Kult!

Monat: März 2024

Die gespenstische Geschichte der echten Burg Frankenstein

Vor zweihundert Jahren hatte eine Frau namens Mary Shelley auf einer Party in der Villa Diodati in der Nähe des Genfer Sees in der Schweiz einen “Wachtraum”, der zu einem der berühmtesten Horrorromane aller Zeiten werden sollte: Frankenstein.

Burg Frankenstein
(c) tourcounsel.com

Was viele Menschen nicht wissen, ist, dass der Name “Frankenstein” Shelleys Roman um Jahrhunderte vorausgeht. Auf einer Bergkuppe im Odenwald, mit Blick auf die deutsche Stadt Darmstadt, befinden sich die bröckelnden Überreste der echten Burg Frankenstein. Das steinerne Bauwerk steht seit Mitte des 13. Jahrhunderts auf der Bergkuppe. Einige sagen, dass die düstere Legende der Burg den Weg zu einer jungen Mary Shelley fand und sie zu ihrem großen Roman inspirierte.

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Der Geist des Schicksals in Charles Dickens “Der Bahnwärter”

Die Geistergeschichten von Charles Dickens, der für seinen charismatischen Witz, seine Ironie und seine Satire berühmt ist, waren oft typisch für die viktorianische Ästhetik des Übernatürlichen – schaurig, aber charmant -, doch seine berühmteste kurze Geistergeschichte widersetzte sich den Konventionen, schockierte die Leser und verstört sie bis heute. Der Grund dafür mag in der persönlichen Komponente liegen: Dickens’ “The Signal-Man”, zu deutsch: Der Bahnwärter, basiert auf der einflussreichsten Tragödie seines späteren Lebens, einer Tragödie, die ihn bis ins Grab belastete.

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Die dunklen Künste: Christopher McKenney

Mckenney 1

Willkommen zu einer weiteren Ausgabe der dunklen Künste, unserem monatlichen Feature, das eure Fantasie anregen und euch inspirieren soll!

Heute werfen wir einen Blick auf den Fotografen Christopher McKenney. Ich konnte nicht mehr über ihn herausfinden, als dass er ein surrealistischer Horrorfotograf aus Pennsylvania ist. Egal, lassen wir die gesichtslosen Erscheinungen auf seinen Bildern für sich sprechen.

Vermummte Gestalten und in Tücher gehüllte Geister lauern in den Feldern und Wäldern von McKenneys Werk, und sie führen etwas Böses im Schilde. Folgt nicht ihrem Fingerzeig, hört nicht auf ihre rauen Worte, es kann nichts Gutes dabei herauskommen. Aber es kann nicht schaden, einfach mal innezuhalten und hinzuschauen… oder?

Untitled
Untitled
Little Signs
Little Signs
The Calling
The Calling
Them
Them
The Righteous Will Be Saved
The Rightous Will Be Saved
The Hiding
The Hiding

All die toten Dichter (2)

Und der Sterbliche steht da mit nassen, aber stumpfen Augen neben der überirdischen Szene, eingesponnen von Geisterraupen.

Ein Buch, vielblättriges Klee. Ein Buch, mit wilden Ergänzungen, neugefundenes Land, Noval-Acker im Broca-Hirn. Du musst – ich kann’s nicht mehr, sagt Richter, schiebt die Buttensuppe etwas unsauber zur Seite und fragt nach einem Humpen Bayreuther Bier, während die anderen die Tapeten befummeln.

„Brauchen die etwa Stifte?“

Und Schang dreht sich zu Hardenberg und Tieck. „Vielleicht fehlt ihnen der persönliche Bezug zur Tafel, die du feilhältst. Und ich bin’s nun auch leid. Es ist mitnichten angenehm, durch den Nebel zu schwirren, der ja von keinem Stoffe daran gehindert wird, in direkter Weise das Gemüt einzunässen. So ist’s als Geist. Wir hatten noch kurz vorher ein Gespräch, wie es denn wohl gewesen wäre, wenn man Lenzens Reformplan des Militärwesens in Weimar angenommen hätte, der aus einem kühnen Amazonenkorps von ledigen Edelhuren bestehen sollte, als die Nebulnis auch gleich nachließ und uns alle an ein Gasthaus denken ließ, das sich da wie ein zerrissener Traum auftat. Denk an, wir schliefen bis heut’, und träumten, was wir jetzt würklich vor uns sehen. Eindrucksvoll und garstig. Gib ihnen Stifte, mir bitte einen Humpen! Alles ist mir recht, nur golden muss das Flüsschen sein!“

