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Die drei ??? und das Aztekenschwert

Mit Die drei ??? und das Aztekenschwert präsentiert William Arden ein weiteres Abenteuer der beliebten Detektivserie. Das Original erschien 1977 unter dem Titel The Mystery of the Headless Horse, was im Deutschen nicht ganz genau übernommen wurde. Der titelgebende “kopflose Reiter” erweist sich hierbei nicht als übernatürliches Phänomen, sondern als eine kopflose Statue, die den ersten Hinweis im Fall liefert. Dabei dürfte es sich um eine bewusste Anspielung auf die Figur des kopflosen Reiters aus diversen Volkslegenden handeln – unter anderem auf Washington Irvings berühmte Erzählung The Legend of Sleepy Hollow (1820), die eine der ersten großen amerikanischen Geistergeschichten ist. Doch während Irving tatsächlich eine übernatürliche Atmosphäre schuf, bleibt Arden ganz im realistischen Bereich des Detektivgenres, wobei hier der Abenteuercharakter noch stärker im Fokus steht.

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Der letzte Sündenesser

Wenn Teile der Kulturgeschichte über die Zeit hinweg von Generation zu Generation geflüstert werden, verändern sich die Einzelheiten der Erzählung jedes Mal ein wenig – die Bedeutung verschiebt sich, wird manchmal verschleiert oder geht ganz verloren – bis die Geschichte ein köstliches Gewirr aus Tatsache, Erfindung und Magie ist.

Die Folklore der Sündenesser ist die geflüsterte Variation eines Spiels, das wir als „Stille Post“ kennen, und irgendwie trifft das auf alles zu, was früher einmal geschehen sein soll. Wir kennen es nur aus Erzählungen und unserer Imagination, die uns dabei hilft, die Dinge in unterschiedlichen Variationen ständig neu zu gestalten. So auch hier.

Schottisches Begräbnis
Schottisches Begräbnis im 19. Jahrhundert: The Print Collector/Print Collector/Getty Images
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Was wir im Feuer verloren / Mariana Enriquez

Auch hier ist es wieder, das Phänomen einer literarischen Sprache, die unserem Land völlig abgeht. Das Buch erschien bereits 2017 im Ullstein-Verlag, ist aber bei uns völlig unbekannt geblieben.

Ein verlassenes Haus strotzt vor Regalen mit Fingernägeln und Zähnen. Ein dämonisches Idol wird auf einer Matratze durch die Straßen der Stadt getragen. Ein abgemagerter, nackter Junge liegt angekettet im Hof eines Nachbarn. Mitten in der Nacht klopfen unsichtbare Männer an die Fensterläden eines Landhotels.

Diese gespenstischen Bilder flimmern aus diesen Geschichten hervor. Ihre Figuren werden Zeugen von Gräueltaten oder deren Schatten oder Nachbildern. All diese Geschichten werden aus der Sicht einer Frau erzählt, oft einer jungen Frau, und sie scheinen dem Grauen, das sie lockt, nur so lange standhalten zu können, wie über es erzählt wird. Schließlich gehen die Mädchen und Frauen von Enriquez freiwillig auf das zu, was sie am wenigsten sehen wollen. Sie öffnen die Tür, öffnen den Schrank, überqueren die Grenze.

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Unheimliche Gesellschaft / Carlos Fuentes

Unheimliche Gesellschadt

Als einer der grundlegenden Autoren des “Booms” hat der Mexikaner Carlos Fuentes in seinen wichtigsten Romanen – “Nichts als das Leben” (1962), “Terra Nostra” (1975), “Die Jahre mit Laura Diaz” (1999) u.a. – eine interessante Reflexion über die kulturelle Vielfalt und Geschichte seines Landes angestellt. Gleichzeitig hat Fuentes, wie jeder Autor von Rang, mit Erzählungen wie jenen, die in seinem ersten Buch “Verhüllte Tage” (1954) dargeboten werden, den Kurzromanen “Aura” (1962) und “Das gläserne Siegel” (2001), die Phantastik in seine Erzählungen einfließen lassen.

In diesem Sinne ist “Unheimliche Gesellschaft” (2004) eine Sammlung von Rätsel- und Horrorgeschichten, ein Band mit sechs Geschichten und einer Schlüsselfrage: “Ist Leben diese kurze Spanne, dieses Nichts zwischen Wiege und Grab?”

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Aura / Carlos Fuentes

Carlos Fuentes’ 1962 erschienene Novelle Aura gilt als eines der repräsentativsten Werke des mexikanischen Schriftstellers und ist ein Grundpfeiler der lateinamerikanischen Erzählkunst des 20. Jahrhunderts. Dieses Meisterwerk literarischer Experimentierfreude und psychologischer Raffinesse bestätigte nicht nur Fuentes’ Platz als eine der wichtigsten Stimmen seiner Generation, sondern trug auch zur Konsolidierung des sogenannten lateinamerikanischen Booms bei. Diese literarische Bewegung, die die Region zwischen den 1950er und 1970er Jahren prägte, machte Autoren wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa und eben Fuentes weltweit bekannt. Mit Werken wie Aura und Der Tod von Artemio Cruz avancierte Fuentes zu einem zentralen Vertreter dieser Epoche.

Aura von Alejandra Acosta
Aura von Alejandra Acosta

Was Aura besonders macht, ist seine unkonventionelle Erzählstruktur. Die Geschichte wird in der zweiten Person und im Präsens erzählt, wodurch der Leser direkt in die Rolle des Protagonisten Felipe Montero versetzt wird. Felipe, ein junger Historiker, der von seinem schlecht bezahlten Job und einem monotonen Leben frustriert ist, antwortet auf eine mysteriöse Zeitungsanzeige. Diese führt ihn in ein altes, baufälliges Herrenhaus in der Calle Donceles, wo ihn Señora Consuelo, die alternde Witwe eines Generals, beauftragt, die Memoiren ihres verstorbenen Mannes zu ordnen und zu vollenden.

Schon beim Betreten des Hauses wird Felipe in eine dunkle, zeitlose Welt gezogen. Das koloniale Herrenhaus ist in Dunkelheit gehüllt, erleuchtet nur von flackernden Kerzen, die zusammen mit religiösen Symbolen eine unheimliche Atmosphäre schaffen. Hier begegnet Felipe auch Aura, der geheimnisvollen jungen Nichte Consuelos, deren grüne Augen ihn sofort in ihren Bann ziehen. Aura verkörpert nicht nur Jugend und Schönheit, sondern scheint auch eine magische Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod zu repräsentieren. Im Laufe der Erzählung entwickelt sich zwischen Felipe und Aura eine intensive, aber rätselhafte Beziehung, die durch Consuelos undurchsichtige Präsenz und die merkwürdige Atmosphäre des Hauses zusätzlich aufgeladen wird.

Aura von Alejandra Acosta
Aura von Alejandra Acosta

Die Verwendung der zweiten Person als Erzählperspektive ist eines der herausragenden Stilmittel des Romans. Der Leser wird nicht nur zum stillen Beobachter, sondern selbst zum Teil der Erzählung. Diese innovative Perspektive verstärkt das Gefühl von Unausweichlichkeit und Verstrickung, während die hypnotische Atmosphäre – geprägt von erdigen Gerüchen, tierischen Präsenzen und dekadenten Räumen – eine tiefgreifende Spannung erzeugt. Diese Elemente, zusammen mit den gotischen Motiven von Dunkelheit, Dekadenz und Übernatürlichkeit, machen Aura zu einem eindringlichen Werk.

