Kult!

Monat: Mai 2019

Ritual / Widow

Innerhalb der heiligen Hallen der NWOBHM gibt es Kultbands, die im Sand der Zeit vergraben liegen und als großes Geheimnis gelten. Die britischen Ritual sind eines davon: Sie wurden 1973 gegründet, waren Zeitgenossen solcher Titanen wie AC/DC und Motörhead, spielten mit ihnen sogar schon 1975 im selben Pub (The Red Cow).

In jenen Jahren hatten es selbst Legenden wie AC/DC oder Motörhead schwer, in Bars zu spielen und sich bekannt zu machen, sie wurden schlecht bezahlt, wurden wegen der Musik, die sie spielten, von Radiostationen boykottiert; und trotz dieser Schwierigkeiten nahm die Geschichte der Rockmusik und des Metal ihren Lauf. Besagte Bands veränderten alles. Allerdings kann man das nicht von Ritual behaupten. Das lag vor allem daran, dass sie keinen revolutionären Sound wie ihre übrigen Kollegen im Gepäck hatten. Aber das ist nicht alles. Irgendein Unglück schien über der band zu schweben, das nicht mit herkömmlichen Pannen zu beschreiben ist. Zum Beispiel wurde auf ihrem Debüt nicht mal das Bandlogo abgedruckt, weshalb man glaubte, die Band hieße so wie ihr Album: Widow. Erst zehn Jahre nach Ihrer Gründung lag ihre erste Scheibe vor. Und die entstand unter prekären Bedingungen, so dass sie einen recht miesen Sound aufweist. Das einzige Glück, das Ritual beschieden war, ist die Tatsache, dass sie zu einer Kultband wurden.

Aber 1983 war es bereits zu spät. Die NWOBHM hatte bereits zu viele definitive Juwelen vorgelegt; die Szene bestand aus Iron Maiden, die bereits vier Meisterwerke auf den Schultern hatte, ihre Bargenossen Motörhead eroberten die Welt, andere Bands wie Saxon brachten Heavy Metal ins Radio, Witchfinder General brachte Doom Metal wieder auf die Tagesordnung und Bands wie Diamond Head oder Angel Witch revolutionierten den Underground wie nur wenige andere, und waren außerdem sehr einflussreich für die Entwicklung des Heavy Metal und seiner zukünftigen Derivate. Man könnte stundenlang Bands aufzählen, die wesentlich mehr als Ritual zum Geschehen beisteuerten. Sie hatten im Grunde alles, um durchzustarten, aber gleichzeitig hatten sie nichts.

Rituals “Widow” ist zunächst schwer einzuordnen, denn es gibt keine Band, die so klingt. Am ehesten ist die Band noch in einer Reihe mit Pagan Altar oder Witchfinder General zu stellen, denn eines ist “Widow” auf alle Fälle: ein NWOBHM/Doom-Album. Gemeinsam haben die genannten Bands Themen wie Hexerei oder andere unheimliche Geschehnisse. Da enden die Gemeinsamkeit mit Pagan Altar oder Witchfinder General aber auch schon wieder.

Man darf aber eben nicht vergessen, dass es die Band bereits seit 1973 gab und es ist nicht sicher, ob sie bereits ein Jahrzehnt vorher so klangen. Was auch immer sie aufgehalten hat, sie kamen sehr spät auf die Bühne und einige Bands hatten bereits das gleiche mit durchaus guten Ergebnissen getan. Es wird für immer ein Geheimnis bleiben, ob sie nicht vielleicht doch die ersten waren, die so klangen.

“Widow” ist ein mysteriöses Album, das mit dunklen und kalten Doom-Vibes gespickt ist. Das Niveau der Songs bewegt sich von Anfang bis Ende auf dem gleichen Level, es scheint sich in seiner Melancholie zu vergraben, und es ist klar, dass man mit dieser Haltung keinen Ruhm erntet.

Was gerade besonders erwähnt werden muss, ist, wie unglaublich düster sich die Platte anfühlt; es ist selten, dass man eine Platte so kalt und beunruhigend findet. Die Band spielt mit einer gewissen zarten Zurückhaltung, um ein konstant düsteres Gefühl zu erreichen. Der Bass ist im Mix lauter als die Gitarre und der Bassist spielt oft diese langsamen, galoppierenden Linien, die sich die ganze Zeit an nur ein oder zwei Noten halten, während die Gitarre mit diesen ätherischen, unheimlichen Leads ihre Harmonien darüber webt. Der Sänger hat ebenfalls seinen eigenen Stil und ist am ehesten mit “Mike” von Full Moon zu vergleichen.

Das Tolle an diesem Album ist, wie es dieses eindringliche Gefühl so konsequent während der ganzen 35 Minuten beibehält. Es macht süchtig, je öfter man es auflegt.

Twisted Tower Dire – Wars in the Unknown

Man kann ohne Umschweife sagen, dass Twisted Tower Dire eine der wichtigsten Bands des US-Power Metal sind. Das liegt nicht alleine an ihrer hervorragenden Musik, sondern vor allem daran, dass sie da waren, als keiner mehr etwas von traditionellem Heavy Metal wissen wollte. 1995 gegründet, veröffentlichten sie 1999 ihr Debütalbum The Curse of Twisted Tower und blieben bis in die 2000er Jahre sehr aktiv. Sie starteten ihre Karriere also am absoluten Nullpunkt des Genres. Bis auf wenige Ausnahmen gab es kaum Aktivitäten in diese Richtung. Es war dunkel, und Twisted Tower Dire waren das Licht in dieser Dunkelheit und die Fackelträger des amerikanischen Power Metal, die dazu beitrugen, ihn überhaupt am Leben zu halten. Als Band haben sie eine lange und intensive Geschichte, gefüllt mit großen Anteilen an Erfolgen und Tragödien gleichermaßen. Seit acht Jahren hat man nun kaum mehr etwas von der Band gehört, aber die Wartezeit ist vorbei. Mit Wars of the Unknown kam Anfang des Jahres ihr sechstes Studioalbum heraus.