All die toten Dichter (1)

Wenn das Scheiterfeuer ausfährt, Arme in die Luft walzt und sündengeschwärzt die Grasnaben höllenheiß anlangt, trocknen die schweißverzerrten Gesichter, fallen in sich zusammen, blähen sich neu auf. Mit den Lippen springend führt die Hand den läppischen Wein zum Maule der offenen Kehlen. Aber auch Mineralwasser stehen bereit : Pyrmont, Eger, Karlsbad, Sauerbrunn, Seltz, Fachingen. Aus dem rembrandtschen Feuer hallen Rufe : Man will ins Diesseits brechen, die Aufgabe ist durchaus groß; so sind zwar die Gestalten der langen Nacht nur Boten, die Nachricht aber ist dringlich.

Da also verlassen sie ihre Schatten wie Pflaumen, die von Bäumen purzeln. Es sind all die toten Dichter und sie fordern ein Buch. Nur Goethe, der Verächter noch im Jenseits, fehlt. Dafür steht der kopflose Schiller Spalier gleich neben Richter, der mich, seinen Landsmann, neugierig anschielt.

Für diesen seltsamen Besuch habe ich mir einen Vorrat angelegt: Bärendreck, Hefekringel, Puffmais, Rahmstrudel, Zuckermus, Süßholz, Knusperflocken, gedeckte Apfeltorte, Molossol, „verlorene Gier“, Knuddelflecke, Buttensuppe, Pumpernickel. Für ein Bade sind’s zu viele der entrückten Musensöhne. Wer hätte nicht schon gern mit den Geistern der Vergangenheit Zeit in einem Nymphenkübel verbracht? Doch ich befinde mich in der Umgebung nur schlumpiger Moderne, wo Haarhecken und von der Schere abgenagte Nägel dem Abguss regelmäßig einen Pfropf aufsetzen.

Auf der Suche nach El Dorado

Am Guatavita-See, zwei Meilen hoch in den kolumbianischen Anden, versammelten sich Tausende von Indianern, um ihren neuen Häuptling zu begrüßen. Auf den Hügeln über dem See brannten riesige Freudenfeuer, während der Häuptling, umgeben von Adligen und Priestern, auf einer mit goldenen Scheiben behängten Sänfte zum Ufer getragen wurde.

Der Körper des Häuptlings war mit Harz gesalbt und anschließend mit Goldstaub überzogen worden. Er schritt auf den See zu, und während die Feuer bis zum Himmel loderten und die große Menge Gold, Smaragde und andere Opfergaben in den See warf, stürzte sich der vergoldete Mann – El Dorado auf Spanisch – ins Wasser. Als er wieder auftauchte, war seine goldene Last verschwunden. Er ging an Land, während das Volk ihn als seinen neuen Herrscher feierte.

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Die Angst vor Freitag, dem 13ten

Es gibt einen Fachbegriff für die weit verbreitete Neurose, die wir alle kennen: die Angst vor Freitag, dem 13ten. Er hört auf die mundgerechte Bezeichnung Paraskavedekatriaphobie. Aber woher kommt diese abergläubische Assoziation, und wie hat sie sich durchgesetzt? Die Wahrheit ist, dass niemand genau weiß, woher die Idee stammt, dass Freitag der 13te ein Unglückstag ist. Es wird jedoch vermutet, dass die Angst auf einen nordischen Mythos zurückgeht.

Aus welchen Gründen auch immer hat sich die Zahl 12 in vielen Kulturen im Laufe der Geschichte als “vollständige” Zahl durchgesetzt: Es gibt 12 Monate im Jahr, 12 Tierkreiszeichen, 12 Götter des Olymp, 12 Söhne Odins, 12 Aufgaben des Herkules, 12 Hindu-Schreine, an denen Shiva verehrt wird, 12 Nachfolger Mohammeds im schiitischen Islam und 12 Stämme Israels.

Freya
Die Göttin Freya mit ihrem von Katzen gezogenen Streitwagen.