Ein zentrales Thema des Romans ist die Macht der Vergangenheit über die Gegenwart. Consuelos Besessenheit von ihren Erinnerungen und ihre Weigerung, die Vergangenheit loszulassen, stehen im Kontrast zu Auras jugendlicher Lebenskraft. Gleichzeitig verwischen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie, Identitäten verschmelzen, und Felipe wird zunehmend in die dunkle Dynamik des Hauses verwickelt. Die Erzählung gipfelt in einer unerwarteten Wendung, die sowohl Felipes als auch die Wahrnehmung des Lesers von Figuren und Handlung radikal verändert. Diese traumartige Schlusswendung – eine Verschmelzung von Zeit, Körper und Identität – macht den Roman zu einer vielschichtigen literarischen Studie.

Aura ist nicht nur eine herausragende Auseinandersetzung mit Themen wie Verführung, Identität und Erinnerung, sondern auch ein beeindruckendes Beispiel für Fuentes’ innovative Prosa. Die Kombination aus formaler Brillanz und psychologischer Tiefe hebt diesen kurzen Roman weit über andere Werke des Genres hinaus und macht ihn zu einem Meilenstein der lateinamerikanischen Literatur.

Kurzformen. Babylon, Borges, Buenos Aires / Ricardo Piglia

Ricardo Piglias Essay „Kurzformen. Babylon, Borges, Buenos Aires“ – im Original Formas Breves -, ist ein Schlüsseltext, der die Kraft und den Reiz der Kurzform in der Literatur untersucht. Piglia, einer der bedeutendsten Schriftsteller der lateinamerikanischen Literatur, beherrscht die Kunst, komplexe Gefühle und Botschaften auf engstem Raum zu verdichten. Seine Analyse konzentriert sich auf die literarischen Techniken, die in Kurzgeschichten, Mikrogeschichten und Essays zum Einsatz kommen, und zeigt, wie diese Formen ein reichhaltiges und tiefgründiges literarisches Werk ermöglichen.

Kurzformen in der Literatur sind ein wirkungsvolles Mittel, um auf knappem Raum intensive emotionale und intellektuelle Eindrücke zu erzeugen. Piglia sieht in diesen Formen nicht nur ein Instrument der Verdichtung, sondern auch ein Medium, um komplexe Themen wie Identität, Erinnerung und Politik zu erforschen. Seine Kurzgeschichten und Essays bieten dem Leser literarische und kulturelle Bezüge, die trotz ihrer Tiefe zugänglich und spannungsgeladen bleiben.

Piglia argumentiert, dass große Kurzgeschichten immer zwei Geschichten enthalten: eine sichtbare und eine verborgene, die erst durch die Interpretation des Lesers zum Vorschein kommt. Diese narrative Struktur macht die Kurzgeschichte zu einem idealen Medium, um dichte Bedeutungsschichten zu erzeugen, wie es auch Jorge Luis Borges meisterhaft demonstriert hat.

Dabei handelt es sich bei der Theorie der “zwei Geschichten” um ein zentrales Konzept, um die narrative Struktur zu beschrieben, bei der zwei Geschichten gleichzeitig erzählt werden:

a. Die sichtbare Geschichte

Die erste Geschichte liegt an der Oberfläche der Erzählung. Sie ist direkt wahrnehmbar, weil sie explizit erzählt wird. Diese sichtbare Geschichte dient oft als eine Art Rahmen oder Kulisse, die den Leser in die Erzählung hineinzieht. Sie ist in der Regel einfach, handlungsorientiert und leicht verständlich.

Beispiel: In einer klassischen Detektivgeschichte könnte die sichtbare Geschichte die Suche eines Detektivs nach dem Täter sein. Sie gibt der Erzählung eine klare Struktur und vermittelt einen offensichtlichen Handlungsverlauf.

b. Die verdeckte Geschichte

Die zweite Geschichte ist subtiler und liegt unter der Oberfläche. Sie wird nicht direkt erzählt, sondern entsteht durch Anspielungen, Symbole und Leerstellen im Text. Diese verborgene Geschichte erfordert die aktive Beteiligung des Lesers, der die verschiedenen Hinweise zusammensetzen muss, um die tiefere Bedeutung oder den subversiven Inhalt der Erzählung zu entschlüsseln.

Beispiel: In derselben Detektivgeschichte könnte die versteckte Geschichte Fragen über Gerechtigkeit, Macht oder die subjektive Natur der Wahrheit aufwerfen. Während der Ermittler den Fall löst, könnte die Erzählung gleichzeitig die gesellschaftlichen Strukturen kritisieren, die solche Verbrechen ermöglichen.

c. Das Zusammenspiel der beiden Geschichten

Piglia argumentiert, dass große Kurzgeschichten von diesem Spannungsverhältnis zwischen sichtbarer und verborgener Geschichte leben. Die sichtbare Geschichte erfüllt eine funktionale Rolle: Sie sorgt für den äußeren Fluss der Handlung und macht die Geschichte für den Leser greifbar. Die verborgene Geschichte hingegen öffnet den Raum für Interpretationen und spiegelt tiefere Themen oder Botschaften wider.

Dieses Konzept lässt sich gut in den Werken von Jorge Luis Borges nachvollziehen. Ein Beispiel ist die Erzählung Das Haus des Asterion (La casa de Asterión), die auf den ersten Blick die Geschichte eines einsamen Wesens erzählt, das durch ein Labyrinth irrt. Erst am Ende wird enthüllt, dass es sich um den Minotaurus handelt – und damit entfaltet sich die verborgene Geschichte, die philosophische Fragen über Isolation, Opferbereitschaft und die Perspektive von Monstern aufwirft.

Borges als Prototyp der Kurzformen

Jorge Luis Borges nimmt in Piglias Essays eine zentrale Stellung ein, denn für Piglia ist er ein Pionier der literarischen Verdichtung, der mit minimalistischen Mitteln universelle Themen wie Unendlichkeit, Zeit und Wissen verhandelt. Werke wie Die Bibliothek von Babel oder Das Aleph sind hierfür Paradebeispiele für Kurzformen, die auf engstem Raum eine immense Bedeutungsfülle entfalten. Die Verbindung von Piglia und Borges ist in Piglias Werken überhaupt ziemlich prominent, was unter anderem auch an Buenos Aires liegt, jene Stadt also, die für Piglia selbst eine wichtige Inspirationsquelle darstellt. Die urbane Komplexität und kulturelle Hybridität der Stadt ist für beide Autoren ein Ort, an der das Lokale und das Universelle miteinander verschmelzen wie in Europa eventuell Paris.

Buenos Aires und die literarische Tradition

Die Stadt Buenos Aires wird von Piglia folgerichtig als literarischer Schmelztiegel und als Metapher für die Erzählkunst selbst beschrieben. Buenos Aires ist für ihn eine Art modernes Babylon, in dem Geschichten, Sprachen und Kulturen aufeinanderprallen und neue Erzählformen hervorbringen. In diesem Zusammenhang hebt Piglia an verschiedenen Stellen die Werke exzentrischer Autoren wie Roberto Arlt und Macedonio Fernández hervor, und sogar den polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz, deren unkonventionelle Texte die literarische Landschaft Argentiniens geprägt haben.

