiger Zustand des Bestmöglichen; das Bestmögliche nämlich meint keine Existenz. Im Leben kann die Grausamkeit nicht ausgeblendet werden, sie kann nur durch etwas Gutes gemildert erscheinen. In anderen Fällen erreichen wir das Gute überhaupt erst jetzt. Dabei gibt es allerdings kein Wir. Wer spricht, ist entscheidend. Früher war alles besser, weil die Illusion noch funktionierte und weil es etwas Natürliches gab – und das Analoge.

Tollhaus

almosengumpig hatte der italienische bischof Goffredo de Prefetti den plan, hinunterzusteigen ins Heilige Land, um dort die schwerter so singen zu lassen, dass ihre kehlen mit angedicktem blut geölt nie gekannte befriedung erfuhren und so tat er ein haus auf dort zu London und baute es über einer kloake, wo der strom der elenden hinterteile nie versiegte. Vorm wahnsinn fürchtet man sich noch am besten, die tänzer können nicht für ein verbrechen baumeln, die schwarzgalligen nicht für treulosigkeit verbrannt werden, dummes huhn, was krähst du in die ferne, schau putt putt da hast du tupp tupp

leider leider was schöner rauch das wäre neben den ungeliebten weibern, die milch bereits im euter quarken, brotleiber auf den hinterbacken kneten und den schlendrian im wald in ein loch purzeln lassen, dass er lande bei den elven

die finsterei wurde geflüstert, dämonisches ringen kuriert, schwefel- und zundermasken im feuer gesehen

wir sind der sache nicht gewachsen
wir wachsen nicht aus stahl heraus

Ich wusste nicht dem Hunger zu begegnen, also nahm ich mir einen Sessel, den ich aß. Sein Polster war mir rotes Trockenfleisch in einer dunklen Ecke voller Morasch. Dort spie auch ich danach, und spielte, “eine fliehende Ratte zu benetzen”, doch ich traf nur meinen Schuh. Das Holz war feiner Sensenstaub, von Wurmverwandschaften vorbereitet, ein Brot daraus zu backen schien mir fremd, zumal der nächste Ofen im Keller gerade Knochen verbrannte. Ich hatte keine Magie in meinen Adern, nur absonderliches Blut, abgestanden wie die Luft in den Gängen des alten Bedlam.

Ein Irrenhaus ist eine gute Wahl, wenn nicht irgendwo ein Krieg tobt, in dem man sich zermalmen lassen kann. Ich sehe sie noch vor mir, die duftenden Damen, die Besucher durch das Haus navigierten, damit sie nicht in ein Loch im maroden Boden fielen, sondern der peinlichen Therapie ihr vollgepumptes Gewissen übertragen können, ein Theater wie sonst nirgendwo zu sehen. Das bizarre Regelwerk der Spiele.

so viel war es nicht, das wir wussten
so viel war es nicht, das wir verloren

Wir setzten uns auf die ausgehärtete rostige Spucke und zählten die vergangenen Tage durch. Es waren immer gleich viele. aber ihre Zahnspangen hatten sich jedes Mal verändert. Die kühle Luft, früher undurchdringlich aufgrund abweisender Partikel, hatte sich in Gang gesetzt und schob uns die Karten für den Eintritt zu. Es war ein großes grabschen und nehmen, und am Ende folgten wir dem Parfüm in einen großen Blechraum, von dessen Decke ein Stuhl in der Mitte baumelte. Wer darauf festgebunden war konnte das nackte Auge nicht erkennen, so schnell wie er sich drehte, wie in einem Nebel verwischte die Gestalt und bald musste sie im Nichts verschwunden sein, in 43 Teile zerfallen und hinter ihr ein Schlosshof zu sehen sein. Wo war das noch? Ich kannte das Bild, merkte es mir jedoch nicht, weil sich die Wunde augenblicklich schloss und alles wieder Blech und Wahnsinn war.

Geschichte der Fantasy -8- Auflösung

In den ersten sieben Teilen haben wir uns die Frage gestellt, wer denn der erste Autor war, der eine von unserer Welt unabhängige Geschichte präsentierte und was das überhaupt bedeutet. Wir haben vier Merkmale gefunden, anhand denen wir so eine Geschichte identifizieren können. Außerdem haben wir uns verschiedene Modelle innerhalb der Literaturgeschichte angesehen, um zu erkennen, warum gerade sie nicht infrage kommen. Heute lösen wir unsere Suche auf.