In der römischen Mythologie war der Freitag oder der 6te Tag der Woche der schönen, aber eitlen Göttin der Leidenschaft – Venus – zugeordnet. Als die Skandinavier begannen, die römische Art der Benennung von Tagen zu übernehmen, wurde Venus mit Frigga oder Freya übersetzt. Freitag ist eine offensichtliche Ableitung des Namens dieser Göttin. Doch mit der Übernahme des Christentums durch die nordisch-germanischen Stämme wurde Frigga fortan geächtet und in den Erzählungen gezwungen, auf einem einsamen Berggipfel zu leben. Außerdem wurde sie zur Hexe erklärt, da ihr Haustier eine schwarze Katze war. Der Glaube besagt, dass die verschmähte Göttin jeden Freitag ein Treffen mit 11 anderen Hexen und dem Teufel einberief, um das Leben der Menschen in der kommenden Woche zu stören. Aufgrund dieser Theorie von der Zusammenkunft des 13-köpfigen Hexenzirkels nannten die Skandinavier den Freitag noch jahrhundertelang “Hexensabbat”.

Außerdem erzählt die nordische Mythologie, dass sich einst alle 12 nordischen Götter zu einem Fest in ihrem Wohnort Asgard versammelt hatten. Das Abendessen fand in einer großen Halle namens Walhalla statt, die von Odin geleitet wurde. Loki, der gestaltwandelnde Gott des Unheils, war jedoch nicht eingeladen. Er erfuhr von dieser Zusammenkunft und ging hin, um sich für diese Schmach zu rächen, so dass er zum dreizehnten Teilnehmer wurde. Loki beauftrage Hod, den blinden Gott der Finsternis, seinen Bruder Balder, den Gott des Lichts und der Schönheit, mit einem Speer zu töten. Balder war ansonsten unbesiegbar, weil Frigga ihn gesegnet hatte und ihm nichts etwas anhaben konnte, außer der Mistel. Frigga hatte die Mistel für zu jung und zerbrechlich befunden, um sie wie alle anderen Dinge schwören zu lassen, Balder nicht zu schaden. Loki nutzte diese eine Schwäche von Balder und ließ Hod einen Pfeil mit Mistelspitze benutzen, um seinen Bruder zu töten. Sofort wurde die Erde in undurchdringliche Dunkelheit und Trauer getaucht.

Venus von Laussel
Venus von Laussel

Auf einer 27.000 Jahre alten Schnitzerei in der Nähe der Höhlen von Lascaux in Frankreich ist eine weibliche Figur zu sehen, die als “Venus von Laussel” bezeichnet wird und ein sichelförmiges Horn mit 13 Einkerbungen trägt. Es wird angenommen, dass die 13 Kerben die jährliche Anzahl der weiblichen Mondzyklen darstellen, da ein normaler Zyklus 28 Tage lang ist. Die Zahl dreizehn galt daher in der antiken Ära der Götterverehrung als Glückszahl. Mit dem Aufkommen des Christentums wurde die heidnische Götterverehrung jedoch gänzlich abgeschafft. Die Tempel heidnischer Götter und Göttinnen wurden abgerissen und die Zahl 13 zur Unglückszahl erklärt.

Dem Koran zufolge wurde Adam von Gott an einem Freitag erschaffen. Später jedoch verführte Eva Adam dazu, die verbotene Frucht des weltlichen Wissens zu verzehren, wodurch er also an einem Freitag verdorben wurde. In der Bibel wird beschrieben, dass Gott daraufhin Eva und die nachfolgenden Generationen mit dem schmerzhaften Zyklus der Menstruation bestrafte, weil sie Adam verführt hatte. So wurden die 13 jährlichen Menstruationszyklen als Buße für die Sünde angesehen. Es wird auch angenommen, dass Adam an einem Freitag starb, nachdem er 930 Jahre gelebt hatte.

Ebenfalls im Christentum war Judas Iskariot das 13te Mitglied am Tisch während des letzten Abendmahls. Es war Judas, der nach dem Johannesevangelium Jesus für “30 Silberlinge” an die Römer verraten hatte. Außerdem wurde Jesus Christus an einem Freitag gekreuzigt.

Der Turm von Babel, der der Bibel zufolge zum Gedenken an das Überleben der Menschheit nach der Sintflut erbaut wurde, der so hoch war, dass er “seine Spitze im Himmel hatte”, wurde angeblich an einem Freitag zerstört. Die Berichte darüber, wie er zerstört wurde, variieren jedoch. Nach den Sibyllinischen Orakeln soll Gott einen so starken Windsturm erzeugt haben, dass der Turm dadurch einstürzte.