Der Sound der Band hat sich im Laufe der Zeit allmählich weiterentwickelt, und es ist hilfreich, diese Progression zu verstehen, um Wars in the Unknown in ihrer Diskographie richtig einordnen zu können. Im Jahre 1995 gab es als erstes Lebenszeichen das Hail Northern Virginia-Demo, das mit Tom Phillips, einem Gründungsmitglied von While Heaven Wept am Gesang, veröffentlicht wurde. Das demo ist dunkel, im mittleren Tempo gehalten, und episch. Und obwohl es ausgezeichnet klingt, deutet nichts auf die triumphierende, peppige Band, die Twisted Tower Dire irgendwann einmal sein würde, hin. Es folgten zwei Splits, bevor 1997 mit Triumphing True Metal das nächste Demo erschien. Hier haben wir das eigentümlichste Stück ihrer Geschichte vorliegen, da es stilistisch zwar nach Hail Northern Virginia klingt, aber mit Janet Rubin starke weibliche Vocals besitzt. Das war dann auch Rubins einzige Zusammenarbeit mit Twisted Tower Dire (oder einer anderen Metalband), und es ist ein kleiner Einblick in das, was möglicherweise hätte sein können. Aber Janet ging nach Deutschland, um ihre Karriere als Opernsängerin voranzutreiben.

Mit der Veröffentlichung des Debütalbums The Curse of Twisted Tower im Jahr 1999 entwickelten sie dann den Sound, für den sie bald bekannt sein würden. Hier hören wir zum ersten Mal den tragisch verstorbenen Tony Taylor mit seiner charakteristischen Stimme. Entsprechend passte sich der Sound der Band einer mehr riffzentrierten, rasanten US-Power Metal-Variante an. Starke und eingängige Refrains von Tony verströmten hier und da ein wenig europäisches Power Metal-Flair.

Mit Tony begannen Twisted Tower Dire wirklich auf den Punkt zu kommen und veröffentlichten etwa alle zwei Jahre ein starkes Album. Unter ihnen ist Crest of the Martyrs, das zu Recht als eines der besten modernen Power Metal-Alben gilt. Taylor war insgesamt auf vier Alben zu hören und verließ kurz nach den Aufnahmen der Netherworlds die Band.

Der Abgang von Tony Taylor bringt uns zum aktuellen Kapitel in der Geschichte des Twisted Towers. Taylor wurde durch den derzeitigen Sänger Jonny Aune ersetzt, der bereits auf dem Album Make it Dark von 2011 zu hören war. Dieses Album war zweifellos Twisted Tower Dire, aber es bewegte sich leicht in eine neue Richtung. Die Produktion war sauberer und moderner und Jonny brachte einen anderen Gesangsstil ein, wobei der Schwerpunkt noch mehr auf eingängigen Gesangsmelodien lag als vorher. Der naheliegendste Vergleich ist der mit Visigoth, den Helden der neuen Generation.

Und ab dem ersten Track “The Thundering” geht hervor, dass dieser Vergleich durchaus angebracht ist. Wars in the Unknown begrüßt uns sofort mit Gitarrenmelodien, Jonnys eingängiger Stimme, begleitet von Bandgesang und einem donnernden Bass.

Dies hält den größten Teil der Scheibe über auch an. Es sind jene Twisted Tower Dire, die wir kennen und lieben gelernt haben, und sie sind im bester Form. Die meiste Zeit über bekommen wir Songs, die im Up-Tempo vorgetragen werden, aber es gibt auch ausgezeichnete Mid-Tempo-Hymnen wie “A Howl in the Wind”, die dem Album etwas Abwechslung verleihen. Es ist ein wenig erstaunlich, dass im Wesentlichen jeder Track ein Paradebeispiel der hohen Energie und der bandeigenen Fähigkeit ist, eingängige Hooks zu schreiben. Es gab nicht wenige Kritiker, die skeptisch an dieses Album herangingen, weil es kaum jemand für möglich gehalten hatte, dass Twisted Tower Dire ihre Qualität über so viele Jahre der Stille aufrecht erhalten konnten. Spätestens nach dem ersten Hördurchlauf ist diese Skepsis jedoch zerstreut.

Wars in the Unknown ist kein genredefinierendes Album, wie es Crest of the Martyrs oder The Isle of Hydra sind, aber es ist eine kraftvolle Aussage über Belastbarkeit und Schlagkraft. Es ist eine bemerkenswert eingängige Platte mit vielen Ohrwurm-Riffs und ansteckenden Chören. Insgesamt ist dieses späte Karrierehighlight eine sehr willkommene Ergänzung zu dem hoch dekorierten und großartigen Katalog von Twisted Tower Dire. Nach acht Jahren virtueller Stille zeigt uns die Band, dass sie mit exzellenter Musik noch nicht ganz fertig sind, und darauf kann sie definitiv stolz sein.