Piglia geht es aber nicht nur um Borges oder andere Dichter, sondern um die grundlegenden Strukturen und Funktionen der Literatur. Seine Analysen zeigen eine tiefe Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der kurzen Form, die er als eine Art „Mikroskop der Literatur“ betrachtet: Sie fokussiert die Essenz von Geschichten, destilliert Bedeutungen und schafft Raum für Reflexion.

Seine Fähigkeit, eine Vielzahl von Themen auf wenigen Seiten zu verdichten, ist ein Kennzeichen seines Stils. Seine Kurzformen laden den Leser ein, die Lücken selbst zu füllen, Bedeutungen zu entschlüsseln und Zusammenhänge herzustellen. Dabei setzt Piglia stets auf einen intertextuellen Ansatz, in dem seine Texte auf ein weites Netz literarischer und kultureller Bezüge zurückgreifen.

Die deutsche Ausgabe von Formas Breves, übersetzt von Elke Wehr, erschien im Jahr 2006 bei Berenberg.

Der Böse Blick

Der “Böse Blick” ist eines der ältesten und universellsten Phänomene des Glaubens in der Geschichte der Menschheit. Es durchzieht verschiedene Kulturen, Religionen und Gesellschaften und bleibt selbstverständlich auch in der modernen Welt ein Thema von Interesse.

Ursprung und Grundidee

Die Vorstellung eines “bösen Blicks” findet sich in antiken Zivilisationen wie Mesopotamien, Ägypten, Griechenland und Rom. Der Kern dieses Glaubens besteht darin, dass ein neidischer oder böswilliger Blick Unheil verursachen kann. Solche Blicke werden als eine Art Energie oder Kraft interpretiert, die Menschen, Tiere oder sogar Gegenstände schädigen kann. Neid oder negative Absichten hinter einem solchen Blick gelten als Auslöser für Krankheiten, Unglück oder Leid.

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Als sie ihn rief, kam der schwarze Reiter

Traurig; so traurig die rosig-rauchigen, mauve-rauchigen Abende im Spätherbst, traurig genug, um einem das Herz zu brechen. Die Sonne verlässt den Himmel in Leichentüchern von bunten Wolken; die Qual erobert die Stadt, ein Gefühl bitterster Reue, eine Sehnsucht nach nie Gekanntem, die Qual des endenden Jahres, der untröstlichen Zeit. Im Amerika nennt man den Herbst the fall, was an den Fall Adams denken lässt, als müsste das fatale Drama des urzeitlichen Obstdiebstahles wiederkehren und immer wiederkehren, in regelmäßigem Zyklus, zu einer Jahreszeit, wo die Schuljungen die Obstgärten plündern, damit im alltäglichen Bilde ein Kind, irgendeines, jedes, sichtbar wird, das vor der Wahl zwischen Tugend und Erkenntnis immer die Erkenntnis wählt, immer den schweren Weg. Obwohl sie die Bedeutung des Wortes “Reue” nicht kennt, seufzt die Frau auf, ohne besonderen Grund.

Weiche Nebelwirbel dringen in die Gasse ein, steigen wie der Atem eines erschöpften Geistes aus dem trägen Fluss auf, sickern durch die Ritzen der Fensterrahmen, dass die Umrisse ihrer hohen, einsamen Wohnung wanken und verschwimmen. An solchen Abenden sieht man alles so, als wollten einem die Augen gleich mit Tränen übergehen.

Angela Carters dritte Sammlung erschien bei uns im Jahre 1990, fünfzehn Jahre später als das Original.

Es wäre nicht genüge, diese acht Perlen einfach nur Geschichten zu nennen. Wären sie das, könnten wir uns leicht über das Abrupte in ihnen beklagen, geschrieben von einer Virtuosin, die ihr Instrument einfach nur hinlegt, ihr Können längst bewiesen hat, als ob der Nachhall ihrer Legende bereits ausreichen würde. Es gibt in dieser Sammlung Sätze, die sich als poetische Fragmente betrachten lassen. Ihre Erzählungen haben mehr mit der Struktur von Märchen zu tun; hier wirkt eine autoritative Stimme im Hintergrund, die Dialoge vermeidet, scheinbar undurchsichtig Ereignisse werden in einen Prolog und ein Nachspiel gekleidet, so dass sie aus dem Text heraustreten. Hier ist eine Fantasie am Werk, die unter dem Deckmantel historischer Meditationen waltet.

Die Eröffnungsgeschichte Schwarze Venus ist Carters Interpretation der Muse und Geliebten von Charles Baudelaire, Jeanne Duval, die er seine “Vénus Noire” nannte, die Inspiration für insgesamt sieben Gedichte aus den „Blumen des Bösen“ war, von der man tatsächlich sehr wenig weiß und die wohl ihren Namen als Tänzerin und Objekt der Begierde sehr häufig geändert haben dürfte. Geheimnisvoll erscheint sie nicht zuletzt deshalb, weil sie die Geliebte eines perversen, “bösen” Dichters war. Uns wird erzählt, wie er eines nachts von ihr in Erregung versetzt wird, als er sie ohne einen Hinweis oder jedwedes Schamgefühl auf die Straße urinieren sieht.

Die subtile Andeutung, dass sie eine gefallene Frau ist, wie in dem obigen Auszug angedeutet, wird durch die letzte Beobachtung des Fotografen Nadar verstärkt, der eine syphilitische, zahnlose und auf Krücken stehende Frau sieht. Durch Carter wird sie transformiert, ihre Sexualität wird zu einer Ermächtigung, als sie Baudelaire für den Sex bezahlen lässt, weil sie ihn respektiert und weil sie es wert ist. Außerdem wird sie als die Intelligentere von beiden dargestellt; obwohl sie seine Kunst zu schätzen weiß, erkennt sie die Dummheit seines Vergleichs ihres Tanzes mit dem einer Schlange. Hätte er – wie sie – je eine gesehen, wüsste er, wie lächerlich der Vergleich war.

Baudelaire selbst zeigt sich als sehr gesprächig und ein wenig als Poseur, während er in ihren Armen nach dem Koitus zu weinen beginnt. Am Ende der Erzählung überlebt sie den Dichter und kehrt nach Martinique zurück.

Die zweite Geschichte, Der Kuss, ist die kürzeste Geschichte in der Sammlung und handelt von einem Zwischenfall zwischen Timurs schöner und klugen Frau und einem Baumeister. Die Ehefrau will ihrem siegreich von einem Feldzug zurückkehrenden Mann eine Moschee bauen und pocht darauf, dass sie rechtzeitig fertig wird. Aber ein Torbogen bleibt noch unvollendet. Sie ruft den Bauherrn herbei, aber er wird den Torbogen nur unter der Gegenleistung eines Kusses vollenden. Die Ehefrau will nicht untreu sein, und deshalb entwirft sie einen Plan, um ihn zu täuschen, indem sie ihm Eier mit verschiedenfarbiger Schalen zum Essen gibt. Als er sie gegessen hat und unbeeindruckt ist, weil sie alle gleich schmeckten, benutzt sie das gegen ihn, indem sie sagt, dass die gleiche Logik für Küsse gilt, unabhängig von der Ästhetik, deshalb wird sie ihm erlauben, stattdessen irgendeine ihrer Mägde zu küssen.

