Die Uhr mit den bereits verblassenden gilbroten Zeigern saß in der Mitte unter den über die Frontscheibe gebogenen Blechdach. Im Innern des Zyklopen zeigte das Auge jeden Tag fünf nach sieben, die Nachrichten waren wieder der Musik gewichen, der Tag begann mit Alan Parsons‘ Lucifer und gab die Stimmung vor, die bis zum Nachmittag anhalten sollte. Die Fahrt zur Schule, einst ein Hilfslazarett für Amputierte, die wie ein altes Schloss mit ihren 5 Meter hohen Portalen auf uns wartete, war auch die Fahrt zu einem Friedhof, an den der Schulhof grenzte. Die karge Mauer hielt die Toten nicht davon ab, am Unterricht teilzunehmen; ich zählte nicht, wie oft die Totenglocke in die Unterrichtsstunden einbrach. Das Gewusel in den Pausen blieb abstrakt, das Gemäuer furchteinflößend, der Friedhof die eigentliche Lektion.
Brouillon
der BROUILLON ist tagesgeschäft, nicht mehr als journaling über unwichtige persönliche befindlichkeiten.
Wellness Reißen
Farewell, du Zahn. Zwar machtest du mir Kummerlein über Monate 2, warst mir aber ein wichtiger Mahlstein, der du mir Schinken, Klopse, Wurst und Fleisch zerhäckselt hast. Jetzt bist du im Zahnhimmel, kein rächender Geist wird aus dir erstehen.

Es war sehr viel Morgen zu spüren noch in der Frühe, als mich Albera zur Chirurgin begleitete. (Das Busfahren geht mittlerweile ganz gut). Was folgte, war der beste Riss meines Lebens, mit Decke über dem Schoß und Blendschutz vor den Augen. Der Name des Zahns, der ging, lautete „47“. Obwohl mein rechtes Böcklein noch von der Spritze einem Daunenkissen ähnelt (und die Zunge einem blinden Lurch), konnte ich schon eingeweichte Milchbrötchen schlubbern.
Obwohl der Tisch
Lesetechnisch bleibe ich weiter bei Ricardo Piglia, „Ins Weiße zielen“ und „Falscher Name“ (letzteres ist mir in der Schweiz abhanden gekommen. Und danach dann den Erzählband „Der Himmel“ von Nona Fernández, deren Kurzroman „Die Toten im trüben Wasser des Mapocho“ mir bereits genau jenes Gefühl verschaffte, auf dem ich in jeder Literatur auf der Suche bin. Weil sich das zeit- und länderspezifisch nicht umreißen lässt (außer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, da finde und suche ich auch nichts), ist das ein schwieriger Prozess, der nicht durch eine Verschlagwortung abgekürzt werden kann. Von äußerster Wichtigkeit ist das, was Massimo Bontempelli 1927 eine „nouvelle atmosphère“ genannt hat, abgeleitet von einem Denken in Bildern, das kein Verhältnis zur linear geordneten Zeitvorstellung kennt. Gerade in Europa ist das Denken in eine eklatante Katastrophe geraten, mit dem die tiefen Schichten der Wirklichkeit schon lange nicht mehr erfasst werden können.
Obwohl der Tisch, an dem ich schreibe, regelmäßig wie ein Stall abgesprüht und ausgemistet wird, bleibt der kardinale Saustall stets die Konstante. Um 11 der letzte Arzttermin für diesen und nächsten Monat, zur Feier gab es einen zementartigen Quarkkuchen, der die Speiseröhre in einen gut betonierten Abwasserkanal verwandelt.
Experimentelle Literatur
Misst man die Resonanz einer Veröffentlichung an den Verkaufszahlen, hat man sich bereits vom Kern der Literatur entfernt, misst man sie an den Rezensionen, begreift man die Distanz zwischen sich und der Welt, wobei eine Besprechung – wie auch immer geartet – im günstigsten Fall eine Mittlerfunktion einnimmt. Das Problem wird immer sein, sein Zielpublikum zu erreichen, darin liegt überhaupt die Schwierigkeit. Meist steht ein Verlag bereits für ein bestimmtes Feld und die Leser wissen das. So ist es leicht zu erklären, warum Autoren sich bereits mit Schubladen im Kopf generieren lassen und man so von Verlagsseite später keine Mühe mehr hat, das korrekte Register zu ziehen. Seit den 60er Jahren – als es noch eine freie Literatur gab – ist dadurch all diese fließende Freiheit vernichtet worden, der miserable Zustand unserer Literaturen wird dadurch verstehbar.