Projekt Hypnos: Die geheimnisvollen Blütenstühle

Uns wurde Kunde von der Fähigkeit bestimmter Pflanzen, zu träumen, wie der Mensch es tut. Wir bezeugen dies für den Alant, der aus den Tränen der Helena entstanden ist und für das Gewitterkraut. Noch einmal müssen wir uns in den Bienenstock begeben, denn es dürfte klar erscheinen, dass wir noch einige Kammern ausgelassen haben, die ebenfalls beherbergt und gepflegt wurden, wie man es noch nirgendwo gehört. Die rätselhaften Dinge sind es, die uns auf Pfade führen, die das Leben als das große Mysterium des Schlafs offenbaren, umgeben von Wänden, bestehend aus einer nachgiebigen Substanz, wie Titanwurz in die Höhe reckend, aber von Fäulnisgeruch umgeben.

Die Wabengemächer im Bienenstock boten dem Betrachter einen Saal, dessen Wachswände wie feuchte, zusammengenähte Gesichter eine Kathedrale bildeten, die sich über Blütenstühle wölbte, deren Vorbild nirgends zu entdecken wäre, würde man es suchen. Auch hier gab es, wie wir es von den Brutzimmern des Stock bereits berichteten, eingelassene Wannen im Boden, in denen die Nachtflüssigkeit der dort lagernden Frauen gesammelt wurde. Diese Ströme des ruhenden Körpers jedoch wurden, anders wie die Nährflüssigkeit der Drohnen, für ein Elixier gebraucht, das den Ehemännern der Arbeiterinnen zur Verfügung stand. Zu ihrer Aufgabe der Zeugung gehörte nämlich das Kompostieren der klamm gewordenen Erde in den Talniederungen des Umlands. Die Gefahr für die schweigsamen Samenlasser war außerhalb des Bienenstocks gewaltig zu nennen, denn dort wurden sie weder von den Ratten noch von ihren Ehefrauen beschützt, sollte sich das sogenannte “unheimliche Zögern” nähern, das man nur durch sein Flirren erkennen konnte, wenn die Sonne einen niederen Puls schlug und gleichzeitig der Nebel günstig über den Äckern stand.

Im Folgenden eine Anmerkung: Das “unheimliche Zögern” wollen wir in unserem nächsten Bericht erst erwähnen, denn es enthält eine animalische und vegetative Besonderheit, die unserer jetzigen Absicht, die Blütensäle in Augenschein zu nehmen, zu sehr in eine visuelle Bedrängnis brächte.
Das Elixier wurde verabreicht, um den Drohnen eine stille Genugtuung zu gewährleisten, die in alter Zeit dem Alkohol vorbehalten war. Das Nachtsaftelixier gab es in verschiedenen Dosierungen, die auch “Geschwindigkeiten” genannt wurden; diese waren wichtig, um den Zeitausgleich der zerstörten linearen Funktion derselben zu gewährleisten. Die Arbeiterinnen hatten zu diesem Zweck ihre Blütenstühle; umflankt von Staub- und Kronblättern bildeten sie das Pistill, in dem sie lagen und unser Reich aufsuchten, so dass wir überhaupt auf sie aufmerksam wurden.

Jedoch können wir jetzt davon sprechen, dass es sich bei unserer Protagonistin, die den Saal betrat, um das gleiche lilienweiße Mädchen handelte (die wir Pasithea nennen wollen, weil sie in ihrer grazilen Gestalt meiner halluzinatorischen Gefährtin gleicht), das bereits in unserem ersten Bericht erschienen ist.

Es war bekannt, dass die Blütenstühle an Empfindlichkeit kaum zu überbieten waren. Nie durfte auch nur ein Ohm zu wenig oder zu viel des Wassers in die Töpfe sickern, nie durfte auch nur eine Kotule zu viel oder zu wenig Erde die satten Wurzeln bedecken.

Aber Pasithea sah mit Schrecken ein Häufchen Erde neben einem der Auffangbecken liegen und sprach die halbdämmernde Arbeiterin an: “Du hast die Erde verwühlt, du Unglückselige! Denkst du denn kein bisschen an deinen Mann?”

Die Enwor-Saga von Wolfgang Hohlbein

In den 80er Jahren haben einige sehr interessante Werke der Fantasy ihren Ursprung. Stephen King begann sein gewaltiges Epos Der dunkle Turm, Stephen R. Donaldson legte seinen Thomas Covenant vor. Und es gab noch andere, die heute zur Grundlage dieses Genres zählen, alles in allem aber war es ein Tasten im Dunkeln. Die meisten Autoren zeigten sich von Tolkien inspiriert, der wie ein Magnet alle Ideen an sich zu reißen schien. Deutsche Autoren waren ohnehin nicht auf dieser Landkarte verzeichnet. Einer von ihnen machte aber gleich in seiner Anfangsphase dann doch von sich reden: Wolfgang Hohlbein. Und scheinbar brauchte der Mann keine Anlaufzeit, denn mit dem ersten Buch seiner Enwor-Saga brach er nicht nur mit der Tradition Tolkiens, sondern demonstrierte auch gleich jene ungeheure Fabulierlust, die ihm nicht nur Lob einbrachte. Was wenige wissen: unbeobachtet von der internationalen Entwicklung war er einer der ersten, die mit Enwor einen Erzählton einführten, der heute als Grimdark Fantasy in aller Munde ist und von Meistern wie Steven Erikson, George R. R. Martin, Scott Lynch oder Joe Abercrombie zu voller Blüte gebracht wurde. Heute gilt es als selbstverständlich, Glen Cook und seine „Black Company“ – Romane als Vorläufer des Genres zu betrachten, die ebenfalls in den 80ern ihren Ursprung haben, aber Wolfgang Hohlbein war ein ganzes Jahr früher dran. Und das ist noch nicht alles: Enwor ist sogar besser. Das zeigt vor allem eins: die schlechte Anbindung deutschsprachiger Literatur an die internationale – und vornehmlich die englischsprachige phantastische Literatur – zu jener Zeit. Wolfgang Hohlbein hat, bescheiden wie er ist, auch niemals darauf hingewiesen. Wahrscheinlich weiß er es nicht einmal. 