Sein Gegenvorschlag umfasst drei Schüsseln mit klarer Flüssigkeit, zwei mit Wasser und einen mit Wodka, mit dem Argument, dass, obwohl sie gleich aussehen, jede Flüssigkeit anders schmeckt und so sei es auch mit der Liebe. Danach küsst sie ihn und als Tamur nach Hause zurückkehrt, wird sie nicht in den Harem zurückkehren, weil sie Wodka probiert hat und ihm gesteht, dass sie den Architekten geküsst hat. Sie wird geschlagen, und er schickt seine Wachen, um den Architekten hinzurichten, der auf dem fertiggestellten Torbogen steht, sich Flügel wachsen lässt und davon fliegt.

Unsere Liebe Frau vom Großen Massaker erzählt die Geschichte eines Mädchens aus Lancashire, das nach London zieht, wo sie einen Laib Brot stehlen muss, um nicht zu verhungern, und von einem Gentleman erwischt wird, der sie dazu überredet, mit ihm in ein Zimmer zu gehen, um Sex zu haben. Als er merkt, dass sie noch Jungfrau ist, schämt er sich und gibt ihr etwas Geld. Die Folge davon ist, dass ihr das recht gut gefällt und sie damit beginnt, sich zu prostituieren. Nebenbei beginnt sie aus Spaß auch noch zu stehlen, wird erwischt und in die Neue Welt verfrachtet, um dort auf einer Plantage zu arbeiten. Dort muss sie fliehen, als sie einem Vorarbeiter, der sie vergewaltigen will, die Ohren abschneidet. In der Wildnis begegnet sie einer Indianerin, die sie als Tochter aufnimmt und so wird sie Teil des Stammes. Dort lebt sie ein einfaches Leben, glücklich, weil sie keine Wünsche und Bedürfnisse hat und zu einer Gemeinschaft gehört. Sie heiratet sogar einen der Stammesangehörigen und hat einen kleinen Jungen. Ihr Glück ist jedoch nicht von Dauer, denn die Engländer kommen und schlachten alle ab. Sie selbst wird von den Engländern mitgenommen, wo sie von einem Priester gekauft wird, der ihre und die Seele ihres Kindes retten will. Die Geschichte würde in der Hand einer weniger begabten Schriftstellerin leicht platzen, denn die Gegenüberstellung der ekelerregenden „Zivilisation“, wo sie ihren Körper verkaufen muss, um zu überleben, und den respektvollen „Wilden“, in deren Gemeinschaft sie sich sinnvoll einfügt, ist schon vielen misslungen. Tatsächlich könnte man einen Makel darin sehen, dass die Geschichte an sich nicht phantastisch ist. Aber wie bereits bei Schwarze Venus selbst ist sie spekulativ-abenteuerlich, und das rückt sie in die Nähe der Literatur, die wir meinen.

Die nächste Geschichte stellt den Höhepunkt der an sich schon sehr starken Sammlung dar: Das Kabinett des Edgar Allan Poe. Diese Erzählung beschäftigt sich mit den Effekten, die seine Kindheit und seine Mutter auf Poes pathologische Probleme im Mannesalter hatten. Bekanntermaßen war Poes Mutter eine Schauspielerin, die für ihr Können und ihre Vielseitigkeit in den Rollen von Shakespeares tragischen Heldinnen Ophelia und Juliet Capulet bis hin zu Chor-, Tanz- und Komödienrollen gelobt wurde. Die Sache, die Edgar am meisten genießt, ist, sie in ihrem Schrankspiegel zu sehen und dabei zuzusehen, wie sie sich komplett von einer Person in eine andere verwandelt. Nachdem der Vater verschwunden ist (er löst sich einfach auf), versucht sie weiterhin unter Selbstaufgabe sich um ihn und um seine zwei Geschwister zu kümmern. Bis zu ihrem Tod, den Carter so beschreibt:

Der feuchte, mürrische Winter des Südens unterzeichnete ihr Ende. Sie legte das Hemd der irren Ophelia zum Abschied an.

Als sie ihn rief, kam der fahle Reiter. Edgar schaute aus dem Fenster und sah ihn. Die lautlosen Hufe von Pferden, die schwarze Federbüsche trugen, schlugen Funken aus den Pflastersteinen der Straße drunten. „Vater!“, sagte Edgar; er dachte, ihr Vater müsse sich in dieser verzweifelten Lage wieder zusammengefügt haben, um sie alle zu einem besseren Ort zu fahren, doch als er genauer hinsah, beim Licht des schwelenden Mondes, erkannte er, dass die Augenhöhlen des Kutschers voller Würmer waren.

Der Tod seiner Mutter hat tiefgreifende Auswirkungen auf Poe, da er seine Mutter schon unzählige Male auf der Bühne sterben und sie nach dem gefallenen Vorhang wieder aufstehen gesehen hat, aber diesmal kehrt sie nicht zurück. Drei Wochen nach ihrem Tod wird er von den Allens aufgenommen und bekommt ein gutes Zuhause und eine gute Ausbildung, er wächst auf und heiratet seine dreizehnjährige Cousine Virginia Clemm. Elf Jahre lang werden sie verheiratet sein, bis das bleiche, sanfte Mädchen an Tuberkulose stirbt. In dieser Erzählung zeigt Carter virtuos auf, wie sehr Poe durch den tragischen Tod der beiden Frauen, die er liebte, geprägt wurde. Wir kennen das stets wiederkehrende Thema der sterbenden oder toten Frauen in seiner Arbeit natürlich sehr genau und ich selbst habe schon eine Menge darüber geschrieben, was aber hier nichts zur Sache tut.

In den nächsten beiden Erzählungen kehrt Angela Carter auf das ihr vertraute Gebiet der Volkserzählungen zurück. Einmal, um Shakespeares “Sommernachstraum” neu zu erfinden, in dem sie einen goldenen Hermaphroditen einführt, und ein anderes Mal, um sich in „Peter und der Wolf“ erneut dem Motiv der Wolfskinder anzunehmen, wo sie unter anderem ja ihre stärksten Momente auch in „Blaubarts Zimmer“ hat.

In Capriccio-Ouvertüre zu “Ein Sommernachstraum‘” stellt sich Carter einen sehr englischen Wald als Schauplatz vor, in dem sie besagten goldenen Hermaphroditen namens Herm in die Geschichte einfügt, der unter der Obhut von Titania steht, die entschlossen ist, sie vor den verliebten Annäherungsversuchen ihres Mannes Oberon zu schützen. Während sich der Wald zu verändern beginnt, um Oberons sexueller Frustration anzupassen, benutzt Titania den Herm für sich selbst. Darüber hinaus ist Herm auch das Objekt der Begierde von Puck, der ihr/ihm in den Wald folgt, wo Herm Yoga praktiziert, den Hermaphrodieten aber nicht zu nahe treten kann, weil eine Barriere um ihn geschaffen wurde, um ihn zu schützen. Deshalb sieht er ihm nur zu und masturbiert. Puck schafft es sogar, seine Genitalien so umzustellen, dass er sich in einen Zwitter verwandelt, aber auch das nützt ihm nichts.

Selbst für Carters Maßstäbe ist die hier genutzte Sprache üppig, das eigentlich Interessante jedoch ist die Symbolik, die sie jedem Charakter zuweist. Titania ist eine Fruchtbarkeitsgöttin, während ihr Mann, der König, frustrierte männliche Dominanz darstellt und Puck reine, ungehemmte animalische Sexualität ist. Der goldene Herm, obwohl er beide Geschlechtsteile besitzt und von Männern und Frauen gleichermaßen begehrt wird, scheint die ganze Idee des Geschlechts langweilig zu finden, als ob er durch einen höheren Zustand erleuchtet wäre, wie sein Yoga dann auch zeigt. Bei der Adaption der Geschichte behält Carter die Unzucht von Shakespeares Stück zwar bei, macht es aber uneingeschränkt zu ihrer eigenen Geschichte.