Der Gebrauch des Rahmens eines Märchenerzählers kann – wie wir im letzten Teil gesehen haben – dazu dienen, einen gewissen Realismus zu erzielen, wenn nämlich dadurch die Realität abgesichert werden soll. Es geht nicht allein darum, sich zu fragen, weshalb eine Geschichte überhaupt erzählt werden sollte, sondern viel mehr um den Anspruch auf Authentizität. Denken wir nur an die Briefe, die im Mittelalter im Umlauf waren, und die angeblich von dem mysteriösen Priesterkönig Johannes geschrieben wurden. Darin wird von allen möglichen Wundern gesprochen, die man angeblich in seinem nichtexistierenden Land finden könnte. Gleiches gilt für die „Reisebeschreibungen“ des Jehan de Mandeville, der im 14. Jahrhundert Fantasien darüber verfasste, wie es hinter den Grenzen der im Mittelalter bekannten Welt aussehen sollte. Er schrieb seine Geschichten mit dem Vorwand, dass er all das mit eigenen Augen gesehen hätte (und bestätigte sogar das mystische Land des Priesterkönigs Johannes). Die Leute glaubten viele Jahrhunderte lang, was darin stand.

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Die Geschichte der Fantasy -7- Mythen

Zunächst sollten wir uns fragen: Was wäre, wenn diese Verschiebung gar nicht stattgefunden hätte? Was wäre, wenn eine reale Welt anders dargestellt werden sollte, wenn sie also ein Ort wäre, an dem nicht nur phantastische Ereignisse stattfinden, sondern an dem phantastische Ereignisse grundsätzlich dominieren, aber mit dem gleichen Anspruch auf Wahrheit und Plausibilität, wie ihn auch die Weltkonstruktion einer realistischen oder engagierten Literatur erhebt?

Das klingt natürlich auf den ersten Blick paradox. Tatsächlich spreche ich hier von Mythen. Mythen beschreiben Ereignisse (auch historische), die jenseits der gewöhnlichen Erfahrung liegen. Tatsache ist aber, dass sie auch dazu dienen (sollen), die reale Welt zu erhellen.

Ein Mythos, der erklärt, wie die Welt entstanden ist, beinhaltet notwendigerweise auch die reale Welt. Ein Mythos, der erklärt, wie die Jahreszeiten entstanden sind, hat den Zweck, uns zu erklären, wie sich die Welt, wie wir sie kennen, ausgebildet hat. Die Entwicklung der Mythen geht also in erster Linie den Weg vom Phantastischen zum Realistischen. Und Mythen beinhalten stets die uns bekannte Welt, erklären sie, geben ihr Sinn, beschreiben ihre Geschichte.

Gleichzeitig geben uns Mythen zu verstehen, dass unsere Welt in ihrem Ursprung und in ihrem Sein bereits überaus phantastisch ist. Ein Geschichtenerzähler, der einen Mythos nacherzählt, besitzt daher bereits genügend phantastisches Material. Aber die Struktur des Mythos begreift sich dahingehend, dass seine phantastischen Elemente stets darauf bedacht sind, die reale Welt und  das in ihr Bekannte abzubilden.

Betrachten wir das anhand des Gilgamesh-Epos oder der Odyssee. In beiden Epen geht es um die Reise in alle möglichen Gebiete einer unbekannten – und dann um die Fahrt zurück in die reale Welt. Hier gibt es eine eigene Logik, die abhängig ist von den Gesellschaftsformen und den kulturellen Normen ihrer Protagonisten. Hier wird uns von wunderlichen und unglaublichen Dingen erzählt; und es gibt eine eigenständige Geographie. Außerdem gibt es eine abweichende geschichtliche Entwicklung, die mit dieser Geographie Hand in Hand geht. Gilgamesh trifft den Überlebenden der Sintflut am Ende der Zeit, und Odysseus wird vom Trojanischen Krieg heimgesucht, der bereits zu Ende war, als seine eigentliche Geschichte begann. Beide Geschichten erzählen uns jedoch mehr darüber, was nach ihrer Rückkehr geschah, als über das, was sie in der Ferne vorfanden.

Man kann also sagen, dass Mythen in sich geschlossen erscheinen. Die Geschichte des Kampfes von Marduk gegen Tiamat erscheint ziemlich weit hergeholt, um einen Bezug zur Realität zu haben. Aber die Schlussfolgerung der Geschichte, nämlich dass Marduk die Welt aus Tiamats Leichnam geschaffen hat, zeigt, dass dieser Kampf die Existenz der realen Welt zum Ziel hatte. Es scheint so, als ob die menschliche Erfahrung durch einen Mythos mit phantastische Elementen dargestellt und subsumiert werden soll, immer aber sind diese Fantasien mit der realen Welt verbunden.

An dieser Stelle sollten wir ebenfalls über jene Werke reden, die keine traditionellen Mythen sind, allerdings die Aufgaben von Mythen übernehmen. “Die göttliche Komödie” (Dante) oder “Das verlorene Paradies” (John Milton). Insbesondere auch (oder gerade) die Arbeit von William Blake, der über Götter schrieb. Auch hier wird der Versuch unternommen, die Welt zu erklären und wie sie entstanden ist. Obwohl er eine phantastische Geographie entwarf, blieben seine Geschichten literarisch wie symbolisch  auf der Plattform dieser Welt.

