2022 gewann der Rechtsanwalt und Schriftsteller Jonathan Moore für seinen Roman „Five Decembers“ (Fünf Winter“) den Edgar Award. Ja, er gewann auch den deutschen Krimipreis (International), von dem ich aber bis heute nicht weiß, was ich davon zu halten habe. Manchmal benötigt man zwei Leben, um seine literarischen Arbeiten unterzubringen, also haben wir es hier erneut mit James Kestrel zu tun (unter Moore haben wir leider bisher nur „Poison Artist“ in Übersetzung vorliegen).
Der Privatdetektiv Leland Crowe lebt undercover in einem heruntergekommenen Hotel in San Franciscos Tenderloin. Eigentlich sammelt er Informationen über einen Kartellzeugen, als er eines Morgens Zeuge eines seltsamen Anblicks wird: Ein stark beschädigter Rolls Royce Wraith steht vor den Refugio Apartments, das Dach zerschmettert von der Leiche einer jungen, blonden Frau im schwarzen Cocktailkleid. Crowe macht ein paar Fotos und verkauft eines an ein Magazin. Die Tote wird als Claire Gravesend identifiziert, Tochter der einflussreichen und gefürchteten Olivia Gravesend. Während die Polizei von Selbstmord ausgeht, glaubt Olivia nicht an diese Erklärung und beauftragt Crowe, die Wahrheit herauszufinden.
Claire war gerade 20 Jahre alt geworden, hatte in Harvard studiert und ihrer Mutter nur ein paar oberflächliche Briefe geschickt, seit sie in den Weihnachtsferien kurz nach Hause gekommen war. Doch Olivia hat Claire seitdem nicht mehr gesehen. Was Crowe bei seinen Ermittlungen entdeckt, wirft neue Fragen auf: Claires Rücken ist übersät mit fast kreisrunden Narben, die symmetrisch entlang der Wirbelsäule verlaufen – Spuren, die sich niemand erklären kann. Als Crowe tiefer in Claires Vergangenheit eintaucht, stößt er nicht nur auf beunruhigende Hinweise auf ihr Leben, sondern auch auf eine Frau, die Claire zum Verwechseln ähnlich sieht. Die Ermittlungen nehmen eine gefährliche Wendung, als Crowe überfallen und sein Büro verwüstet wird. Was wie ein Routinefall beginnt, entpuppt sich als dunkles Netz aus Geheimnissen, Identitätsfragen und tödlichem Betrug.
Je tiefer Crowe gräbt, desto klarer wird, dass Claire auf einer Mission war, die eng mit ihren Narben und ihrer Suche nach Unsterblichkeit verbunden ist. Sein Weg führt ihn von den rauen Straßen San Franciscos in die Welt der Reichen und Mächtigen, wo Geld keine Rolle mehr spielt und die Technik den Traum vom ewigen Leben wahr machen könnte. Moore schafft in „Bis in alle Ewigkeit“ eine dichte Noir-Atmosphäre, in der San Francisco mit seinen nebligen Straßen, dem scharfen Kontrast zwischen Luxus und Elend und einer düsteren, bedrohlichen Stimmung selbst zum Charakter wird.
Crowe, ein zynischer, aber faszinierender Protagonist, hat eine komplexe Vergangenheit: Als ehemaliger Anwalt, dessen Karriere und Ehe vor Jahren gescheitert sind, hat er nichts mehr zu verlieren. Trotz seiner fragwürdigen Methoden und seiner moralischen Ambivalenz treibt ihn ein tiefes Bedürfnis an, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Die Begegnung mit Olivia und die Enthüllungen um Claire zeigen ihn in seiner ganzen Härte, aber auch in seiner Menschlichkeit – besonders in den Momenten, die seine Beziehung zu seiner Ex-Frau betreffen. Vielleicht ist er ein kleines bisschen von Philip Marlowe inspiriert, was aber nichts ausmacht, wenn man bedenkt, wie oft Sherlock Holmes bereits kopiert wurde.
Moores Roman verbindet den klassischen Noir-Krimi mit spekulativer Wissenschaft. Ohne ins Melodramatische abzugleiten, stellt die Geschichte tiefgreifende Fragen über Identität, Moral und die Grenzen der Wissenschaft. Die Handlung ist durchzogen von gut getimten Wendungen und Enthüllungen und steuert auf ein actionreiches Finale zu, das philosophische Reflexion und düstere Zukunftsvisionen nahtlos miteinander verbindet (zumindest sollte es dem Leser so erscheinen). Der eigentlich klassische Aufbau steht etwas in Kontrast zum weniger befriedigenden Ende. Es scheint dann fast herbeigezwungen zu sein, und so entsteht ein kleines Ungleichgewicht, das dem Thrill in seiner Gesamtheit aber nicht wirklich etwas nimmt. Dennoch nicht so stark wie der Vorgänger.
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