Peter und der Wolf entdeckt Peter während der Jagd ein junges Mädchen unter den Wölfen. Es handelt sich um seine Cousine, die verwilderte, als ihre Eltern, die abgeschieden auf einem Berg lebten, von Wölfen getötet wurden, als sie selbst noch ein Baby war. Gemeinsam mit anderen Jägern wird sie eingefangen und „nach Hause“ gebracht. Peter und seine Großmutter sind fest entschlossen, ihr zu helfen. Sie allerdings fängt laut zu heulen an und es dauert nicht lange, da kommen die Wölfe vom Berg herunter und befreien das Mädchen.

Nach diesem Ereignis wird Peter religiös. Als er volljährig ist, empfiehlt es sich von daher für ihn, ins Priesterseminar zu gehen und dort zu studieren. Als er das Dorf verlässt, kommt er an einen Fluss und sieht seine Cousine mit zwei Wolfsjungen, die von ihr gesäugt werden (hier haben wir die dunkle Symbolik der Sodomie). Als er sie dort sieht, wird er an seine Sehnsucht erinnert, die ihn überkam, als er zum ersten Mal von ihrem Geschlecht angezogen wurde als er sie nackt und wild im Haus sah, bevor die Wölfe sie befreiten. Er versucht über den Fluss zu ihr zu gelangen, aber er verschreckt sie nur. Wie Puck in der vorigen Geschichte, steht das wilde Mädchen für die animalische Sexualität, aber sie repräsentiert auch eine Art Freiheit, die Peter nicht weniger begehrt, aber nicht haben kann. Auf seinem weiteren Weg bemerkt Peter, dass ihm die Berge seiner Jugend wie auf einer Postkarte geworden sind und blickt nicht zurück aus Angst, das gleiche Schicksal wie Lots Frau zu teilen.

In der nächsten Erzählung, Das Küchenkind, wird die Geschichte eines kleinen Jungen erzählt, der aus einer zufälligen Begegnung zwischen seiner Mutter und einem mysteriösen Mann in der Küche eines Landhauses, in dem sie arbeitet, geboren wurde. In der Küche aufgewachsen, lernt der Junge von klein auf eine Reihe von kulinarischen Fertigkeiten unter der Obhut seiner Mutter, einer begnadeten Köchin. Doch sie fühlt sich unterschätzt, denn wenn der Hausherr zu Besuch kommt, fragt er nie nach ihrer Spezialität, dem Hummersoufflé. Eines Tages geht der Junge auf den Herzog zu, um näheres über seinen Vater in Erfahrung zu bringen. Von ihm erfährt er, dass es sich dabei um den Kammerdiener des Herzogs handelte und dieser traurigerweise verstorben sei, aber auch, dass die Haushälterin – und Gegenspielerin der Köchin – diese Nachricht absichtlich nicht weitergegeben hatte, was seine Mutter fälschlicherweise glauben ließ, er interessiere sich nicht für das Hummersoufflé. Als Zeichen seiner freundlichen Geste geht er in die Küche, um der Mutter des Jungen eine kleine Aufmerksamkeit zu machen, aber sie lehnt seine Annäherung ab, denn als sie bei der letzten Gelegenheit belästigt wurde (der Zeugung des Jungen), gab sie zu viel Cayenne in die Schüssel. Der Herzog ist bewegt von der Hingabe der Mutter an ihre Arbeit und bittet sie, Chefköchin in seiner Residenz zu werden. Der Junge wird sein Ziehsohn und der jüngste Koch in ganz England.

Auch diese Geschichte ist weniger phantastisch als einfach nur ein sprachliches Meisterwerk.

Die letzte Geschichte in der Sammlung ist Die Morde von Fall River, die Geschichte von Lizzy Borden, die in der allgemein bekannten Legende ihren Vater als auch ihre Mutter mit einer Axt ermordet haben soll. Tatsächlich bestehen noch immer Zweifel, ob sie es wirklich getan hat, vor Gericht wurde sie jedenfalls freigesprochen.

Carters Lizzy lebt in einem bedrückenden Haus, in dem aufgrund eines kürzlichen Einbruchs alle Türen zu jeder Zeit verschlossen bleiben. Ihr Vater ist recht wohlhabend, aber er ist ein Geizhals, so dass selbst die Form des Hauses bedrückend, sehr eng ist, und Carter nutzt dies, um eine Atmosphäre zu schaffen, die höchst klaustrophobisch ist. Ihre Stiefmutter wird als ziemlich gefräßig dargestellt, und die Beziehung zwischen ihr und Lizzy ist nicht gerade gut. Lizzys Schwester ist weggegangen, um bei Freunden in einer anderen Stadt zu leben, aber Lizzy fühlt sich aus Gründen, die nur mit einer inneren Stimme erklärt werden, gezwungen, in Massachusetts zu bleiben.

Während die Hitze unerträglich wird und jeden im Haus krank macht, ereignet sich das, was schließlich Lizzys Verbrechen auslöst (und Carter geht von ihrer naheliegenden Schuld aus).

Obwohl ihr Vater ein Geizhals ist (der als Bestatter den Leute die Füße abschneidet, damit sie in einen kleinen, billigen Sarg passen), gewährt er seiner Tochter jeden (finanziellen) Wunsch. Eines Tages tötet er aber Lizzys Tauben, um sie seiner Gemahlin wortwörtlich zum Fraß vorzuwerfen.

Lizzys Verbrechen wird beinahe zu einem Akt radikaler Befreiung. Sie greift auf Gewalt zurück, um sich einer grausamen und bedrückenden Situation zu entledigen.

Angela Carters Schreibstil wird oft dem Magischen Realismus zugeordnet, obwohl nach ihrer eigenen Aussage dieses Etikett nicht ganz stimmig ist. Sie selbst plädiert für ein “literarisches Spiel” im Geiste lateinamerikanischer Schriftsteller wie Garcia Marquez und Jorge Luis Borges. Borges war bei weitem ihr wichtigster Einfluss – und darin liegt vielleicht das Problem mit dem Etikett. In Europa geht man allgemein davon aus, Borges sei eben der Prototyp des Magischen Realisten gewesen – und auch Marquez bekam ja dieses Schild verpasst, wobei aber nicht vergessen werden darf, dass die Erfindung des Magischen Realismus nur ein Marketingkonzept der Verlage gewesen ist.

Roberto Bolaño: Die wilden Detektive

Roberto Bolaño ist einer jener Autoren, die ihren berechtigten Ruhm erst posthum erlebten (wie in solchen Fällen üblich, nicht mehr persönlich). Tatsächlich handelte es sich um einen Erfolg von dramatischen Ausmaßen. Nur sechs Wochen vor seinem Tod, im Alter von fünfzig Jahren, wurde er von einer Gruppe seiner Kollegen auf einer Konferenz in Sevilla als einflussreichster Schriftsteller seiner Generation gefeiert.