Es geht hier nicht darum, den erwähnten Arbeiten ihre Qualität abzusprechen, oder das damit verbundene Wunderbare zu schmälern, es geht lediglich darum, zu betonen, dass Mythen keine vollständigen Fantasy-Gebilde sind, weil sie keine völlig eigenständige Welt zu bieten haben. Im Gegenteil, sie wollen die unsrige sogar damit erklären. Die Struktur des Mythos ist jedoch dazu geschaffen, mit Fantasy-Elementen zu arbeiten. Wie ich oben bereits sagte, ist hier eine Verschiebung zu erkennen, die im Grunde nicht stattfindet. Das ist die erste Technik, um eine phantastische Anderswelt an unsere reale Welt zu binden. Gibt es noch andere?

Die einleuchtende Strategie der Verlagerung (oder Verschiebung) von Schauplätzen ist eine wörtliche: es geht darum, eine phantastische Welt in einem unbekannten Teil der realen Welt anzusiedeln, über den niemand etwas weiß. Mit anderen Worten, hier wird etwas erfunden (meist eine Geographie), die überhaupt erst erfunden werden kann, weil sie unbekannt ist. Das war zu einer Zeit, als es auf der Welt tatsächlich noch mehr als genug unbekannte Territorien gab, natürlich nützlich. Die Menschen hatten so wenig wissen über ihre Welt, dass dies allein schon ausreichte, ihre Fantasie anzuregen. Es gab zum Beispiel Wolfram von Eschenbach, der in seinem Parzival behauptete, man könne von der Bretagne nach England reiten, oder Shakespeare, der behauptete, Böhmen besäße eine Küste.

Oft wurden phantastische Welten an isolierte Orte verfrachtet, Inseln zum Beispiel sind diesbezüglich ein Dauerbrenner. Aber unterirdische Reiche haben ebenfalls nie an Popularität verloren.

Den letzten richtigen Gebrauch von dieser Strategie machten wohl die Autoren der Sword and Planet-Fraktion – in der Art von Burroughs’ Mars-Abenteuer, C.S. Lewis’ Perelandra-Trilogie, oder E.R. Eddisons Merkurien. Die phantastische Anderswelt wird hier zu einer SciFi-Anderswelt, die Idee dahinter ist jedoch immer noch jene, über die wir bereits gesprochen haben.

Wenn das Versetzen einer Anderswelt traditionell geographisch vonstatten geht, dann steht dem die historische Verschiebung in nichts nach. Gerade in der traditionellen Fantasy spielt sich die Geschichte meist in einer Epoche ab, die anfällig war für Magie und Legendenbildung. Denken wir dabei an die Tafelrunde des König Artus, oder an die Legenden um Karl den Großen.

Die wildesten dieser Fantasien wurden – und das ist auffällig – von Autoren geschrieben, die nicht dem Kulturkreis der jeweiligen Legenden angehörten. Französische und deutsche Autoren schrieben viele der seltsamsten Artus-Geschichten (vor allem über die Suche nach dem Heiligen Gral), während italienische Autoren bevorzugt über die Abenteuer Karls des Großen und seiner Ritter fabulierten, die zum Mond aufbrachen oder gegen Riesen und Zauberer kämpften.

Diese Autoren interessierten sich nicht für Geschichte; sie schrieben Fantasy und benutzten die Figuren bereits bekannter Abenteuer, um sie so zu erzählen, wie sie es wollten. Möglicherweise hatten die dabei weniger Skrupel, sich in anderen Kulturkreisen umzusehen, weil dadurch die Flickschusterei weniger ins Gewicht fiel, als hätten sie ihre eigenen Sagen derart verwurstet.

Die Nachahmungen der Arabischen Nächte sind ein gutes Beispiel. Relativ wenige englische Schriftsteller haben sich davon beeinflussen lassen, aber einer davon, William Beckford, schrieb seinen “Vathek” 1782 in französischer Sprache nieder. Allerdings schrieben nicht wenige französische Phantasten arabische Geschichten, vor allem im 18. Jahrhundert. Man fragt sich, ob für diese Autoren das ferne Arabien nicht die gleiche Funktion erfüllte, wie für uns eine Anderswelt.

So viel zu Zeit und Raum. Gibt es noch weitere Techniken der Verlagerung? Sicher. Die vielleicht einfachste Art, eine Fantasywelt mit unserer Realität zu verknüpfen, ist der Traum. In einem Traum kann naturgemäß alles geschehen, vor allem Phantastisches. Es ist gar nicht so sehr überraschend, dass traditionelle Arbeiten der Fantasy, die den Rahmen eines Traumes für sich nutzen, sich nicht wie Träume verhalten – sie weisen nicht den surrealen, chaotischen Sinn eines Traumes auf, sondern bemühen sich um eine narrative Struktur.