Wenn es zum Thema Hohlbein kommt, wird man meistens auf eine geteilte Meinung treffen. Einerseits schreibt der Mann am Fließband und bedient so viele unterschiedliche Genres, dass man bereits von Massenfabrikware sprechen kann. Andererseits sind die Qualitätsschwankungen eben so gewaltig, dass sich von regelrechtem Abraum bis zum phantastischen Feuerwerk nahezu alles in seinem Werk wiederfindet. Hohlbein hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er zur reinen Unterhaltung schreibt. Wenn wir ehrlich sind, tut das jeder gute Schriftsteller, auch wenn einige das gar nicht gerne hören.

Hohlbein ist heute so erfolgreich, dass er hin und wieder – wenn ein Jubiläum oder grundsätzlich eine Neuauflage auf dem Programm steht – Hand an seine Klassiker legt, um entweder Fehler und Ungereimtheiten auszumerzen und sprachliche Patzer zu glätten. Das war der Fall bei seiner Hexer-Reihe, die ja im Groschenroman-Milieu entstand und zu seinen erfolgreichsten Outputs zählt, und ich bin mir sicher, das hat auch bei der vorliegenden Neuauflage der Saga bei Blanvalet stattgefunden. Vorwort oder Einführung gibt es nicht (anders wie beim “Hexer”).  Außerdem hat man wieder einmal die Gelegenheit verpasst, die vier zur Saga gehörenden Kurzgeschichten mitzuliefern, so dass auch diese Ausgabe am Ende nicht komplett sein wird. So bleibt dem Komplettlisten nichts anderes übrig, als nach “Das Vermächtnis der Feuervögel” (Piper) zu suchen, um die allererste Geschichte “Malicia” zu ergattern. “Vela, die Hexe”, “Der Tag vor Harmageddon” und “Der Tempel der Unsterblichkeit” finden sich in “Von Hexen und Drachen” (Bastei-Lübbe).

Bei dieser Neuausgabe aus dem Hause Blanvalet gibt es aber zur Abwechslung auch mal etwas Positives zu vermelden: wir bekommen eine farbige Gesamtsicht Enwors geliefert, und das ist in der heutigen Zeit ja nun auch nicht mehr Standard.

Lovecraft statt Tolkien

Jetzt sind wir schon beim Hauptpunkt angelangt: Ist der Hexer ganz offensichtlich von Lovecraft inspiriert, ist es Enwor nicht minder, wenn auch auf eine ganz andere Weise. Und diese Art und Weise ist so eindrucksvoll, dass Enwor bis heute die beste Fantasy-Serie ist, die aus deutschen Landen kommt. Ich beziehe mich hier allerdings auf die ersten zehn Bände, die ich mehrmals gelesen habe, während ich Buch 11 und alles andere bisher nicht angefasst habe. Ob es diesmal anders wird, kann ich noch nicht sagen, aber ich habe vor, die gesamte Neuauflage zu begleiten.

Was diese Serie so besonders macht, ist natürlich ihr Setting. Das erste Buch erschien 1983. Man kann sich denken, dass die Fantasy-Landschaft damals eine gänzlich andere war als heute. Horror war groß (heute findet er als starkes Genre so gut wie überhaupt nicht mehr statt), und Figurenzeichnungen wie in der modernen Fantasy üblich, gab es eigentlich nicht. Alles richtete sich nach Tolkien aus, er war so gesehen magnetisch Nord, auf fast jedem neuen Fantasybuch war zu lesen: “Der neue Tolkien” oder “In der Tradition Tolkiens”, und ähnliches. Enwor hat nichts mit Tolkien zu tun. Überhaupt nichts. Aber, wie bereits erwähnt, eben mit Lovecraft. Das mag nicht gleich ins Auge springen, denn Hohlbein entwarf hier mit seinem Freund Dieter Winkler eine eigenständige Welt und griffelte nicht am Lovecraft-Mythos herum, wie es heute schon fast üblich geworden ist. Die Idee zu Enwor hatten die beiden bereits seit ihrer Jugend, und während Hohlbein diese Welt an den nordamerikanischen Kontinent anpasste, entwarf Winkler die beiden Satai und ihr unzerstörbares Schwert Tschekal. Skar wurde nach seinen zahlreichen Narben benannt und Del ganz einfach nach der “Delete”-Taste der Computertastatur, schließlich sprechen wir von einer Zeit, in der diese Dinge noch faszinierten.

Es gibt keine Große Alten und keine fischköpfigen Rednecks, aber es gibt etwas ähnliches. Es gibt starke Reminiszenzen, und schließlich gibt es die Sternengeborenen. 

Interessanterweise macht Hohlbein im vormals EndWorld genannten Kosmos das, was Stephen King später mit seinem Dunklen Turm machen sollte (auch wenn man beide Welten nun wirklich nicht miteinander vergleichen kann); er verlässt unsere Erde nicht, um sein Setting zu entfalten, sondern setzt seine Abenteuer in die Zukunft, direkt in eine Zeit hinein, da es unsere Zivilisation schon seit vielen Zehntausend Jahren nicht mehr gibt. Aber das war nicht das einzige Innovative.