Templer

Zuletzt war es an einem Freitag, dem 13ten Oktober 1307, als König Philipp IV. von Frankreich in Zusammenarbeit mit dem Papst der römisch-katholischen Kirche ein geheimes Todesurteil gegen die Tempelritter erließ. Die 1118 gegründeten Ritter schützten die Christen vor allem während der Kreuzzüge. Die Theorie besagt, dass diese Ritter Geheimnisse über den Heiligen Gral besaßen, die die Grundlage des heutigen Christentums und der römisch-katholischen Kirche angreifen könnten. Die Templer wurden daher zu Ketzern erklärt und getötet. Ihr Großmeister, Jacques Molay, wurde gefoltert und ans Kreuz genagelt.

Diese abgründigen Anspielungen wurden immer weiter verzerrt, nahmen immer mehr zu und wurden schließlich zu Quellen der Angst und des Aberglaubens für die nachfolgenden Generationen.

Die Femme Fatale

Nebel und Mondlicht, schattige Gassen und Silhouetten – die Welt des Noir ist eine Welt der Intrigen, Geheimnisse und der Spannung. Und die rätselhafte, oft missverstandene Figur der Femme fatale bahnt sich ihren Weg durch diese schattenhaften Geschichten. Diese in Sinnlichkeit und Geheimnis gehüllte Figur ist aus dem Noir-Genre ebenso wenig wegzudenken wie der abgebrühte Detektiv und die kriminellen Straßen der Stadt. Aber was genau ist eine Femme fatale, und warum bleibt ihre Anziehungskraft trotz des Wandels der Zeiten und des Geschmacks ungebrochen?

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Acht perfekte Morde (Peter Swanson)

Lassen wir uns nicht von der allgemeinen Welle der immergleichen lustlos hingebastelten Cover nicht täuschen, die leider auch dieses Buch getroffen hat (weshalb ich lieber das Original genommen habe, auch wenn das nun auch keinen Preis verdient).

Der Plot ist nämlich wie geschaffen für Bücherwürmer: Ein Buchhändler wird vom FBI angeheuert, um als Experte eine Reihe von rätselhaften Morden zu lösen. Als Malcolm Kershaw vor Jahren als neuer Buchhändler in einer auf Krimis spezialisierten Buchhandlung in Boston anfing, wurde er von seinem damaligen Chef gebeten, auch Inhalte für den Blog des Ladens zu erstellen. Als langjähriger Leser des Genres beschloss Malcolm, einen Blogbeitrag zu verfassen, in dem er acht perfekte Morde aus der Kriminalliteratur auswählte, von Verbrechen, die von Agatha Christie und Ira Levin bis hin zu Patricia Highsmith und Donna Tartt konzipiert wurden. Seine Liste blieb weitgehend unbeachtet – aber er hatte auch nicht damit gerechnet, dass ein Buchladen-Blog im Internet viel Aufmerksamkeit erregen würde. Stellen Sie sich also vor, wie überrascht Malcolm ist, als Jahre später, an einem verschneiten Tag in Boston, eine FBI-Agentin vor der Tür der Buchhandlung steht.

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Die Morde in der Rue Morgue

Edgar Allan Poe wird häufig als der Erfinder der Detektivgeschichte bezeichnet. Tatsächlich war er nicht der erste, der eine Kriminalgeschichte schrieb (wie ich bereits in einem anderen Artikel dargelegt habe), aber als Vater der modernen Detektivgeschichte muss man ihn durchaus gelten lassen, allein schon, weil er darüber hinaus auch den Grundstein legte für zahllose Ermittlungsverfahren, die dann im zwanzigsten Jahrhundert tatsächlich mit Erfolg angewandt wurden und noch werden. Poe sah die Art und Weise lange voraus, in der Beweise (und nicht bloße Vermutungen) zu einem gültigen Ziel führen, schuf also nicht nur die Formel für die Detektivgeschichte, sondern auch für forensische Untersuchungen.

Am 20. April 1841 erschien im Graham’s Magazine Edgar Allan Poes “Die Morde in der Rue Morgue”, eine Kurzgeschichte, die weithin als die erste – wirkliche – Detektivgeschichte gilt. Sie handelt von den Ermittlungen in einem brutalen Doppelmord in Paris und stellt die Figur des C. Auguste Dupin vor, eines brillanten Amateurdetektivs, der den Fall mit Hilfe von Logik und Schlussfolgerungen löst.