Es dauerte nicht lang, da wurde “Die wilden Detektive” auf die Liste der größten spanischsprachigen Romane der letzten 50 Jahre auf Platz 3 gesetzt. Sein letztes Werk “2666” landete gleich dahinter.

Vielleicht wäre ihm ein gewisser Erfolg bereits während seines Lebens sicher gewesen, wenn er nicht alles dafür getan hätte, sich Feinde zu machen. Er verachtete das literarische Establishment und attackierte sogar die Nobelpreisträger Gabriel García Márquez und Octavio Paz mit Vehemenz und Gift. Isabel Allende prangerte er als Kitschautorin an. Sie erinnerte sich an Bolaño als “äußerst unangenehm” und erklärte, dass der Tod ihn “nicht zu einem schöneren Menschen macht”.

Wer nicht mit den Feinheiten der lateinamerikanischen Literaturpolitik vertraut ist, wird wahrscheinlich viele Hinweise in diesem Roman übersehen oder erst gar nicht verstehen. Es gibt eine Fülle gut getarnter, aber expliziter Aussagen zu mehr als 100 lateinamerikanischen Schriftstellern, und einige (wie Paz) tauchen sogar als Figuren in der Erzählung auf.

In dieser Geschichte spielt Bolaño (alias Belano) neben seinem Dichterkollegen und Landsmann Ulises Lima eine zentrale Rolle. Wir sehen die beiden Männer zu Beginn ihrer zwanziger Jahre einem Kreis von jugendlichen Dichtern vorstehen. Im Laufe von zwei Monaten Ende 1975 trinken alle zu viel, glauben, Teil einer “Bande” zu sein, nehmen Drogen, haben Sex (ausnahmslos “die ganze Nacht” oder “bis zum Morgengrauen”), machen sich über die etablierten Schriftsteller der Stadt lustig, stehlen Bücher und inszenieren am Silvesterabend die Flucht vor einem wütenden Zuhälter. Der Kreis besteht zumeist aus armen oder emotional geschädigten Jugendlichen, die außerhalb des Universitätssystems operieren, und Lima und Bolaño in seinem Zentrum werden als quasi legendäre Figuren verehrt. Dieses Porträt ist also ein hochromantisches. Dieser anfängliche Überschwang jedoch ist nur die Verkleidung der Traurigkeit und wird später zu einer Quelle der Tragödie.

Dabei singt der Roman mit einem enormen Chor kanonischer Stimmen. Die Auseinandersetzung mit der Literatur ist oft direkt, und eine schwindelerregende Liste von Dichtern wird präsentiert, auf die nun Hass oder Lob niederregnen. Der Name von Ulises beschwört sowohl Joyce als auch Homer herauf, und in der Tat wird in dem Roman viel hin und her spaziert. Belano verbeugt sich vor niemandem, daher gibt es statt einer einzigen Odyssee drei, eine für jeden Abschnitt. Im ersten Abschnitt handelt es sich um Mexiko-Stadt 1975, im zweiten um die Welt insgesamt in den folgenden zwei Jahrzehnten und im dritten um die Sonora-Wüste. Hier knüpft die Erzählung wieder am ersten Teil an, der im Januar 1976 endete. Aber im Gegensatz zu Odysseus und seiner Odyssee gibt es am Ende dieser Reisen keine Versöhnung. Jedes Mal beginnen die Figuren einfach eine neue Runde von Wanderungen in einem anderen Maßstab. Bolaño gibt jedoch trotz der den Roman beherrschenden Unzufriedenheit nie seine formalen Kühnheit auf. Der ausgedehnte Mittelteil wird auf verschiedene Weise von zahlreichen Erzählern vorgetragen, von denen jeder einen merkwürdigen, komplizierenden Splitter über das prismatische Leben von Belano und Lima ausbreitet.

Die Spiele mit dem Text sind fröhlicher Natur, auch wenn die Figuren es nicht sind. Ein großspuriger, Latein zitierender Anwalt erzählt von Belanos Abstieg in einen phantastisch tiefen Abgrund, an dessen Ende sich der Teufel angeblich aufhält, und Bolaño lässt seinen Erzähler jedem Dichter der Antike einen Gruß zukommen. An anderer Stelle erinnert ein albernes Schwertduell an Borges’ Geschichte von Träumen und Duellen in “Der Süden”. Manchmal ist der Text tief verschlüsselt. Hunderte von Seiten vergehen zwischen der Beschreibung einer Figur und den eigentlichen Ereignissen des Romans. Und obwohl Julio Cortázar nur einmal direkt erwähnt wird, trägt sein Klassiker Rayuela, der von kluger Jugend, einem tragischen Tod, textlichen Rätseln und der Unmöglichkeit des Lebens handelt, massiv die Züge eines Vorbilds für Bolaños Werk. 

Munk / Ricardo Piglia

Ricardo Piglia war ein eifriger Leser, der das Lesen als Freizeitbeschäftigung ablehnte. In seinem Buch “Der letzte Leser” feiert er nicht die Schnelligkeit des Lesens, die sogar in manchen Schulen für gut befunden wird, sondern die Langsamkeit. Im Epilog zitiert er einen Satz von Wittgenstein: “In der Philosophie gewinnt der das Rennen, der am langsamsten läuft. Oder: derjenige, der als letzter ankommt”. Piglia nannte scharfsinnige Leser “Privatdetektive”, zu Ehren seiner Besessenheit für Detektivgeschichten, ein Stil, den er für die meisten seiner Werke übernahm. Oft verwies er auf ein Foto von Borges, der im Alter von dreißig Jahren erblindete. Auf diesem Foto hält er als Direktor der argentinischen Nationalbibliothek ein Buch wenige Zentimeter vor seine Nase und kommentiert das Bild mit den Worten: “Ich bin jetzt ein Leser von Seiten, die meine Augen nicht sehen können”. Piglia schreibt: “Ein Leser ist auch jemand, der die Dinge falsch liest, sie verzerrt und auf irritierende Weise wahrnimmt”. Für ihn war es entscheidend, idiosynkratisch gegen den Strom zu lesen.

Wie jeder ambitionierte Schriftsteller, der in den 1970er und 1980er Jahren schrieb, verstand er die besondere Last und Gabe, im Schatten von Jorge Luis Borges zu arbeiten – dem Meister, der, wie ein argentinischer Kritiker sagte, “größer ist als die argentinische Literatur”. In einer vier Jahrzehnte währenden Karriere, in der er zu einer der markantesten literarischen Stimmen Lateinamerikas wurde, schrieb er oft über vertriebene Einzelgänger, gescheiterte Genies, überzeugte Paranoiker und Verschwörer.

Der Name seines Alter Egos Emilio Renzi, den er in einigen seiner Bücher auftreten lässt, ist nicht zufällig gewählt. Piglias Geburtsname war Ricardo Emilio Piglia Renzi. Unter diesem Namen erschien auch sein erstes Buch. Und natürlich taucht er auch in diesem auf: Munk.

“Sie wissen, dass sich dort draußen kein Mensch für Literatur interessiert und sie die letzten Verbliebenen Hüter einer glorreichen, in die Krise geratenen Tradition sind.”