Heute spricht man gerne von Grimdark, wenn es sich um eine Geschichte handelt, die ein gewissen Maß an “Realismus” in sich birgt. Mit diesem Realismus ist keineswegs ein Mangel an Fantasie gemeint (ich glaube, wir können uns darauf einigen, dass es Hohlbein daran garantiert nicht mangelt), sondern vor allem das Beiseitelegen eines schwarzweiß-Denkens. Das war zumindest in Deutschland 1983, als “Der wandernde Wald” erschien, ein Novum. Die Gewaltdarstellungen sind hier brutal und detailliert. Zwar wird Hohlbein bei der Entwicklung der Grimdark-Fantasy nicht erwähnt, aber er war durchaus der erste, der etwas Neues versuchte. Und diese Welt, die er gemeinsam mit seinem Freund entwarf, war für damalige Verhältnisse definitiv das Ding der Stunde. Ich selbst bekam Enwor erst zehn Jahre später in die Finger und es war die erste Fantasy-Saga, die ich (nach dem Herrn der Ringe) überhaupt gelesen hatte. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: ich las alle zehn Bücher innerhalb eines Monats. Etwas Vergleichbares war mir zu diesem Zeitpunkt nur mit Stephen King passiert.

Der wandernde Wald

Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass Enwor ein ganzer Zyklus werden würde, und so ist Buch 1 für all jene geeignet, die einfach mal in diese Welt hineinschnuppern wollen. Ohne gleich das ganze Werk zu lesen. Der wandernde Wald funktioniert nämlich als eigenständige Geschichte, die keine weiteren Erkenntnisse benötigt oder am Ende mit einem saftigen Cliffhanger aufwartet.

Dennoch sind hier alle Zutaten vorhanden: Die beiden Satai Skar und Del, die einer sehr interessanten Kriegerkaste angehören, laufen eigentlich immer im roten Bereich. Dass wir sie hier als Freunde kennen lernen, macht die spätere Entwicklung um so tragischer. Hohlbein hat das Spannungsfeld dieser beiden Krieger so aufgebaut, dass es einen wichtigen roten Faden durch den ganzen Zyklus zieht. Skar selbst ist eine Blaupause für Logen Neunfinger aus Abercrombies Klingen-Trilogie. Hätte Hohlbein sein Werk heutzutage verfasst, würde das vermutlich ganz genau so gesehen werden – nur umgekehrt. Ein Krieger, der über die Möglichkeiten seines Körpers zu gehen gelernt hat und der im Kampf von einem Furor erfasst wird, den er gar nicht mehr kontrollieren kann.

Projekt Hypnos: Der Bienenstock

[… und ich sause hinab in den tiefen Schlaf, mein Blut, mein Regenbogen-Streben; ich erkenne all die bunten Horte dort – und bin doch nicht weniger als finst’re Nacht, aus Nacht geboren, gezeugt von Finsternis …]

Früher hatte man die Gegend, in der nun der Bienenstock stand, den Venusberg genannt. Dorthin flüchtete sich nämlich die Göttin einst vor dem Christentum, wurde von Hulda versteckt und hielt dort gemeinsam mit Nymphen und Nixen ihren legendären Hof, von dem lange nichts mehr bekannt geworden ist. Die Menschenzeit hat alle Schönheit aus der Welt hinfort getupft, und so tauchte über die Jahre das Volk der Ratten in die unterirdischen Verbindungsgänge und fand sich wohl im Unterbewusstsein der Erde. Und in dieser chtonischen Welt gediehen sie manniglich und unbeeindruckt von den Geschehnissen des Tages, die nicht anders als Verheerend genannt werden dürfen. (Sollte sich je ein Schreiber finden, der davon noch Erinnerungen hat, so möge er die Götter überraschen und die Schrift neu ersinnen, denn die wenigen Menschen, die ihre eigene Katastrophe überlebt hatten, kamen – aus anderen Gründen als dazumal die Kelten – gänzlich ohne sie aus.)

Mellonia, die Göttin, die einst Zeus vor seinem Vater Cronos rettete und ihn mit der Milch der Ziegengöttin nährte, mag hier niemals erinnert gewesen sein unter den Frauen, die im Bienenstock lebten und dort all ihre weiblichen Fertigkeiten anwandten, von der Fütterung der Säuglinge angefangen, die sie als Gemeingut betrachteten, über die Säuberung der Waben, dem Nähren der Drohnen bis hin zu der Empfängnis, die man auch hier wie in alter Zeit die Hochzeit nannte.

Die Ratten gaben sich dem Kellergewölbe hin und profitierten von den Frauen, die nichts von ihrer Vergangenheit wussten, durch eine Merkwürdigkeit, die dem überlebenden Matriarchat zu Buche stand. Deren Säuglinge nämlich sonderten eine Flüssigkeit ab, eine erste Milch, die aus dem Überschuss der Ammentätigkeit bestand. So wurde in die Menschenkinder so viel Lebensflüssigkeit hinein gespendet, dass diese die – nun so genannte – Rattenmilch aus jener Öffnung, die auf der linken Seite ihres Abdomens zu finden war, wieder ausschieden. Im Laufe der rättischen Evolution: Schlitzrüssler, Spitzmäuse, die vom Rattenvolk in einer Endschlacht auf den Karibischen Inseln besiegt wurden, näherten sie sich dem Menschen durch ihren gemeinsamen Vorfahren, Juramaia sinensis, wieder an, denn während die Krone der Schöpfung weiter und weiter degenerierte, gelang es dem Rattenvolk, den umgekehrten Weg zu gehen, so dass sie den wenigen Überlebenden dieser verwandten Spezies in nichts mehr nachstehen mussten.