Die Pest der Vernunft
Im Jahre 1670 wurde eine kleine Schrift des Henri Montfaucon de Villars, namentlich »Der Graf Gabalis oder die Einführung in die Geheimwissenschaften, gerichtet gegen die Pest der Vernunft«, zum Bestseller. In diesem Werk finden sich polemische Hammerschläge gegen die aufklärerischen Begriffe.
Ein Verbrechen in der Nacht
Was immer der Kriminalroman ist – das Unheimliche, das Böse, das Verbrechen, das Rätsel – beherbergt er wohl aller Menschen Los. Was aber, wenn einmal kein Verbrechen geschieht? Dann ist die Fiktion immer noch ein Rätsel, mehr als es das Leben ist. Und vielleicht ist schon mit aller Existenz ein Verbrechen im Gange, nur gelöst werden kann es nicht.
Zur Nacht – ich mag an einer bestimmten Stelle der Nacht Müdigkeit empfinden – aktiviert sich das Nachtgehirn, das sich ganz und gar von dem des Tages unterscheidet. Vielleicht tritt es gerade durch die Erschlaffung der körperlichen Funktion hervor. Ich ging auf und ab vor meiner Bücherwand; gehe ich nahe an sie heran, sind es viele, trete ich etwas zurück, bemerke ich vor allem das Fehlen jener Bücher, die noch nicht da sind. Dieses Fehlen fällt mir auf, weil noch Wand zu erkennen ist. Ich habe Mühe, die Nacht zu verschlafen – ein Traum ist ja nicht garantiert. Eine Nacht ohne Traum währe allerdings vertan, also muss der Ersatz, der sichere Ersatz, die Lektüre sein. Nicht das lineare Zeilenfolgen, sondern das Fliegen durch auffällige Bände, die sich anbieten durch ihr leichtes Vorstehen, das Durchbrechen der sauberen Linie.
Fress-Flanke
Früh zermürbte uns der Druck, der die Seele der Familie bereits fremd machte. Wir durften nicht einmal in unserem Zimmer in die Hose scheißen und die Kackwürste dann unter das Bett werfen. Darob hab ich mir erneut an der linken Fress-Flanke, die den Kopf meint, einen Zug bei nachtoffenem Fenster geholt. Leicht nur; diesmal wirbelts von der Schläfe herunter. Beete klavierte seine fünfte tags und nachts. Mein Mantel entleimt sich und muss eventuell gegen ein neues Exemplar weichen.
Zeitskala
Zerrissenheit ist ein etwas schäbiges Wort für gelebten Polyismus, aber gar nicht so sehr willentlich. Poesie ist eine Art völligen Denkens, gesättigt sozusagen an unendlich vielen Substanzen. Das Zukünftige, das ich zuerst schreibe, das Gegenwärtige, das ich danach schreibe und das Vergangene, das ich zum Schluss schreibe, kehrt die Zeitskala gar nicht so sehr um.
Dass sich hinter meinem Rücken selbst viele Rätsel aufgestaut haben
Mir sind jene Geschichten lieb, in denen jemand nach seiner verlorenen Vergangenheit sucht. Herausgefunden habe ich diese Vorliebe für diese spezielle Form der Queste, als ich vor Jahrzehnten Tabucchis Indisches Nachstück las. Es war mir stets ein Ereignis, von einer melancholischen Vergesslichkeit zu träumen, die unmittelbar auf die Vergänglichkeit verweist.
Kutschen- und Lampenzeit
Auf keinen Fall dürfen wir die Handschrift verlieren, die uns so eine persönliche Note verleiht, nämlich in dem, was wir wirklich denken. Gedacht wird, möchte ich sagen, mit der Hand. Dass bereits eine Schreibmaschine von selbst arbeitet, ist bekannt. Julien Gracq war es, der seine Lektüre stets mit dem Stift begleitete, und so nannte er eines seiner Bücher „schreibend lesen“.
Selbst lese ich gerade den dritten Band von David Morrells De Quincey-Trilogie, und was ich darin unter anderem finde, ist eine Zeit in der Schwebe, eine Kutschen- und Lampenzeit. Im Kern der viktorianischen Epoche fühle ich noch alles Rätselhafte des Überlebens, das Neue allein an der Inbetriebnahme der Eisenbahn. Bei solchen Romanen ist es mir, als ginge ein Ducken damit einher, denn man darf sich nicht frontal von dem treffen lassen, was wir als unsere Gegenwart bezeichnen.
