Kult!

Monat: Juni 2021 (Seite 1 von 2)

Dissonanz und Horror

Humorvoll, das ist der einzig ehrliche Weg, um eine traurige Geschichte zu erzählen.“

―Jonathan Safran Foer

Je länger und aufmerksamer wir auf eine lustige Geschichte blicken, desto trauriger stimmt sie uns.“

―Nikolai Gogol

Vor einigen Jahren besuchte ich in Toronto einige Lesungen. Eine der interessantesten Phänomene, die ich dort beobachten konnte, war, dass immer dann, wenn jemand, der zu lesen begann, vorher erklärte, dass es sich dabei um eine Horrorgeschichte handelt, sich der Effekt unmittelbar zeigte: die Zuhörer gingen in die Abwehrhaltung, sie verschränkten ihre Arme, lehnten sich auf ihren Stühlen zurück, begannen die Stirn zu runzeln. Nun waren viele der Zuhörer selbst Autoren von Horrorgeschichten, also war das kein Zeichen von gänzlichem Missfallen gegenüber diesem Genre, wie man vielleicht vermuten könnte. Die Hörer schützten sich selbst. Ihre unmittelbare, einheitliche Reaktion war, sich emotional von der Geschichte zu distanzieren. Niemand von ihnen wollte sich fürchten.

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Im Atelier

Es gab Menschen, die mir begegnet sind, ich sprach mit manchen von ihnen, ich berührte sie, ich stieg auf einen Berg und betrachtete ihre Häuser, lebte selbst in einem Haus, in einem Zimmer, lag auf einem Bett. Die getäfelten Türen, Häuserfronten, die geweißten Balkone; verzierten Erker schimmerten in einer düsteren Lieblichkeit. Dann und wann tat sich eine Plaza auf, mit schwarzen Säulen, Kolonnaden und den Statuen wunderlicher, menschlicher wie fabulöser Wesen, manche der Ausblicke auf lange, schnurgerade Straßen, in Nebengässchen hinein, oder über Spitztürme mit arabeskenverzierten Dächern hinweg, waren über alle Beschreibungen unirdisch schön. Leute durchstreiften die geziegelten Pfade, kleine Sträßchen, die von grotesken Termen und den Schreinen einfacher Götter gesäumt waren, dort schillerten Fontänen, Teiche und Bassins, in denen sich Flammenzungen auf Bleifüßen und den Hochbalkonen spiegelten, sie beherbergten kleine goldene Fische. Wenn der tiefe Klang vom Glockenturm des Tempels über den Garten, die Stadt zittert, treten aus den sieben Toren lange Reihen schwarz gekleideter, maskierter, kapuzenverhüllter Priester, die mit ausgestreckten Armen große goldene Becken vor sich hertragen, denen ein merkwürdiger Rausch entsteigt, alles nur Erinnerung der Lande, nicht einmal meine eigene, denn ich kenne keine Zeit, ich durchstreife den Dunst des Gestern, bespreche mich mit Gespenstern, gleichzeitig sind meine Erfindungen den Gestalten der Vergangenheit gleich, sie unterscheiden sich nicht in ihrem Tun und Denken, sie sind so wahr, so unwahr.

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Schlanker Versucher Wind

Freitags hingen die latenzperiodischen Kinder vor dem Schloss herum, in dem nun Leere herrschte, die Türen offenstanden. Burkhard enterte das Eckzimmer mit einem Radiogerät. Dort stand noch der Nierensessel, in dem Johanna jahrelang einen übergroßen Pullover strickte, verloren in der Mitte. Die ehemalige Zauberin war in diesem Sessel gestorben, und wie bei einer Leiche das Horn weiter wuchert, nahm sie noch die letzten Maschen auf, da war sie bereits tot. Burkhard kümmerte sich nicht darum, öffnete die beiden Flügel des Fensters und stellte das Radio auf der Fensterbank ab. Bald darauf plärrten die Schlager der Woche nach allen Seiten hinweg. Vielleicht waren sie am Nachmittag wieder im Heuschober gewesen, das ist schwer zu sagen, sie hinterlassen wirklich kaum Spuren, und wenn nicht gerade zu hören ist, wie sie jellen und kehlen – der Raum verschluckt nicht nur die Stille – weiß man kaum, dass es sie gibt.