Es gab in diesem geordneten Gefüge einen Betrieb, der sich in allen Punkten den Belangen des Bienenstocks unterwarf, wie es der Instinkt der Melipona vorsah, der eigentlich nicht auf den Menschen übertragen werden konnte, denn ein Instinkt wurde sich noch niemals abgeschaut. So mag es sein, dass von einem Matriarchat dieser Ausprägung auf ein anderes geschlossen werden kann – aber das hieße, die Logik zu bemühen, die schon bei den überkommenen Menschen ein hilfloses Unterfangen darstellte, von dem aus sie vielleicht begannen, sich aufzulösen, denn die Ratio ist dem Traume eine Schande – und die Natur neigte schon immer dazu, ihre eigene Schande in Fossilien zu verwandeln.

Die Arbeiterinnen des Baus bildeten fast regelmäßige wächserne Zellenkuchen mit zylindrischen Zellen aneinander, worin die Jungen gepflegt wurden. In eine dieser Zellen entschwand alsbald, nach getaner Arbeit im Hauptsaal, die Kollegin unserer jetzt erst zur Sprache kommenden Protagonistin. Es wird nur ein schwaches Licht benötigt, ihre Form aus dem Schlaf zu schälen, der allgegenwärtig ist (ich selbst habe die Hoheit meiner Schwingen nie als Last empfunden). Die Drohnen, männliche Säuglinge, benötigen eine andere Pflege als die fleißigen Arbeiterinnen; sie werden gefüttert und gehegt, denn außer zur Zeugung sind sie in dieser neuen Welt von keinerlei Nutzen, außer: die Ratten mit zu ernähren, wozu besagtes Loch im Körper dient. Und nun bemerkt die Amme, die sich zu einer dieser Drohnen legt, das nahe Versiegen des Nährflusses, der gewöhnlich über das Bett hinunter zu Boden läuft, um in einer eingelassenen Schale zu entschwinden, die durch zeitgetaktete Rohrmünder gestaut und regelmäßig in den Keller hinab geführt wird. Wohl ist sie erschöpft, wohl nicht Willens, der Jüngeren ihren Dienst zu übergeben, ohne sie genötigt zu haben, das Büblein zu bemilchen. Doch, hören wir recht? Diese lehnt es ab.

So ist es unter Bienen nie üblich gewesen, zu streiten, denn das Chaos wäre die Folge, wenn nicht jede Arbeiterin ganz genau wüsste, was in jeder Situation zu tun ist. Doch vergessen wir nicht, dass es sich bei unserer Betrachtung um Menschenreste handelt, die wohl auch nach der finalen Katastrophe nur eine kleine Abschwächung erfuhren. So blieb es bei Forderung und Zurückweisung – wir werden nie erfahren (nein, auch wir Götter nicht) – warum sich manche Pflichten derangieren lassen; denn zum einen lag das Hin und Her in der konstanten Waage wie unsere geliebte Straße von Kertsch, zum anderen öffnete sich die Wabentüre und eine andere Arbeiterin trat hinzu, ging an den Pflicht-Ringenden vorbei und steuerte auf das eingelassene Fenster zu, das sie sperrangelweit öffnete, bevor sie sich umdrehte, um dem bereits ins Stocken geratenen Gespräch eine gänzlich neue Wendung zu geben. Sie nämlich führte ein junges Rattenkind in ihren Armen, hievte es allein mit der Gewalt in ihren Fingern über den Sims und ließ es über dem nun für das Geschöpf zu tage tretenden Abgrund baumeln. Dabei sprach sie die einzigen Worte, die wir in dieser Abhandlung hören werden: “Wenn ich das Tier jetzt einfach fallen ließe, dann würde sich kein Mensch darum scheren.”

Traum ohne Möbel

Traum: Ich in einem Raum ohne Möbel, außer dem Tisch, an dem ich sitze. Mir gegenüber ein Mann, der eine Zeitung studiert. Er ist mir fremd und wartet auf den Bus (oder auf den Zug). Derweil sind zwei Handwerker mit der Tapete beschäftigt. Sie schneiden Steckdosen und Lichtschalter aus. Sie ist weiß und augenscheinlich aus uralten Tagen, schwer mit einem stilisierten, leicht glänzenden Muster.

Nach vier Tagen mit interessanten Symptomen, die meine Stimme etwas in Mitleidenschaft zogen, geht es mir heute wieder etwas besser. Ich bin recht gut durch diese apokalyptische Stimmung gekommen, aber natürlich wird diese so schnell nicht enden. Es wäre aber falsch zu behaupten, die Misere, die sich seit einem Jahr zeigt, hätte mir gar nichts ausgemacht, schließlich muss ich doch dann und wann das Haus verlassen, um etwas einzukaufen. Ich kann mir nicht alles schicken lassen. Mir war der Kontakt mit vielen Menschen schon vor der Pandemie ein Graus, doch mittlerweile ist es schierer Ekel. Natürlich lege ich meine Einkäufe in die früheste mögliche Stunde, aber man kommt nie ganz davon. Ich wünschte mir eine eigene Infrastruktur für Hochsensible.

Der verführerische Fremde in dunklen Gassen: H. P. Lovecrafts “Er”

Heute sehen wir uns die Story “ER” etwas genauer an. Sie wurde im August 1925 geschrieben und im September 1926 im Weird Tales Magazine veröffentlicht.