Der Traum war ein sehr beliebter Rahmen für allegorische Arbeiten für Schriftsteller, die etwas über die Welt aussagen wollten, indem sie einer Figur durch eine symbolische Erzählung führten. Diese Figur wirkte dadurch nicht selten wie eine überdimensionierte Karikatur. Jedes Detail einer solchen Erzählung, jeder Charakter präsentiert ein spezielles Thema oder verkörpert eine bestimmte Idee. Die Folge war oft ein surreales Bild, das entstand, weil ein Element der Erzählung für etwas ganz anderes stehen konnte; durch diese Dualität schoben sich zwei Dinge, die eigentlich nicht zusammen gehörten, wie ein Teleskop ineinander, eine Vorgehensweise also, die den Traum imitiert.

Die besten Allegorien funktionieren trotz dieser ganz speziellen Logik trotzdem wie eine Erzählung. Eines der beste Beispiele ist die bereits erwähnte “Pilgerreise” vom John Bunyan, eine symbolische Geschichte über eine Seele, die einer Versuchung widersteht, um in den Himmel zu gelangen. Das Buch folgt dem Hauptcharakter (im Original Christian) auf dem Weg in die himmlische Stadt. Dabei kommt er an Orte wie den Sumpf der Verzagtheit, oder dem Palast Prachtvoll, kämpft gegen Monster wie den Riesen Verzweiflung. Seiner Form nach handelt es sich hier um eine Abenteuergeschichte in einer phantastischen Welt – aber das Unternehmen ist ganz klar als Traum kenntlich gemacht.

Eine andere Möglichkeit der Realitätsverschiebung ist die Geschichte in einer Geschichte, wo eine erfundene Figur die Geschichte einer anderen erfundenen Figur erzählt. Auf diese Weise gelingt es, eine phantastische Welt als reale Fiktion in Erscheinung treten zu lassen.

Das hört sich nach einer sehr modernen strukturalistischen Technik an, aber einige der großen mittelalterlichen Sammlungen, wie die “Canterbury Tales “oder “Das Dekameron” tun genau das. Hier gibt es eine Rahmenerzählung, die den Eindruck erwecken soll, dass eine einzelne Person die Geschichte einer anderen Person erzählt.

Im Englischen gibt es etwas, das „Club-Story“ genannt wird, die angeblich auf Lord Dunsany zurückzuführen ist. Das Konzept ist einfach: ein Gentleman in einem Gentleman’s Club erzählt eine Geschichte, die ihm angeblich selbst widerfahren ist, oder von der er gehört hat, einem anderen Club-Mitglied. Auf diese Weise lässt sich ein phantastisches Erlebnis als etwas wiedergeben, das man von jemanden gehört hat, um die offensichtliche Lüge zu umgehen. Es gibt sehr viele frühere Phantasten, die diese Technik angewandt haben, um Unerhörtes in aller Glaubhaftigkeit zu erzählen.

Das ist also eine wirksame und umfassende Art, ein Fantasy-Setting zu verschleiern, wie immer es auch geartet sein mag.

Im 19. Jahrhundert scheinen die Ideen von einer phantastischen Anderswelt zu einem literarischen Konzept zu werden. Die Methode, die dabei gerne angewandt wird, ist, einer Figur ein Portal zur Verfügung zu stellen, durch das sie in eine andere Welt gelangen kann. Denken wir an das Kaninchenloch bei Alice usw. George McDonalds Roman Lilith von 1895 beschreibt, wie die Hauptfigur durch einen Spiegel in eine andere Welt gelangt.

Natürlich können auch alle erwähnten Techniken zusammen angewendet werden, um einen interessanten Effekt zu erzielen. Ein Schriftsteller kann mit der Realität spielen, ungewöhnliche Perspektiven einnehmen, und zwischen Traum, Erzählung und Anderswelt balancieren.

Betrachten wir einmal E.T.A. Hoffmanns kompliziertes Märchen “Nussknacker und Mausekönig”. Ein kleines Mädchen beobachtet einige seltsame Ereignisse und fällt in Ohnmacht; sie erwacht und denkt, dass alles nur ein Traum gewesen sei. Dann erzählt ihr Patenonkel ihr eine Geschichte, die eine Verbindung zu dem, was sie gesehen hat, aufweist. Das führt zu immer weiteren merkwürdigen Ereignissen; am Ende schläft sie ein, wacht wieder auf, und diesmal sind es die Eltern, die ihr erklären, dass alles nur ein Traum gewesen sei. Am Ende taucht der Neffe des Patenonkels, dem sie im Traum begegnet ist, in ihrem wirklichen Leben auf. Sie heiraten, und die Geschichte schließt, indem wir davon unterrichtet werden, dass Marie die Königin eines Puppenreichs ist, das nur von jenen gesehen werden kann, die auch die Augen dafür haben.