Wir kletterten freitags zu deinem Badefenster hoch, Mull of Kintyre, ich erkannte dich nicht durch die verschleierte Scheibe, aber ich ahnte dich stets in deinen Kleidern, machtest den Augen das Wasser schaumfrei, stelltest dich hin mit deiner Seife in der Hand. Dunkles Gewölk hinterm Schleier. Du warst nicht meine Inanna und Emma war nicht meine Inanna, aber sie war die erste, die meine Federn zählte, die mir Kamillentee brachte, als ich in die Badewanne spie, fiebrig wie ein Destillierkolben. Den großen Unbekannten erwartete sie, in Dorn glaubte sie ihn gefunden. Nicht ich war es, dem sie näher Schwester war. Und trotzdem trug sie eifersüchtige Züge in ihrem Gesicht, wenn sie davon hörte, von diesem Ritual am Freitag, an Claudias Badetag. Das Klavier taktet ein Jubilee zwischen den Hämmern hervor, der Klang erschafft sich Räume, begehbar, sauber gekehrt, aber verfänglich. Wenn Carisma von dem Wolf und den sieben Geißlein erzählte, brannte Adam darauf, sie zu fragen, woumallesinderwelt dieser Uhrenkasten steht, wovon redet seine Großmutter da? Hielt den Uhrenkasten dann für einen schönen Kirschholzschrank in der Wohnstube, der nach Leinöl riecht, wenn man ihn öffnet. Die schönen Sachen sind dort verstaut. Das wird dem Wolf (dem Groenendael) den Geruchssinn kosten. Nie benutztes Service kostet die Speise, die abgelegten Bilder kosten das Herz.

»Du siehst nicht gut aus, möchtest du dich nicht hinlegen?«

Emma kommt, nachdem Adam sie angerufen hat. Er hat sonst niemanden, er hat keine Ahnung davon, dass sie alle über ihn sprechen, vom Verrecken eingeholt, dass sie sagen : Den hat es aber schlimm erwischt. Der sitzt jetzt allein da in seinen fünf Zimmern.

»Bring mir noch den Stein, von dem ich träumte, Wegweiser nach der Wüste hin!«

Emma nimmt nicht wahr, was er da faselt, ausgespuckt ein Zwiegespräch, schwimmt mit einer schäumenden Geste über das Spiegelbild, erinnert sich an den Teich.

Zweiundzwanzig Uhr.

Manch Stundenschlag meint Gegenwart. Unter die Chaiselongue gekrochen, Staub geatmet, die bessere Zeit. Hier zeigt sich, dass sie eben nicht vergeht.

In die Schule kommen. Knöchern die Masquerade anziehen.

Ein Bild: Wie sie da stehen, ein Bild von einem Bruder, den die Linse ernster nimmt als mich. Noch keine Magenentzündung wegen der Zigarettenfresserei, die duftenden Gifte.

Der Zug rast hinter den alten Hütten vorbei, Bewegung kommt ins Leben, wir werfen Steine nach der flüchtenden Kuh.

»Es gibt schlimmere Dinge als die Wölfe im Winter!«

Murmelt nur, erbricht sich erneut, aber jetzt hängt sein nackter Arsch dazu über dem Badewannenrand.

Zweiundzwanzig Uhr zweiundzwanzig.

Die böhmischen Grenzposten an der Eger, wo sie als Grenze herumalbert und eigentlich schön ist, sehr glatt, von Bisamratten durchschwommen wird, wo die Mädchen sich Kleider nähen, um sie ausziehen zu können, der angefrorene Urin die Ritzen verfestigt, wo der Staub unter der Chaiselongue Zweiundzwanzig Uhr zweiundzwanzig eines bestimmten Tages bedeutet, Carisma oben drüber einschläft, das Fernsehprogramm zur Musik von Donna Summer eine Rakete in den Himmel schießt, Wolken vor ihrem Mund, Science Fiction, die Sonne auch im Schlaf nicht zu sehen (wenn es je eine Sonne gab). Yul Brynner läuft durch einen hypermodernen und tödlichen Freizeitpark, in der nächsten Woche wächst Tarantula ins Unermessliche.

Gegenwartsgewürm

Wo die Magie des Wortes nur das Moos beeindruckt, den Firn der völligen Verwesung, werde ich immer neue Blätter zu beschreiben wissen, und ignoriere das Gegenwartsgewürm, das mir nachstellt, um Hauer in mich zu schlagen, die vor Eiter triefen. Es muss da noch was Lebendiges geben, ohne versteinerter Zunge, ein säftewallendes Leben, begehrend und begehrt wie eine Frühlingsnacht, herzfassend, wie zur kalten Stund’ gewärmtes Bettenzeuch, nicht jene, die sich um Automatensprüche finden: stählern, synthetisch, verratzt, verseucht vom trögen Hingeschnodder, aufgewalzt und breitgehaun. Und ich gehe und bin der Quelle nicht mehr treulich, bei der nicht eine Undine wacht; und gehe und bin den Bergen nicht mehr treulich, in denen sich keine Querkel niedergelassen; und gehe und bin den Bäumen nicht mehr treulich, die keine hundert Jahr gestanden.