“Statt der Gedichte, die ich mir erhofft hatte, kam nur schauderhafte Leere und unbeschreibliche Einsamkeit; letztendlich erkannte ich eine furchtbare Wahrheit, von der noch nie jemand gewagt hatte, sie auszusprechen – das nicht flüsterbare Geheimnis der Geheimnisse – die Tatsache, dass diese Stadt aus Stein und Atemrasseln keine empfindungsfähige Fortführung des alten New York ist, so wie London diejenige des alten London und Paris die des alten Paris, sondern dass sie in der Tat ganz tot ist, ihr weitläufiger Leichnam unvollkommen einbalsamiert und infiziert mit sonderbar belebten Dingen, die nichts mit ihm zu tun haben, wie er einst im Leben war. Nach dieser Entdeckung konnte ich nicht mehr ruhig schlafen.” (Übers. Perkampus)

Der nächtliche Wanderer

Unser Erzähler, ein aufstrebender Dichter, wandert durch die nächtlichen Straßen New Yorks, um “seine Seele und seine Träume” zu retten. Der Anblick des ersten Sonnenuntergangs, den er dort erlebt, begeistert ihn, denn die Stadt schien “majestätisch über den Gewässern der Stadt aufzuragen, seine unglaublichen Erhebungen und Pyramiden stiegen blumengleich und zart aus einem Verbund violetten Nebels.” (Übers. Nymphenbad).

Doch bei Tageslicht trifft ihn das ernüchternde Elend. Die Menschenmassen erscheinen ihm als gedrungene und dunkelhäutige Fremde. Die fürchterliche Wahrheit, das nicht einmal geflüsterte Geheimnis ist, dass New York tot ist, ein Leichnam, infiziert mit “sonderbar belebten Dingen”. Nichts blieb von seinem ehemaligen Ruhm zurück.

Lovecraft

Von nun an wagt sich der Erzähler nur noch nach Einbruch der Dunkelheit heraus, wenn “die Vergangenheit noch wie eine Geistererscheinung über allem schwebt”. Er besucht hauptsächlich die Greenwich-Bereiche, worüber er Gerüchte hörte, dass die Höfe dort einst ein weitverzweigtes Netzwerk aus Gassen verband. Hier existieren noch Reste aus der Georgianischen Ära: an den Türen finden sich Türklopfer, Stufen sind mit Eisen versehen und sanft glühen die Oberlichter. An einem bewölkten Morgen im August, um 2 Uhr, nähert sich ihm ein Mann. Der ältere Fremde trägt einen Hut mit einer breiten Krempe und einen aus der Mode gekommenen Mantel. Seine Stimme ist dumpf – immer ein schlechtes Zeichen – sein Gesicht erschreckend weiß und ausdruckslos. Trotzdem vermittelt er einen vornehmen Eindruck. Der Erzähler akzeptiert sein Angebot, sich von ihm in Regionen von noch wesentlich höherem Alter einführen zu lassen.

Sie durchqueren Korridore, klettern über Backsteinmauern, kriechen sogar durch einen langen, gewundenen Steintunnel. Immer älter wird die Umgebung, es ist sowohl eine räumliche- als auch eine Zeitreise. Ein steiler Hügel, ungewöhnlich für diesen Teil New Yorks, führt zu einem ummauerten Anwesen, offenbar das Heim des Fremden.

Unbeeindruckt vom Muff der Jahrhunderte folgt der Erzähler dem Fremden nach oben zu einer gut ausgestatteten Bibliothek. Von Mantel und Hut befreit, zeigt sich der Fremde in einem Georgianischen Kostüm, und seine Ausdrucksweise fällt in den passenden archaischen Dialekt. Er erzählt die Geschichte seines Vorfahren, eines Gutsherren mit eigenartigen Vorstellungen über die Macht des menschlichen Willens und über die Veränderlichkeit von Zeit und Raum. Er entdeckt den Platz, wo er sein Haus erbauen möchte – mitten in einem Zentrum indianischer Riten; die Wände hielten die Indianer nicht davon ab, ihre Zeremonien weiterhin auszuführen, immer, wenn der Vollmond zu sehen war. Schließlich trifft er ein Abkommen – die Indianer bekommen Zugang zum Hügel, wenn sie ihn in ihre Magie einführten. Sobald er jedoch eingeweiht war, muss er seinen Gästen “schlechten Rum” verabreicht haben, denn er war plötzlich die einzige lebende Person, die das Geheimnis kannte.

Es ist das erste Mal, dass der Fremde einem Außenstehenden von diesen Riten erzählt, weil er den Erzähler für “verrückt nach vergangenen Dingen” hält. Die Welt, fährt er fort, ist nur der Rauch, den unser Verstand erschafft, und er will dem Erzähler einen Blick auf längst vergangene Jahre gewähren, solange er seine Angst zurückhalten kann. Mit eisigen Fingern zieht der Fremde den Erzähler zu einem Fenster. Eine Handbewegung zaubert New York zurück in ein Zeitalter, als die Stadt noch Wildnis war. Dann beschwört er das koloniale New York. Der Erzähler fragt den Fremden, ob er es wagen würde, noch weiter zu gehen, und der Fremde zaubert den Anblick einer künftigen Stadt, in der seltsame Flugobjekte umher schwirren, gottlose Pyramiden und “gelbe, schielende Menschen” in orangenen oder auch roten Roben, die im Wahnsinn zu Trommeln, Hörnern und Krotalons tanzen.
Zu viel für den Erzähler: er beginnt zu schreien. Als nächstes hört man Schritte auf der Treppe, als ob sich eine Horde barfuß nähere. Es wird an der Tür gerüttelt. Erschrocken und wütend nennt der Fremde sie “die Toten”, die “Roten Teufel”. Er klammert sich an die Vorhänge des Fensters, reißt sie herunter und lässt das Mondlicht ins Zimmer fluten. Zerfall erstreckt sich über die Bibliothek und den Fremden gleichermaßen. Er schrumpft zusammen, während er noch versucht, mit seinen Klauen nach dem Erzähler zu greifen. Bis ein Tomahawk die Tür in Stücke reißt, ist von dem Fremden nicht mehr übrig als ein knisternder Kopf mit Augen.