Die Geschichte zeichnet sich durch ihre komplizierte Handlung und ihre Liebe zum Detail aus, ebenso wie durch die lebhaften Beschreibungen des Tatorts und der beteiligten Personen. Poes Schreibstil ist sowohl prägnant als auch detailliert und ermöglicht es dem Leser, die Ermittlungen Schritt für Schritt zu verfolgen und die Hinweise zusammen mit Dupin zusammenzusetzen.

C. Auguste Dupin hatte bekanntermaßen großen Einfluss auf Doyles Sherlock Holmes. In “Eine Studie in Scharlachrot”, dem ersten Sherlock-Holmes-Roman, erwähnt Holmes selbst Dupin und seine Methoden als Inspiration. Poe nannte das, was er da schuf “Tales of the Ratiocination”, also eine Rätselgeschichte. Davon sollte er mehrere schreiben, wobei immer jene drei mit Dupin als Vorzeigebeispiele gelten. Die erste davon enthält die meisten Grundzüge der Detektivliteratur, darunter das Rätsel des verschlossenen Raums, was später zu einem sehr beliebten Subgenre werden sollte und auch andere isolierte Schauplätze wie Inseln, Züge oder ein abgeschiedenes Landhaus umfasst. Es sind dies Geschichten, in denen der Mörder keine Möglichkeit hat zu entkommen oder sich unter den Anwesenden befinden muss.

In diesen Geschichten wird der Amateurdetektiv häufig in den Fall hineingezogen, weil ein Freund oder Bekannter zu Unrecht beschuldigt wurde. Dupin wird hier also aufgrund einer Verpflichtung gegenüber dem zu Unrecht Angeklagten in den Fall hineingezogen. In der Folge wendet der Detektiv unerwartete und ungewöhnliche Mittel an, um zur Lösung zu gelangen. Die Hinweise liegen alle offen da, aber dennoch liegt der Reiz des klassischen Kriminalromans in der unerwarteten Lösung, die erst im Nachhinein völlig logisch erscheint.

Zwei Aphorismen, die den heutigen Kriminalroman betreffen, werden in dieser Geschichte von Poe ebenfalls zum ersten Mal vorgestellt. Erstens: Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag. Das heißt, die Polizei stellt fest oder vermutet, dass es keinen Ausweg aus dem Zimmer der ermordeten Frauen gab. Die Tür war von innen verriegelt, und alle Fenster waren fest verschlossen. Zweitens: Je schwieriger der Fall zu sein scheint und je ungewöhnlicher er ist, desto leichter kann er ironischerweise gelöst werden. Das Problem der Morde, das die Polizei so ratlos macht, ist zum Beispiel die Frage, wie ein nicht-rationales, unmenschliches Wesen die Grenzen von Gesetz, Sitte und zivilisierter Ordnung durchbrechen und eine so grausame und schreckliche Gräueltat an zwei wohlbehüteten Frauen begehen kann. Die Polizei kommt nicht zu dem Schluss, dass ein “Mensch” so etwas tun könnte; das Haus ist so gebaut, dass es vor den Taten, die dort begangen wurden, geschützt ist. Die Morde können logischerweise nur dann aufgeklärt werden, wenn jemand in der Lage ist, seinen menschlichen Verstand mit einem nicht-menschlichen Verstand und mit den irrationalen Handlungen eines Tieres in Einklang zu bringen.

Folglich können wir die Überlegenheit des intuitiven und brillanten Detektivs gegenüber der Polizei messen, wenn er Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten ableitet und den Tatort aus den Schlussfolgerungen heraus betrachtet, die sich aus der Zielstrebigkeit und der begrenzten Sichtweise der Polizei ergeben.

Der Titel der Geschichte ist eindeutig – die Morde finden in der Straße (der Rue) des Leichenschauhauses statt. Im ersten Teil der Geschichte vertritt Poe einige der oben genannten Ansichten über die Notwendigkeit, dass ein Detektiv aufmerksam sein muss (mehr als ein normaler Mensch), und dass er außerdem wissen muss, worauf er seinen Blick zu richten hat. Die beiläufigste Bewegung oder Äußerung kann oft mehr verraten als die Lupe, die Dupin nie benutzt, obwohl die Polizei ständig darauf zurückgreift. Und auch der Detektiv der Superlative muss in der Lage sein, aus den Dingen, die er beobachtet, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Hier wird der Einfallsreichtum zum wichtigsten Aspekt bei der Lösung eines Verbrechens.