Die Fliegenpilzin

Anders als ein Pfad ist die Straße stets nur eine Schneise und führt in die Städte, die sich wie ein Geschwür auf dem Fleisch des Landes ausbreiten, hinein oder aus ihnen heraus. Der Pfad hingegen kreuzt geheimnisvolle Orte, so dass man irgendwann das Gefühl hat, angekommen zu sein, auch wenn man mitten im Nirgendwo steht, ein Teil der Vollkommenheit wird, die nur aus Nichts bestehen kann.

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Staffellauf der Abendlichter

Der rote Faden ist das Getrieben-Sein oder eine Reise durch die inneren Galaxien, die Gewässer unterscheiden sich, die Größe des Stroms, der alle mitreißt, variiert, je nachdem. Meine Reise um die Welt, die Reise hinaus, hinein. Würde sich jemand eine Landkarte nach allen Kriterien der mappae mundi anfertigen, würden ihm die Augen übergehen, er würde dann verstehen, warum man niemals an einem Ort verweilen kann.

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An einem weinroten Tag

Esrabella Gräf hätte erklären können, warum ausgerechnet hier die Zeit einen Tunnel durch das Granit brach, um Ereignisse zuzulassen, die weit weg von einer modernen Welt angesiedelt waren. Man befand sich bereits in den 70ern, der Mond war längst erobert und in des Menschen Hand, Hawlett Packard stellte einen programmierbaren Taschenrechner her, und nicht zuletzt konnte man sich endlich vernünftige Spannbettlaken zulegen, ohne sich vier Knotenknödel unter die Matratze schieben zu müssen. Und trotzdem …

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Das süße Gift der Adoleszenz (2)

In diesem Frühjahr stach das süße Gift der Adoleszenz zum ersten Mal in Adams Lenden. Sicher lag es an dieser besonderen Jahreszeit mit ihren neugeborenen Düften und ihrer überbordenden Schönheit. Das funkelnde Perlenspiel der Sonne mit dem fortspringenden Wasser, Erwachen der gewaltigen Natur. Und er stand ja bereits auf der Warteliste, schielte die Mädchen seiner Klasse an, als brüteten sie ein Geheimnis aus – was sie auch taten – und lud mit der Abfolge ihrer Bewegungen, dem glockenhellen Lachen oder auch nur mit einer momentanen und unbedarften Geste seine Träume auf, die ihn bei nicht mehr vollem Bewusstsein, jedoch noch nicht im Schlaf, überfielen, die dennoch irgendwo aus ihm selbst zu kommen schienen, aus seinem Bauch möglicherweise (er spürte da einen dunklen Nebel auf, noch nicht in Sichtweite; aber er wagte es dennoch nicht, dorthin zu gehen, um sich zu vergewissern, was denn dahinter verborgen lag, ob der Nebel vielleicht nur ein Schleier sei, ein Tuch.). Verantwortlich aber war sein Kopf, der diese Bilder langanhaltend zu speichern vermochte und in ständigen Permutationen wiedergab.

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Das süße Gift der Adoleszenz (1)

Die nodöse Krätze, die uns am Leben schabt, hat nur das dauernde Zucken der Glieder, eines dem anderen zu Hilfe eilend, um es erfolglos zu berühren, im Sinn, und hat gewonnen, wenn der so Befallene sich schon im Angesicht des Irrsinns das Fleisch unter die Fingernägel gräbt. Da sind die schauerlichen Erscheinungen der verblichenen Ahnen, die Sauerkirschblätter oder Goldregen in ihren Porzellanpfeifen paffen, ansonsten aber still in ihren jeweiligen Ecken stehen, wo sie alles überschauen können was sich ihnen nähert oder sich von ihnen entfernt, trügerisch nach Puderzucker riechend, dem einzig schmeichelhaften Firn, dem sie sich noch entsinnen können, komm schon hübsch herüber, auf allen Kuchen liegt der weiße Staub, nimm dir nur, und nimm dir weiter, wir sind alles gewesen, wir sind gewesen, was du heute bist, wir hatten nur die Dinge, die uns betrafen, nicht so sehr aus den Augen verloren. Der Traum, den man nicht selbst ruft, ist eine schäbige Pflanze, die unter dem strengen Regen bricht.