Man liest Bücher, um etwas über sich selbst zu erfahren. Ein Buch, in dem das nicht der Fall ist, taugt nicht viel. Nun ist es die lateinamerikanische Literatur im Allgemeinen, in der man vor allem etwas über die Zerrissenheit lernen kann. Die Europäer – allen voran die französische und die englische Literatur – waren die literarischen Kulturträger des südlichen Kontinents. Heute, da es in Europa keine nennenswerte Kultur mehr gibt, wendet man sich Amerika zu. Die beiden Amerikas sind voll von Zerrissenheit und Kunst, Europa ist nur noch ein Relikt der Vergangenheit. Das Interessante ist, dass die Hispanistik zur Romanistik gehört wie die Französistik. Borges bevorzugte die englische Literatur als Lektürequelle, und die USA sind vor allem deshalb ein Literaturvolk geworden, weil Autoren wie Poe, Mark Twain und Whitman sich emanzipieren wollten und mussten. Von Poe stammt der Symbolismus, der in Frankreich vor dem Surrealismus groß wurde, und der literarische Surrealismus wiederum blühte in Lateinamerika auf. Das alles hat zunächst nichts mit Ricardo Piglias Roman zu tun, der im Original “El camino de Ida” heißt: Der Weg Idas.

Es war sein letzter Roman, Piglia starb im Januar 2017 in Buenos Aires, nachdem er mehr als zwanzig Jahre in den USA gelebt hatte. Es ist nicht zu leugnen, dass dieser Aufenthalt, wie bei früheren Autoren, die vorzugsweise in Frankreich lebten (bei Borges waren es die Schweiz und Spanien), Spuren hinterlassen hat. In der Zeit nach Borges war Piglia der berühmteste Argentinier. In MUNK erfahren wir viel über die Literatur selbst, was nicht verwundert, da der Autor, wie sein Protagonist, als Professor Literatur lehrte. Wie Borges, Cortázar und Roberto Bolaño liebte auch Piglia seinen literarischen Fundus und schreibt ihn hier Emilio Renzi auf den Leib, der von Buenos Aires nach New York reist, um an der elitären Taylor University ein Seminar über W. H. Hudson zu halten, einen englischen Schriftsteller, den Joseph Conrad bewunderte und der einige Zeit in Argentinien lebte. Renzi war von der schönen und hochintelligenten Professorin Ida Brown eingeladen worden.

Renzi ist frisch geschieden und glaubt, dass ihm der Abstand und der Aufenthalt an einem fremden Ort, an dem ihn kaum jemand kennt, helfen werden, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Doch sein Plan scheitert sofort: In der ersten Nacht wird er durch einen seltsamen Anruf aus der Bahn geworfen. Dann beginnt er in einem Anfall von Leidenschaft eine heimliche, unvergessliche Romanze mit Ida. Kleine verdächtige Zwischenfälle und seltsame Missverständnisse gipfeln im tragischen Tod der Professorin bei einem unerklärlichen Autounfall, der ein beunruhigendes Detail zutage fördert: Idas Hand ist verbrannt, und das scheint sie mit einer Reihe von Personen aus der akademischen Welt gemeinsam zu haben.

Das FBI ermittelt, doch zunächst wird der Fall zu den Akten gelegt, weil er wie ein Unfall aussieht. War es wirklich ein Unfall? Das FBI vermutet, dass sie eine Komplizin des Briefbombers gewesen sein könnte. Und hier kommt eigentlich der Titel (sic!) ins Spiel, denn “Ida” bedeutet “Weg ohne Wiederkehr”. Piglia lässt Renzi hier in den Keller der Paranoia hinabsteigen, denn natürlich ist er zunächst verdächtig und lernt die Gemeinsamkeiten der argentinischen Junta und der amerikanischen Ermittler kennen. Viele der herausragenden lateinamerikanischen Bücher bieten diesen doppelten Boden einer ungewissen Realität. Das ist natürlich eine Anspielung auf den magischen Realismus. Aber in Wirklichkeit ist das Kafkaeske allgegenwärtig. Hier in Gestalt des Dekans D’Amato, der als großer Melville-Kenner einen lebenden weißen Hai im Keller hält. Oder die Vorstellung, dass Finnegans Wake gerne von Philosophen und Mathematikern gelesen wird. Mathematiker seien affektierte, gelangweilte Menschen, deren Kreativität meist vor dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr versiegt. Die meiste Zeit vertreiben sie sich mit Joyce.

Der Unabomber

Es ist etwas merkwürdig, dass die teuerste und aufwendigste Verbrecherjagd in der Geschichte der USA heute etwas in Vergessenheit geraten ist. Gemeint ist der Fall Ted Kaczynski, einem der genialsten Mathematiker seiner Zeit. Verwiesen sei hier auf die Dokumentation von Lutz Dammbeck.

Das Besondere an Piglias Buch (der Bombenleger heißt bei ihm “Munk”) ist aber nicht das Weben dieser Geschichte, sondern die Sprengkraft der Literatur, die wohl nur deshalb unterschätzt wird, weil sie von den meisten Menschen entweder als Mainstream-Unterhaltung oder als intellektuelles Konstrukt vergangener Tage interpretiert wird, vielleicht gerade weil kaum noch wahrgenommen wird, dass die Sprache das Einzige ist, was uns wirklich vom Tier unterscheidet. Im Guten wie im Schlechten ist der Mensch und seine Umwelt nur das Konstrukt seiner Sprache; wo seine Sprache endet, endet sein Horizont.

Julio Cortázar: Die Erzählungen

Julio Cortázar war einer der Begründer des so genannten lateinamerikanischen Booms. Er war Romancier, Lyriker, Dramatiker und Essayist, vor allem aber – und das ist der Kern seines Werkes – ein eifriger Erzähler von Kurzgeschichten. Er begann sein Werk unter dem Einfluss des Surrealismus. Seine phantastischen Erzählungen beginnen meist mit einer alltäglichen Szenerie, in die unerwartet das Fremde, das Unheimliche einbricht. Auch seine Tätigkeit als Übersetzer, u.a. der Erzählungen Edgar Allan Poes, beeinflusste sein Werk.

Cortazar

Viele phantastische Geschichten können sich einer thematischen Ähnlichkeit nicht entziehen. Oft scheint es, als stünden sie in Beziehung zueinander, als seien sie verbrüdert und durch eine Röhre miteinander verbunden. Viele dieser Geschichten haben gemeinsame Einflüsse wie Arthur Machen oder H. P. Lovecraft, während andere unheimliche Elemente verwenden, um zeitgenössische Stimmungen einzufangen. Manchmal sind diese Verbindungen offensichtlich, in anderen Fällen muss man sie mehrmals lesen, um sie zu verstehen. Dies ist bei Julio Cortázar der Fall.

Nehmen wir das Beispiel ‘Axolotl’ und daraus den ersten Absatz, der die Transformation vorwegnimmt:

“Es gab eine Zeit, in der ich viel an die Axolotl dachte. Ich besuchte sie im Aquarium des Jardin des Plants und brachte Stunden mit ihrer Betrachtung, der Betrachtung ihrer Unbeweglichkeit, ihrer dunklen Bewegung zu. Jetzt bin ich ein Axolotl.”

Der Schlüssel liegt hier nicht in der ausgeprägten Verwandlung, sondern in der Beobachtung und der kontemplativen Betrachtung. Man kann die Erzählung als eine Absonderung und einen symbolischen Abstieg in einen schizophrenen Zustand lesen, vor allem durch die Schlusssätze, in denen Cortàzar das erzählerische “wir” (der Axolotl) mit dem menschlichen “er” (der Mensch) vertauscht.