Der Erzähler lernt Monsieur C. Auguste Dupin kennen, als sie beide in einer Bibliothek nach einem seltenen Buch suchen; bald werden sie Freunde und wohnen gemeinsam in einem alten Haus. In späteren Kriminalromanen wiederholt sich diese Konvention; der brillante Detektiv und sein Kumpel teilen sich oft die gleiche Wohnung. Der Erzähler gibt uns dann ein Beispiel für Dupins brillante analytische Fähigkeiten.

Nicht lange danach wird in der Zeitung von zwei “außergewöhnlichen Morden” berichtet. Eines Nachts um drei Uhr wurden “acht oder zehn” Nachbarn durch eine “Abfolge furchtbarer Schreie” aus dem vierten Stock der Wohnungen von Madame L’Espanaye und ihrer Tochter Camille aus dem Schlaf geweckt. Die Menge brauchte einige Zeit, um die schwer verschlossenen Türen und Tore zu überwinden, und nachdem sie zum ersten Stock hinaufgeeilt waren, hörten sie alle zwei Stimmen. Dann herrschte Stille. Als sie das vierte Stockwerk erreichten und die Wohnung betraten, fanden sie sie in wilder Unordnung vor.

Mörder in der Rue Morgue

So erhalten wir die nackten Fakten des Mordes. Der alten Frau waren dicke Haarsträhnen ausgerissen worden, ihre Kehle war so tief durchgeschnitten, dass der Kopf abfiel, als die Polizei die Leiche anhob. Außerdem war die Frau mit so vielen blauen Flecken übersät, dass die Polizei davon ausgeht, dass sie mit Schlägen traktiert wurde, bevor ihr der Kopf fast abgetrennt wurde. Die Leiche selbst wurde im Hof vier Stockwerke unter der Wohnung der Frau gefunden, und es ist unmöglich festzustellen, wie die Leiche in den Hof gelangt ist, da der Raum von innen komplett verriegelt war. Ihre Tochter wurde offenbar von einem äußerst kräftigen Mann erwürgt und mit dem Kopf nach unten in den Kamin gestopft. Es hätte übermenschliche Kräfte erfordert, um sie in diese Lage zu bringen, denn es bedurfte eines gewaltigen Aufwands, um die dort zu entfernen.

Die Zeitung berichtet, dass die alte Frau gerade 4.000 Francs in Gold von ihrer Bank abgehoben hatte; unerklärlicherweise fand man die beiden Geldsäcke in der Mitte des Zimmers, wenn auch völlig zerrissen. Die Männer, die die Wohnung betreten hatten, wurden alle von der Polizei befragt, und alle Zeugen sind sich in einem Punkt einig: Es gab zwei Stimmen – die eine war die tiefe Stimme eines Franzosen und die andere war eine schrille, hohe Stimme, aber niemand, der diese Stimme hörte, konnte den Akzent eindeutig identifizieren.

Der Arzt und der Chirurg sind sich einig, dass Mademoiselle Camille “zu Tode gewürgt” wurde und dass “der Leichnam der Mutter schrecklich verstümmelt” war. Alle Knochen des Beins und des Arms der alten Frau waren zertrümmert und viele andere Knochen (einschließlich der Rippen) waren zersplittert. Es wird davon ausgegangen, dass mit einer Art schwerem Knüppel auf sie eingeschlagen wurde.

Da ein Bekannter von Dupin der Morde beschuldigt wird, erhält der Detektiv die Erlaubnis, die Umgebung zu untersuchen, ein Schauplatz, der äußerst faszinierend ist, da die Zeitungen berichten, dass das Verbrechen unmöglich aufgeklärt werden kann, da es für einen Mörder keine Möglichkeit gegeben hätte, aus der verschlossenen Wohnung zu entkommen.

Dupin beginnt dann mit seiner inzwischen berühmten Methode der Ratiokination. Er behauptet, man solle nicht fragen, “was geschehen ist”, sondern “was ist geschehen, das noch nie geschehen ist”. Und was das ist, war tatsächlich so noch nie da.