Hier wird die Fantasie erstens dadurch verschleiert, dass sie ins Reich der Träume verwiesen wird, dann ist sie plötzlich Fiktion geworden, am Ende wird sie zu einer Realität. Gleichzeitig nimmt Hoffmann diese „Realität“ wieder zurück, indem er sagt, dass diese Anderswelt nur von jenen gesehen werden kann, die auch Augen dafür haben. Damit deutet er an, dass alles nur eine Frage der Perspektive ist.

Im Allgemeinen wäre es ein Fehler anzunehmen, ein Werk müsse nur eine Strategie der Verlagerung anwenden, um die Realität von einer Fantasywelt zu unterscheiden. Denken wir an die Filmversion von “Der Zauberer von Oz”; in dieser Geschichte wird Dorothy nicht einfach nur von einem Wirbelsturm aus Kansas heraustransportiert, sie erwacht und hält außerdem alles für einen Traum. Auch Alice, die in ein tiefes Loch fällt, erwacht am Ende und denkt, sie habe geträumt.

Sind wir damit schon am Ende angelangt? Sind wir unserer Eingangsfrage etwas näher gekommen? Möglich, aber am Ende sind wir dennoch nicht.

Die Geschichte des Fantasy -6- Zwischenstation

In den ersten Artikeln haben wir uns die Frage gestellt, wer der erste Autor war, der eine unabhängige Anderswelt beschrieben hat. Wir haben dort nach Hinweisen oder Regeln gesucht, die eine unabhängige Anderswelt definieren könnten. Im diesem Teil werden wir uns mit einigen Anhaltspunkten beschäftigen, die in der Vergangenheit verwendet wurden, um eine Fantasiewelt von der Realität zu unterscheiden.

Zur Erinnerung: William Morris wird allgemein zugeschrieben, der erste gewesen zu sein, der seine Geschichten in einer reinen Phantasiewelt angesiedelt hat. Das bedeutet, die Handlung in eine Welt zu verlegen, die nichts mit der unseren gemein hat. Das behaupten zumindest Lin Carter und L. Sprague de Camp. Es gibt jedoch jemanden, der lange vor Morris eine eigene Welt geschaffen hat. Dennoch sollten wir uns fragen, warum es so lange gedauert hat, bis jemand auf diese Idee kam. Erinnern wir uns daran, dass Morris’ Die Zauberin jenseits der Welt im Original 1894 erschien, und selbst wenn es einen Schriftsteller gab, der vielleicht ein paar Jahrzehnte früher eine andere Welt erfand, bleibt die Tatsache bestehen, dass es Tausende von Jahren dauerte, bis die Idee einer unabhängigen Welt aufkam. Warum?

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Sweeney Todd (Der teuflische Barbier)

Basiert Sweeney Todd auf einer wahren Geschichte oder ist er nur eine Figur, die sich ein Schriftsteller ausgedacht hat?

Sweeney

Ich bin sicher, ihr habt alle schon einmal von ihm gehört. Sweeney Todd, der teuflische Barbier der Fleet Street. Sein Friseurstuhl war auf geniale Weise präpariert, denn nachdem Todd einem Kunden die Kehle durchgeschnitten hatte, bediente er einen Bolzen, der die Leiche rückwärts durch eine Falltür schickte, die in den Keller führte. Dort wurden die Opfer zu Fleischpastete verarbeitet, die in der angrenzenden Konditorei verkauft werden sollte. Geleitet wurde das Geschäft von einer Mrs Lovett, deren Vorname – je nachdem, wer die Geschichte erzählt – variiert.

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Der Tower of London

Der Tower of London wurde 1078 von Wilhelm dem Eroberer erbaut. Es handelt sich um einen Komplex aus mehreren Gebäuden, die von zwei Mauerringen umgeben sind, die Eindringlinge fernhalten sollten. Im 12. und 13. Jahrhundert erweiterten die Könige die Anlage mehrmals. Der Tower of London spielte eine wichtige Rolle in der Geschichte Englands. Er diente als Schatzkammer, öffentliches Archiv, Waffenkammer, Sitz der königlichen Münze und Aufbewahrungsort für die Kronjuwelen des Landes. Trotz zahlreicher Um- und Anbauten ist der ursprüngliche Grundriss des Turms erhalten geblieben. Die Geschichte des Landes wäre unvollständig, würde man den Tower of London nicht erwähnen. Der Tower wurde mehrfach belagert. Könige und Eroberer glaubten, dass der Tower zuerst erobert werden müsse, um das Land kontrollieren zu können. Im 15. Jahrhundert wurde der Tower als Gefängnis genutzt.

Die Blütezeit der Nutzung als Gefängnis war jedoch das 16. und 17. Elisabeth I. war eine der vielen prominenten Persönlichkeiten, die im Tower gefangen gehalten wurden. Die Nutzung des Towers als Gefängnis machte den Ausdruck “in den Tower geschickt” populär. Obwohl viel darüber gesprochen wurde und der Glaube vorherrschte, dass der Tower ein Ort des Todes und der Folter sei, wurden insgesamt nur sieben Menschen im Tower hingerichtet, eine im Vergleich zu anderen Orten geringe Zahl. Die Hinrichtungen fanden in der Regel auf dem berüchtigten Turmhügel auf dem Burggelände statt. In 400 Jahren fanden 112 Hinrichtungen auf dem Tower Hill statt. Während der beiden Weltkriege wurde die Burg erneut als Gefängnis genutzt und 12 Männer wurden wegen Spionage hingerichtet.