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Restezuber

Sehr gerne würde ich mir begegnen wollen, zufällig natürlich, straß=ecks, dunkeltrüb (eine sich verjüngende Gasse zweigt ab.)
Borges ist sich begegnet in ›los libros y las noches‹ von 1999. Der Film steckt mir im Videorekorder, der noch bei meinem Gerümpel in der Schweiz liegt, die Hülle habe ich hier, im Keller, im Restezuber.
Beinahe wäre ich nach Buenos Aires gegangen, aber das hätte mir genauso wenig eingebracht wie damals Mexiko.
Oder Paz’ ›Suche nach einer Mitte‹, die schwer zu finden, schwer zu halten ist.
Im Grunde habe ich es versucht, sage ich mir. Ich bin daran interessiert, mich aufzulösen, mich hinfortzuschwingen, aber nirgendwo steht der Horst.
Als es noch die Erde gab und nicht das Produkt der Kunst (Kunstprodukt und Kunstwerk sind nicht identisch), als vor 6333 Jahren die letzten Traktoren in den Scheunen standen,
ihnen stellt man nicht einfach Milch hin, damit sie
zu schnurren beginnen, da geschah dies:
süßes Geflecht deiner äußeren Rinde / vom Mond beschienen Tannin /
die lockere Hand fällt der Rebe zum Trotz wurzelwärts.

Diesen Weg gingen wir heute nicht, die alten Traktoren
wurden gebaut als es noch Land gab, sie sind
ähnlich wie das Pferd an den Kräutern interessiert.

Der Komische

Ein Duft wie in der Dallmayr-Stube der Therese Randlkofer :
Kaffa in Äthiopien (der blaue Elefant hält inne), psychotrope Wirkstätte : Geküchel. Ich ahme mich nach im Schnee, durch den ich Quarkkuchen balanciere / ein haariges Mittel erwartet mich
(ich hätte ja nachwievor gerne eine Wasserwelle,
die so beschissen an mir klaftert, dass ich mich verstecken müßte).
Ziemlich nachtaktiv & ich muss mich wieder in den Morgen schrauben –
aber so ein Bett ist einfach zu… und das zu jeder Zeit (überhaupt : Zeit !)

Schreibmaschine, Bett, Bibliothek (und natürlich Vinyl!) / Hausanzug:
meine Morgenmäntel abgetragen, ich bekomme nahezu jeden Tag Buchlieferungen; man schämt sich ja so halbnackt die Tür aufzumachen
(bin ja keine nacktberechtigte 20 mehr (ja, und 30 natürlich auch nicht). Man sollte gar nicht so schockiert sein : »Der ›Komische‹? Wohnt da oben, das Paket könnense aber auch mir geben!«
Lange dauern Worte, wie lange können sie bleiben?
Haben sie Malsachen dabei? Einen Schlafanzug?

Der Weg nach Raha: 10 Die alte Bahnstation

»Siehʼ an, ich hatte Sie bereits vermisst! Waren Sie nicht verschollen mitsamt ihrem Geiger?«

Ich kletterte in den Bus hinein unter den Blicken wachsweicher Figuren, die unter der Hitze litten, eine Welt ohne Wetter ist schwül. Aus dem sich öffnenden Loch einer Bahnhofswand heraus war schließlich der Bus erschienen, von dem der letzte Zugpassagier gesprochen hatte. Am Steuer saß Madame Blandot.

»Werden Sie mich zum Leuchtmoos bringen?«

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Mahlmaschinen

Was kann man in einer derart dämonischen Zeit, in der alle Tore der Hölle sperrangelweit aufstehen, noch tun, um sich zu retten? Vertrieben aus der Stille des Nichtverstehens, in den Lärm der Mahlmaschinen geschickt, die gar nicht mehr aussenden, verstanden werden zu können. Der umnachtete Geist ist der umlärmte Geist, der unauslösbar an den Ketten des Geschehens festgemacht. Jeder einzelne Augenblick ist voller schäbigem Glanz und es umgeben uns die Zotteln gleichgültiger Auswüchse, die wie künstliche Wisente von oben auf uns herabbrunsen.

Der Weg nach Raha: 9 Adam und der Schatten (2)

Dem Dante gleich wurde ich durch die Asche geführt, durch die Ringe höllischer Täler. Wir spazierten an schreiendem Morast vorbei und passierten Ruinen, die im Dunst der ewigen Dämmerung aufragten wie Steingebisse. Aber an meiner Seite befand sich nicht Vergil sondern ein Schatten. Deshalb zieht es mich zu den Höhlen hin, zu den moosbewachsenen Steinen, zum Sicker, den variskischen Falten, schmeicheln den Wollsackverwitterungen will ich da, gespreiztes Gestein, durch dich hindurchgleiten, phallischer Fels, mich von dir abkünftig wähnen.

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Genre ist kein schmutziges Wort

Ich bin schon vielen Fantasy- und Science-Fiction-Autoren begegnet – auch berühmten und beliebten -, die auf die Frage nach ihrer Entscheidung, in diesem Genre zu schreiben, etwa Folgendes sagten:

“Ach, ich schreibe einfach, was ich schreibe, und jemand ordnet es später einem Genre zu, ich denke nicht darüber nach, in welchem Genre ich schreiben will”.

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