Fasziniert von den Amphibien im Larvenstadium, beginnt der Erzähler immer mehr Informationen über die Axolotl zu sammeln. Tag für Tag besucht er sie im Jardin des Plantes.

“Ich stützte mich auf die eiserne Stange, die die Aquarien einfasst, und widmete mich ihrer Betrachtung. Daran ist nichts Besonderes, denn ich hatte vom ersten Augenblick an begriffen, dass wir miteinander in Verbindung standen, dass etwas wenn auch grenzenlos Verlorenes und Fernes uns offenbar vereinte.”

Hinter dem Gefühl der Besessenheit verbirgt sich etwas anderes. Es ist die Schärfe der Selbstidentifikation mit etwas Fremdem. Im Laufe der Erzählung nimmt sie Gestalt an, mit wiederholten Verweisen auf ihre mexikanische Heimat, auf die Azteken, die das Land beherrschten, bevor die Spanier kamen. Der Erzähler scheint verrückt zu sein, zumindest könnte man die Geschichte so interpretieren. Und doch könnte das Ganze auch eine Metapher für die Faszination einer fremden Kultur sein, die so weit geht, dass man ganz in sie eintauchen möchte, bis hin zum Austausch mit der ursprünglichen eigenen Kultur. Dieses Gefühl der fremden Akkulturation taucht in vielen Erzählungen und Romanen Cortázars auf. Emigranten in surrealistischen Erzählungen, wie in seinem brillanten und epochalen Roman “Rayuela”.

In seinen Erzählungen nutzt Cortázar das Unerklärliche, um die Wirren des Lebens zu ergründen. In “Das besetzte Haus” leben die alternden Geschwister zurückgezogen im Haus ihrer Großeltern und spüren, dass etwas in ihren geschlossenen Lebensraum eindringt und sie zwingt, das Haus zu verlassen. Es ist ein langsames, schleichendes Grauen, das sich in die Erzählung einschleicht.

” Südliche Autobahn ” ist weniger eindeutig. Die Erzählung beginnt mit einem endlosen, kafkaesken Stau. Die Menschen im Stau versuchen, sich irgendwie zu beschäftigen. Einige schlafen miteinander, andere versuchen, sich so weit wie möglich von allem und jedem zu entfernen. Beide Erzählungen ähneln “Axolotl” darin, dass sie aus der eindeutigen Realität in seltsame, surreale Landschaften gleiten, wo Realität und Fantasie unentwirrbar ineinander übergehen und zu einer halluzinatorischen Einheit werden.

In den “Sprungszenen” seines grandiosen Anti-Romans “Rayuela” schildert Cortázar das Leben eines argentinischen Emigranten in Paris und seine Suche nach seiner früheren Geliebten Maga. Auch hier kommt es zu einem Zusammenprall der Kulturen, zu einem Verschwimmen von Halluzination und Realität. In Horacio Oliveira erkennen wir den fast wahnsinnigen Erzähler aus “Axolotl”. Sein Taumeln durch Paris und Buenos Aires auf der Suche nach Maga kann auch für die Suche nach einer schwer fassbaren Realität stehen. Die Anti-Struktur des Romans dient dazu, das Gefühl des Halluzinatorischen der Suche zu verstärken. Es gibt Momente der stillen Bedrohung, ähnlich dem “besetzten Haus”, und es gibt Momente, in denen Oliveiras Suche quixotische Züge annimmt.

In den 35 Jahren seines schriftstellerischen Schaffens hat Cortázar eines der einflussreichsten und unvergesslichsten Werke der Literatur des 20. Jahrhunderts hinterlassen, das sich mit dem Surrealismus, dem kulturellen Bruch, der Selbstidentität und der Frage, wo die Realität endet und die Halluzination beginnt, auseinandersetzt. Seine labilen, aber schmerzhaft aufmerksamen Erzählerfiguren erlauben es ihm, durch das Unerklärliche hindurch Aussagen über das heutige Leben zu machen, wie sie der ‘Realismus’ niemals zu treffen vermag. Cortázar taucht tief in die Psyche seiner Protagonisten ein und enthüllt dabei beunruhigende Wahrheiten darüber, wie wir die verrückte Welt um uns herum wahrnehmen. Manchmal äußert sich dies im Verlust der Identität und der Trennung von unserer Vergangenheit, wie in “Axolotl” oder “Das besetzte Haus”.

Das Unheimliche dient Cortázar als Kanal, und seine Geschichten funktionieren auf mehreren Ebenen. Es ist fast unmöglich, diese unglaubliche Nuanciertheit beim ersten Lesen zu erfassen, und er gehört zu den wenigen Autoren, die man immer wieder gerne liest.

Realität im Extremzustand

Meine Definition von Phantastik, mit der ich hantiere ist folgende: Phantastik ist Realität im Extremzustand. Glücklich bin ich mit dem Begriff der „Phantastik“ – so paradox es klingen mag, ein rein deutsches Unwort, das sich aber gut anhört, nicht. Das liegt nicht am Wort selbst, sondern an der – für mich – blödsinnigen Konstruktion, das Wort auf die drei Säulen „Horror“, „Science Fiction“ und „Fantasy“ zu stellen. Würden wir die Phantastik als ein Synonym der Spekulativen Literatur ausgeben, hätte ich allerdings gar keine Einwände. Denn dann würden wir die „drei Säulen“ um den „Magischen Realismus“, die „Alternative Geschichtsschreibung“ und die „wissenschaftliche Fantasy“ erweitern können. Weitere völlig unklare Begriffe, versteht sich. Aber „Horror“ und „Science Fiction“ gehören für mich nur bedingt zu unserer Vorstellung von Phantastik.

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Julio Cortázar: Vertrautheit des Phantastischen

“Was nützt ein Schriftsteller, wenn er die Literatur nicht zerstören kann?”

Die Frage stammt aus Julio Cortázars Roman Rayuela aus dem Jahr 1963, dem dichten, schwer fassbaren und raffinierten Meisterwerk, das gleichzeitig ein hochmodernes Spiel  um das eigene Abenteuer ist. Es enthält eine einführende Anweisungstabelle: “Dieses Buch besteht aus vielen Büchern”, schreibt Cortázar, “aber vor allem aus zwei Büchern.” Die erste Version wird traditionell von Kapitel eins an durchgelesen, die zweite Version beginnt bei Kapitel dreiundsiebzig und schlängelt sich durch eine nichtlineare Sequenz. Beide Lesemodi folgen dem weltmüden Antihelden Horacio Oliveira, Cortázars Protagonist, der von den lauen Gewissheiten des bürgerlichen Lebens enttäuscht ist und dessen metaphysische Erkundungen das Gerüst einer wogenden, höchst komischen Existenzkapriole bilden. Cortázar sagte lakonisch: “Ich bin auf der Seite der Fragen geblieben.” Aber es war der formale Wagemut des Romans – seine verzweigten Wege -, der auf die hartnäckigste und persönlichste Anfrage des argentinischen Autors hinwies: Warum sollte es nur eine Realität geben?

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Nachtrag zum Magischen Realismus

Der Magische Realismus, über den ich in der Vergangenheit immer einmal wieder gesprochen habe, ist mehr ein literarischer Stil als ein eigenständiges Genre, der sich in seiner Herangehensweise durch zwei unterschiedliche Perspektiven auszeichnet. Die eine basiert auf einer sogenannten rationalen Sicht der Realität und die andere auf der Akzeptanz des Übernatürlichen als prosaische Realität.

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