Der Tower gilt aufgrund seiner zahlreichen Geister als einer der unheimlichsten Orte der Welt. Das liegt natürlich an seiner lange Geschichte voller Schrecken und Blut.

Selbst Kinder wurden im Bloody Tower getötet. Im Jahr 1483 starb Edward IV. unerwartet und sein zwölfjähriger Sohn Edward V. sollte den Thron erben. Doch sein Onkel, der Herzog von Gloucester, erhielt vom Parlament die Erlaubnis, selbst den Thron zu besteigen. Edward V. und sein jüngerer Bruder Richard verschwanden kurz darauf auf mysteriöse Weise und wurden nie wieder gesehen. Obwohl die Kindersterblichkeit zu dieser Zeit sehr hoch war, verschwanden die beiden jungen Prinzen auffällig gleichzeitig. Man munkelte, ihr Onkel habe sie töten lassen (oder selbst getötet), um seinen Platz auf dem Thron zu sichern. Im Jahre 1674 wurden kleine Skelettreste gefunden, die sich bei neueren Untersuchungen sowohl als menschliche als auch tierische Überreste herausstellten. Wurden die jungen Prinzen zusammen mit ihren Haustieren gefangen gehalten? Oder wurden sie vielleicht zusammen mit toten Tieren begraben? Vielleicht werden wir es nie erfahren.

Dennoch wurden im Laufe der Jahrhunderte zwei gespenstische Knaben gesehen. Im fünfzehnten Jahrhundert, nachdem die Fürsten verschwunden waren, sollen Wächter die Geister von zwei Jungen im Tower gesehen haben. Die Jungen schienen weiße Nachthemden zu tragen und bewegten sich mit einem “erschrockenen” Gesichtsausdruck die Treppe hinunter. Sie hielten sich aneinander fest und verschwanden schließlich. Im Laufe der Jahrhunderte wurde von weiteren Erscheinungen der beiden Geisterprinzen berichtet, die sich alle ähnelten: Die Jungen wirken verängstigt und traurig, und wenn der Beobachter versucht, sie zu trösten, verschwinden sie wieder.

Anne Boylen
Anne Boylen

Ein weiterer beliebter Geist, der im Tower von London sein Unwesen treibt, ist Anne Boleyn. Sie wurde der “Untreue” beschuldigt und es gab auch Gerüchte, sie sei eine “Hexe”. Ihr Mann, König Heinrich VIII., der die schlechte Angewohnheit hatte, sich entweder von seinen Frauen scheiden zu lassen oder sie zu töten, ordnete ihre Enthauptung an. Sie wurde am 19. Mai 1536 enthauptet, und noch heute kann man sehen, wie sie mit dem Kopf unter dem Arm durch den Tower schreitet. Es wird auch berichtet, dass sie eine geisterhafte Prozession von Damen und Herren des Adels durch den Gang der Chapel Royal anführt.

Catherine Howard war eine weitere enthauptete Frau von König Heinrich VIII. Sie soll in einen Mann namens Thomas Culpepper verliebt gewesen sein, der kurz vor ihr hingerichtet wurde. Ihre letzten Worte sollen gewesen sein:

“Ich sterbe als Königin, aber ich sterbe lieber als Culpeppers Frau”.

Sie war 21 Jahre alt, als sie hingerichtet wurde und soll noch heute im Tower von London leben. Im Gegensatz zu Anne Boleyn erscheint der Geist von Catherine Howard in ihrer menschlichen Gestalt – der Kopf ist dort, wo er sein sollte.

Viele andere Adelige wurden in den vergangenen Jahrhunderten im Tower of London gefoltert und hingerichtet. Jeder liebt eine gute Geistergeschichte, und jedes Jahr strömen die Menschen in den Tower in der Hoffnung, einen Blick auf den einen oder anderen berühmten Geist zu erhaschen. Auch paranormale und psychische Untersuchungen wurden im Tower durchgeführt. Hoffen wir, dass diese ruhelosen Geister eines Tages endlich Frieden finden.

Der Schatz des Abtes Thomas / M. R. James

In M. R. James’ literarischem Universum ist Latein die Sprache der Gelehrten – wer etwas auf sich hält, beherrscht sie fließend. Dies gilt nicht nur für James, sondern erinnert auch an Umberto Eco. Folgerichtig beginnt die Erzählung Der Schatz des Abtes Thomas mit einer umfangreichen lateinischen Passage, die der Antiquar und Gutsherr Mr. Somerton umgehend zu entschlüsseln versucht. Was er dabei entdeckt, ist ihm zunächst nicht völlig klar, doch die Hinweise locken ihn auf die Spur eines verborgenen Schatzes. Diese Schatzsuche führt ihn schließlich in eine ihm fremde Gegend, die den Leser nach und nach enthüllt wird.