Ein Morgen mit Dexter Gordon
Den frühen Morgen mit Dexter Gordon begonnen, der von meinen bewunderten Tenorsaxophonisten das vollste Organ besitzt.
Noch in der Nacht konnte ich den Volker Kutscher beiseite legen, durch seine Gereon Rath-Romane der Impulsgeber zur hervorragenden Produktion „Babylon Berlin“. Kutscher selbst kann Ideen haben, aber er hat eindeutig kein Erzähltalent, das liegt tatsächlich den wenigsten deutschen Autoren im Blut. Ganz anders der erste Highsmith-Band; die Dame bricht mit einer erschreckend einfachen Sprache ins Bewusstsein, die Finesse liegt in ihrer psychologischen Führung der Figuren.
Die Inselsprüche und was denn mitzunehmen wäre: Auffällig sind es bei mir vermehrt Kurzgeschichten und weniger Romane. Natürlich Cortázar (mitsamt Rayuela eben als einer der wenigen Romane); Poe, Bruno Schulz, Borges, Ligotti, Aickman. Gegen Romane entscheide ich mich nicht wegen der Form, sondern wegen der Fülle auf engstem Raum bei leichtem Gewicht.
Piglia: Man erzählt nicht, um sich zu erinnern, sondern um etwas Verborgenes zu zeigen.
Also bin ich ein Hybrid, ein Zwitterwesen zwischen Federhalter / Maschine und der elendigen digitalen Textur, die immer eine Umkehrung ist, eine Vernichtung, die täuschend echt mit Symbolen umgeht, aber am Ende nur von der reinen Vergeblichkeit kündet.
Es gibt wichtige Bücher und eine größere Masse unbedeutender, denen man in einem Leseleben begegnet. Die Verteilung scheint zunächst willkürlich. Die Zufälle, mit denen man seine persönliche Bibliothek füllt, sind, wie die Zufälle aller Begegnungen: es erschließt sich erst in einem Zwiegespräch die Tragweite.
Handbuch für Detektive / Jedediah Berry
Borges lobte an der Detektivgeschichte dass sie „in einer Epoche der Unordnung eine gewisse Ordnung aufrechterhalten kann“. Dieser Gedanke wird im Handbuch für Detektive von Jedediah Berry spielerisch und surrealistisch umgesetzt. Berry ist bei uns ein Unbekannter, in Amerika kennt man ihn als stellvertretenden Redakteur eines kleinen Verlags, der sich mit Phantastik sehr gut auskennt.
Seine Kurzgeschichten fanden nicht selten den stürmischen Beifall der Kritiker. Das Handbuch allerdings ist sein Debüt. 2009 geschrieben, erschien es erstaunlicher Weise 2010 bereits bei uns. In diesem Roman ist die Detektivarbeit mehr als ein Job, sie verkörpert einen geordneten Zugang zum Leben. Rätsel müssen gelöst werden, um Wahrheit und Illusion voneinander zu trennen. Sogar die Verbrecher scheinen sich hauptsächlich für das Verbrechen als Mission, als Kunstform, als Mittel zur Beeinflussung der Welt zu interessieren. Ihre Anführer sind Magier, Meister der Verkleidung, Illusionisten. Der Konflikt zwischen Detektiven und Kriminellen ist ein Aufeinanderprallen philosophischer Positionen, ein metaphysischer Kampf um die Vorherrschaft.
Unser Held ist Charles Unwin, freundlicher Aktenschreiber von Detective Travis Sivart. Er arbeitet bei der Agentur, einem Monolith der Seriosität, der seine Stadt schützt, indem er fest gegen das kriminelle Element steht. Unwin ist ein sanfter, bescheidener Kerl und nie ohne Regenschirm (es regnet immer in der Stadt). Er zeichnet sich vor allem durch die Organisation und Katalogisierung von Akten aus, die er in seiner Funktion komfortabel und zufriedenstellend erledigt. Aber als Detective Sivart verschwindet, wird Unwin unerwartet zum Detektiv befördert und als Agent ins Feld geworfen. Da er völlig ungeeignet für den Job ist, protestiert er gegen seine Beförderung, aber als er wegen Mordes verdächtigt wird, muss er den Hinweisen folgen, um herauszufinden, was vor sich geht. Als er widerwillig anfängt, Fragen zu stellen, stellt er fest, dass viele Fakten in Detective Sivarts Akten falsch dargestellt sind. Bald taucht er aus seinem Schlummer auf und versinkt in Rätseln. In der sich verdichtenden Handlung findet er Beweise, die sich nicht nur auf den vorliegenden Fall beziehen, sondern auch auf Geheimnisse, die alles untergraben könnten, was er für wahr hält.