Virginia Woolf – Zum Leuchtturm

Orig. To the Lighthouse (1927)

In der Übersetzung von Karin Kersten

Man sollte nicht darauf hören, wenn man irgendwo liest, dass Zum Leuchtturm ein schwieriger Roman sei. Das stimmt nämlich nicht. Man muss nur konzentriert wirklich jeden Satz Wort für Wort lesen, und dann ist man sehr schnell drin, in der inneren Welt von Virginia Woolfs Charakteren. Wie eine Biene von Blüte zu Blüte fliegt, so springt Virginia Woolf zu den Gedanken und Emotionen ihrer Romanfiguren, die für jeden von uns relevant sein dürften. Es eröffnen sich die großen Fragen: Warum unterjocht der eine Mensch den anderen? Warum lässt sich der andere dies gefallen und fügt sich in die Rolle, die der Tyrann ihm zugedacht hat. Was bewirkt die dahinfließende Zeit im Menschen und seiner Umwelt?

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Hinter den Reihen

Vor zwei Jahren bin ich in eine Kleinstadt mit 8.000 Einwohnern gezogen, 20 Meilen von der Grenze zwischen Kansas und Missouri entfernt. Hier kommen die meisten Leute nur vorbei, weil sie woanders hin wollen. Wer nicht hier wohnt, kennt wahrscheinlich nur den Truck Stop am Highway, wo man tankt oder einen Snack zu sich nimmt. Für eine ganze Weile ist das der letzte Vorposten der Zivilisation, den man sieht.

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Wie viel Wahrheit steckt in “Der denkwürdige Fall des Mr Poe”?

Die Verfilmung von Louis Bayards Roman “Der denkwürdige Fall des Mr Poe” aus dem Jahr 2006 lief im Dezember 2022 in den Kinos an und wurde im Januar 2023 auf Netflix gezeigt. In den Hauptrollen sehen wir Cristian Bale und Harry Melling. Letzteren als jugendlichen Edgar Allan Poe. Die beiden untersuchen zusammen in der Militärakademie West Point mehrere Morde. Poe fand immer wieder aufs Neue Gefallen daran, Fakten und Fiktion miteinander zu vermischen, was er nicht zuletzt mit seiner Geschichte “Das Geheimnis der Marie Roget” bewiesen hat. Tatsächlich war er ein richtiger Meister darin, seine Leser zum Narren zu halten. Wie viel Wahrheit steckt also in The Pale Blue Eye (wie das Buch und der Film im Original heißen)?

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Schwert und Zauberei

Genre- und Subgenre-Labels gibt es aus gutem Grund – um die Leser mit der Art von Literatur zu verbinden, die ihnen gefällt. Zumindest heutzutage obliegt eine solche Kategorisierung eher den Vermarktern und Buchhändlern als einer tatsächlichen Unterscheidung durch Fans oder Autoren. Aber das war 1961 definitiv nicht der Fall, als Mitglieder der Robert E. Howard-Fangruppe, der Hyborian League, erkannten, dass sie einen Namen für jene besondere Art von Geschichten brauchten, die sie gerne lasen und schrieben. Die Frage, wie genau man diese Geschichten nennen sollte, stellte der junge Aufsteiger Michael Moorcock, und beantwortete der erfahrene Schriftsteller Fritz Leiber:

“Ich bin mir mehr denn je sicher, dass dieses Feld Schwert und Zauberei genannt werden sollte. Dies beschreibt die Punkte des kulturellen und übernatürlichen Elements genau und unterscheidet es auch sofort von Mantel und Degen (historischen Abenteuergeschichten) – und (ganz nebenbei) auch von den Mantel und Dolch (internationale Spionage)-Geschichten!”

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Graham Moore: Der Mann, der Sherlock Holmes tötete

Der Mann, der Sherlock Holmes tötete

Sherlock Holmes ist ein nimmermüde werdendes Thema, das hat vor einigen Jahren die großartige BBC-Modernisierung hinlänglich bewiesen (gegenwärtig macht auch Alice (aus dem Wunderland) wieder ein paar Fortschritte). Die Zahl der “Leichenfliegen”, wie ich jene Autoren nenne, die sich einer Figur annehmen und ihr Schindluder damit treiben, ist Legion. Die können wir – abgesehen von Horowitz, der tatsächlich die legitimen neuen Sherlock-Holmes-Fälle vorgelegt hat, aus unserem Gedächtnis streichen.

Graham Moore freilich geht einen anderen Weg und präsentiert uns Conan Doyle höchstselbst, denn schließlich ist er der Mann, der Sherlock Holmes umgebracht hat. Der Originaltitel lautet The Sherlockian, und ausnahmsweise finde ich hier den deutschen Titel etwas besser, weil er sprechend ist. Tatsächlich ist ein Sherlockianer der Protagonist des zweiten Erzählstranges.

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