Mr. Somerton lebt auf dem europäischen Festland, in der Nähe von Koblenz, und gerät dort in eine bedrohliche Lage. Sein treuer Diener, unfähig, ihm selbst zu helfen, schreibt einen dringlichen Hilferuf an einen befreundeten Pfarrer in England. Dieser erkennt sofort die Dringlichkeit der Situation, nimmt das nächste Schiff und findet seinen antiquarischen Freund in einem entkräfteten, verängstigten Zustand vor. Somerton ist nicht in der Lage, über die Ereignisse zu sprechen, die ihn derart erschüttert haben. Bevor er seine Geschichte erzählt, bittet er den Pfarrer jedoch, eine Aufgabe zu erfüllen, deren Natur zunächst unklar bleibt. Erst nachdem diese vollbracht ist, offenbart er die düsteren Geschehnisse.

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Anrufe aus dem Jenseits

Das Phänomen der “Telefonanrufe von Verstorbenen” gehört zu den rätselhaftesten und zugleich unheimlichsten Erscheinungen der paranormalen Welt. Immer wieder berichten Menschen von Anrufen verstorbener Angehöriger oder Freunde – manchmal nur wenige Stunden nach deren Tod, manchmal erst Jahre später. Diese mysteriösen Anrufe haben oft eines gemeinsam: Sie sind von schlechter Qualität, werden von statischem Rauschen begleitet oder klingen, als kämen sie aus weiter Ferne.

Die bekanntesten Fälle solcher Phantomanrufe folgen oft einem bestimmten Muster. In vielen Fällen hören die Empfänger nur ein leises Knacken oder eine verzerrte, mechanisch klingende Stimme, die nur wenige Worte spricht, bevor die Verbindung abrupt abbricht. Manche Anrufer wiederholen einen einzigen Satz, während andere nur unverständliche Laute von sich geben. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Kommunikation – wenn auch nur für kurze Zeit – kohärenter ist.

Ein besonders gut dokumentierter Fall ereignete sich am 12. September 2008. An diesem Tag kam es im San Fernando Valley zu einem verheerenden Zugunglück, bei dem 25 Menschen ums Leben kamen. Einer von ihnen war Charles Peck, ein 49-jähriger Mann mit einer Verlobten und zwei erwachsenen Kindern. Obwohl er bereits beim Aufprall starb, erhielten seine Angehörigen in den folgenden elf Stunden 35 Anrufe von seinem Mobiltelefon. Die Anrufe spendeten Hoffnung – vielleicht war Charles doch noch am Leben? Doch als die Rettungskräfte seine Leiche schließlich in den Trümmern fanden, stellte sich heraus, dass er die Anrufe unmöglich selbst getätigt haben konnte. Noch merkwürdiger: Es wurde nie offiziell bestätigt, ob sein Handy überhaupt im Wrack gefunden wurde.

Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel stammt von Bestsellerautor Dean Koontz. Am 20. September 1988 erhielt er einen mysteriösen Anruf. Eine weibliche Stimme flüsterte ihm dreimal eindringlich zu: “Bitte, sei vorsichtig!” – Bei jeder Wiederholung klang sie ferner und unwirklicher. Die Stimme kam ihm seltsam bekannt vor. Erst später wurde ihm klar, dass sie ihn an seine Mutter erinnerte – eine Mutter, die allerdings schon seit fast 20 Jahren tot war. Zwei Tage später besuchte Koontz seinen Vater Ray in einer Pflegeeinrichtung, wo sich ein dramatischer Vorfall ereignete: Ray hatte einige Verhaltensprobleme und erst kürzlich einen anderen Bewohner angegriffen. Als Dean seinen Vater traf, griff sein Vater ihm mit einem Messer an, das Dean ihm aus der Hand reißen konnte. Die Polizei traf gerade ein, als Dean mit dem Messer in der Hand zurück in den Flur lief. Für die Polizisten sah er also wie der Täter aus. Er wurde wiederholt aufgefordert, das Messer fallen zu lassen, aber Dean erstarrte zunächst vor Angst. Ihm wurde jedoch schnell klar, dass die Polizei ihn wahrscheinlich erschießen würde, wenn er das Messer nicht fallen lassen würde.

Er besann sich rechtzeitig, ließ das Messer fallen und verhinderte so eine Eskalation. Noch lange danach fragte er sich: War es wirklich seine verstorbene Mutter, die ihn vor dieser Situation gewarnt hatte?