Was da durch die Tür kommt, ist eine amorphe Masse, in der leuchtende Augen zu erkennen sind. Sie schluckt den Kopf des fremden und zieht sich zurück, ohne den Erzähler zu behelligen. Unter ihm gibt der Fußboden nach und er stürzt in Richtung Keller. Irgendwie gelingt es ihm, nach draußen zu gelangen, wird aber verletzt, als er versucht, die Mauer, die um das Anwesen führt, zu überwinden.
Der Mann, der ihn findet, sagt aus, der Erzähler muss trotz seiner gebrochenen Knochen einen langen Weg gekrochen sein, aber der Regen hat seine Blutspur verwischt, so dass man nicht mehr sagen kann, wie weit. Niemals wieder versucht der Erzähler, den Weg zurück in dieses dunkle, von der Vergangenheit heimgesuchte Labyrinth zu finden. Er kehr nach New England zurück, zu unverfälschten Wegen, über die am Abend der duftende Meerwind fegt.

Info:Lovecraft benutzt die Traum-Metapher in vielen seiner Erzählungen, andere wiederum muten selbst wie ein Traum an. ER ist eine von ihnen, scheint aber das Produkt eines Wachtraumes gewesen zu sein. Im August 1925 unternahm Lovecraft einen Spaziergang durch die Nacht der New Yorker Straßen, um das, was von der Vergangenheit noch “gespenstergleich” vorhanden zu sein schien, auszukosten. Es endete damit, dass er eine Fähre nach Elizabeth, New Jersey nahm, sich ein Notizbuch kaufte und die Geschichte niederschrieb.

Der Fremde in der Welt

Der erste Absatz liest sich wie eine überreizte Autobiographie, ein Aufschrei des Herzens aus Einsamkeit, Enttäuschung und Entfremdung. Die Romanze des Erzählers mit New York währte nur kurz.

Hier war Lovecraft ein Fremder in einem fremden Land. Als frisch gebackener Ehemann befindet er sich ebenfalls auf unbekanntem Gebiet. Außerdem gelingt es ihm nicht, seine Finanzen so zu organisieren, dass er ein vernünftiges Auskommen hat. All das, was er sich vorgenommen hatte und wovon er träumte, fand keine Umsetzung. Er ist nicht in der Lage, die verschiedenen Dialekte zu verstehen. Deshalb schrieb er “ER”, deshalb schrieb er “RED HOOK”, deshalb schrieb er “KÜHLE LUFT”. Lärm! Menschenmassen! Gestank! Ausländer, die in fremden Zungen sprechen! Und sie haben keine blauen Augen! Aber das trifft ebenso auf viele Angelsachsen zu. Selbst in New England. Aber zumindest sprechen sie Englisch.

Lovecraft war ein klassischer Angst-Patient, die Zeit, in der er lebte, war nicht die seine. Aber er wusste, dass es noch immer Bereiche gab, die das Flair des Alten an sich hatten.

Unzusammenhängende Innenhöfe, ein Labyrinth der Straßen, die in eine andere Zeit hinein führen, wie in PICKMAN’S MODEL. Ein unglaublich steiler Hügel, der zu überwinden ist, wie in DIE MUSIK DES ERICH ZANN. Ein Führer, der einen archaischen Dialekt spricht – es ist immer noch Englisch und somit vertraut. Die geisterhafte Stadt und selbst das Herrenhaus beruhigt durch sein fest in der eigenen Kultur verwurzeltes Gewese. Es ist egal, dass es dort ein wenig – verrottet müffelt.

Und dennoch – Vertrautheit ist nicht alles. Die Realität selbst ist sinnentleert und schrecklich, oder etwa nicht? Wunder und Geheimnisse sind kraftvolle Verlockungen für den poetischen Geist. Es ist gar nicht so übel, ein unbewohntes New York der Vergangenheit zu imaginieren. Es ist sogar wundervoll, einen Blick auf die koloniale Vergangenheit zu werfen. Wenn der Erzähler nur damit zufrieden gewesen wäre! Doch der wünscht sich eine Vorschau auf die ferne Zukunft, die sich als sein schlimmster Alptraum entpuppt: New York wurde von gelben, schielenden Menschen übernommen, die zu einer seltsamen Musik tanzen. Wie die Männer von Leng! Wie die geistlosen Äußeren Götter! Lovecraft, so scheint es, hatte nicht viel für den Tanz übrig.

Cornelius liegt wach

Wild kam der Mond um die Ecke gerudert, eine farbige Wolkenbank dazu nutzend, nicht in die schattigen Giebel der Häuser zu donnern. Er war eindeutig zu schnell, das Himmelzelt glatt um diese Zeit. Dann aber fing er sich, zunächst in den Ästen der alten Ulme, die, unsichtbar, weil unter der Erde, mit ihrem Wurzelwerk den Fluss vorwärts trieb, und trat dann, Halt gefunden habend, seinen abendlichen Dienst an. Der gute Nachtwächter, ein verlässlicher Kumpan der leeren Räume da oben, entdeckt so manch frivoles Geschehen, aber er schweigt als Lampe und als Geheimnisträger. Cornelius dient er als Grund dafür, wach zu liegen.

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