Die Idee, dass Verstorbene über das Telefon Kontakt aufnehmen könnten, ist nicht nur aus wahren Berichten bekannt, sondern taucht auch immer wieder in Literatur und Film auf. Ein frühes Beispiel findet sich in Julio Cortázars Kurzgeschichte Das Telefon klingelt, Delia (1941). Die Protagonistin Delia lebt allein mit ihrem kleinen Sohn, nachdem ihr Geliebter Sonny sie vor zwei Jahren verlassen hat. Eines Tages erhält sie während der Hausarbeit einen unerwarteten Telefonanruf. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Sonny, der sie um Vergebung bittet und ihre Stimme hören will. Zunächst glaubt Delia, es handele sich um eine späte Rückmeldung eines Lebenden, doch im Verlauf des Gesprächs wird klar: Sonny ist tot. Der Anruf aus dem Jenseits konfrontiert sie mit der Vergangenheit, die sie verdrängt hat, und zwingt sie, sich ihrer Trauer und ihren unerledigten Emotionen zu stellen. Die Geschichte bleibt bewusst vage, doch das zentrale Motiv eines späten Abschieds durch das Telefon hallt bis heute nach.

Das Thema wurde auch in einer Episode der Kultserie The Twilight Zone behandelt. In der Folge Ferngespräch (Night Call, 1964) bekommt eine Frau ständig anonyme Anrufe. Anfangs hält sie die Anrufe für einen schlechten Scherz, aber dann findet sie heraus, dass die Anrufe von der Leitung eines längst verstorbenen Geliebten stammen. Die Geschichte ist natürlich fiktionalisiert und dramatisiert, beruht aber auf einem weitverbreiteten Mythos. Nämlich der, dass Verstorbene manchmal versuchen, die Lebenden über Telefonleitungen zu erreichen.

Die Meinungen bezüglich dieses Phänomens sind naturgemäß uneinheitlich. Skeptiker führen die Berichte auf Fehlfunktionen in Telefonnetzen, psychologische Effekte oder Zufälle zurück. Diese Erklärungsansätze sind jedoch nicht neu. Paranormale Forscher hingegen sind sich sicher, dass es möglich ist, dass Geister sich elektronischer Geräte bedienen, um mit Menschen in Kontakt zu treten. Das Konzept der elektronischen Sprachphänomene (EVP), bei dem mysteriöse Stimmen auf Tonbändern oder digitalen Aufnahmen zu hören sind, wird von vielen als Beweis für diese Theorie angesehen. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob Geister in der Lage sind, sich auch über das Telefon bemerkbar zu machen.

Es wird eines Tages gelingen, ein Gerät zu entwickeln, das speziell darauf ausgerichtet ist, mit der Geisterwelt zu kommunizieren. Dann wird endlich Klarheit geschaffen. Es gibt bereits Geräte wie das Geisterradio oder die “Spirit Box”, die durch zufällige Frequenzsprünge Stimmen Verstorbener einfangen. Paranormale Forscher nutzen es, um direkte Antworten aus dem Jenseits zu erhalten. Wenn wir solche Techniken weiterentwickeln, werden wir eines Tages ganz offiziell mit Verstorbenen kommunizieren können.

Die drei ??? und die gefährliche Erbschaft / William Arden

“Die drei Fragezeichen und die gefährliche Erbschaft” ist der 22. Band der beliebten Jugendbuchreihe und der sechste aus der Feder von William Arden, der uns zuletzt Der Phantomsee gebracht hat. Als seinen bisher besten Beitrag kann man durchaus Der verschwundene Schatz geltend machen, und ansonsten zeigt er sich bis auf ein paar lässliche Ausrutscher ziemlich solide. Was er aber hier in der gefährlichen Erbschaft abfackelt, gehört wirklich zum Besten, was die Serie überhaupt hergibt, obwohl sich die Geschichte auf die gute alte Schnitzeljagt beruft, aber diesmal in einer nahezu perfekten Darbietung.

Als der “reiche Exzentriker” Marcus “Dingo” Towne stirbt, ist sein Testament nicht weniger als eine große Überraschung: Derjenige, der sein Vermögen findet, darf es behalten.  Die Jungs werden in die Jagd hineingezogen, als Mr. Andrews Bob eine Vorabkopie des Testaments gibt (die am nächsten Tag in der LA Times veröffentlicht werden soll) und auch, weil Alfred Hitchcock (zu seinem großen Missfallen) als Testamentsvollstrecker genannt wird.

Ich, Alfred Hitchcock, weise jegliche Beziehung zu den my-steriösen Rätseln eines gewissen Marcus alias »Dingo« Towne weit von mir! Habe ich doch den alten Halunken kaum gekannt, und er hatte einfach nicht das Recht dazu, mich in seine Ränke aus der Totengruft zu verwickeln!

Sie werden von Townes Schwiegertochter Nelly und ihrem Verlobten Roger Callow (einem Anwalt) beauftragt, das Vermögen zu finden, und werden dabei von Nellys Sohn Billy unterstützt, der eines schönen Tages selbst Detektiv werden will.  

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