Unwins anfänglicher Ansatz bei seinen Ermittlungen ist der eines Sekretärs: Er versucht mechanisch, das zu tun, was er denkt, was von ihm erwartet wird, sortiert die Fakten und blufft sich durch eine Reihe merkwürdiger Entdeckungen. Seine Verwandlung in einen Agenten beginnt, als er ein Exemplar des Handbuchs für Detektive – die Bibel der Agentur über Theorie und Praxis der Detektivarbeit – öffnet und seinen ersten Ratschlag liest (unter der Überschrift „Kriminalfall, Erste Schritte“):
Der unerfahrene Agent, der auf ein paar erste vielversprechende Spuren stößt, wird wahrscheinlich den Drang verspüren, ihnen so direkt zu folgen wie möglich. Doch ein Kriminalfall ist wie ein dunkles Zimmer, in dem ihn alles erwarten könnte. In diesem Stadium des Falles wissen Ihre Gegner mehr als Sie – genau das macht sie erst zu ihren Gegnern. Deshalb ist es von höchster Bedeutung, dass Sie mit Vorsicht und Raffinesse vorgehen, besonders zu Beginn Ihrer Arbeit. Jede andere Vorgehensweise wäre gleichbedeutend mit einer Kapitulation; dann könnten Sie auch gleich Ihre Taschen ausleeren, eine Lampe über Ihrem Kopf anschalten und sich eine große Zielscheibe auf die Brust malen.
Auch für die Leser dieses Romans ist es ein guter Ratschlag, anders vorzugehen. Die Erzählung treibt uns nicht vorwärts, der Eroberung entgegen, sondern zieht uns langsam tiefer in eine geheimnisvolle Welt. Die Grenzen zwischen Realismus und Traumbildern sind verschwommen. Die Zeit, in der die Ereignisse stattfinden, wird nie genau festgelegt, obwohl die Geschichte durchweg eine vage Atmosphäre des frühen zwanzigsten Jahrhunderts aufrechterhält. Und doch fühlt sich das Buch frisch und modern, ja sogar experimentell an. Es ist ein Roman, der Vergleiche mit anderen Romanen provoziert, weil es so schwierig ist, ohne einen einzigen Bezugspunkt auszukommen, was aber auch einfach daran liegt, dass das Handbuch für Detektive eine einzigartige Schöpfung ist, die selbstbewusst in ihrer Genre-synthetisierenden Originalität konstruiert wurde.
Trotz dieser interessanten Eigenschaften muss man sich an die Erzählweise erst einmal gewöhnen. Die Handlung wird schnell unüberschaubar und halluzinatorisch, so dass es alles andere als leicht ist, ihr zu folgen. Die manierierte, schwach altertümelnde Prosa erscheint zunächst übermäßig raffiniert; Leichen türmen sich auf, und doch fühlt sich ein großer Teil der Handlung seltsam blutleer an, dem Traum näher als einer greifbaren Form.
Im Jahr 1924 schrieb André Breton im ersten Manifest des Surrealismus von seinem Versuch, das Bewusstsein zu erweitern und eine Überrealität zu finden, indem er die Assoziationsmöglichkeiten des unbewussten Geistes erforschte.
In Berrys Roman wird ein ähnlicher Begriff zu praktischen Zwecken von Detektiven der Agentur verwendet, indem sie in der Lage sind, verdächtige Personen in ihren Träumen auszuspionieren und dadurch Hinweise zu entdecken, die das Unbewusste über ihre Verbrechen preisgeben kann. Während Unwin diese Überwachungsmethode benutzt, um Hinweisen zu folgen, driftet die Geschichte mehr und mehr ins Surreale ab. Merkwürdigerweise taucht Unwin immer mehr in die Traumwelt ein und wird dadurch lebendiger und wacher als jemals zuvor in seinem Leben. Als wir ihm zum ersten Mal begegnen ist Unwin weit vom Modell eines hartgesottenen Detektivs entfernt, ist sanftmütig und bescheiden, so zugeknöpft und vorsichtig, dass es schwierig ist, ihn zu fassen. Während er sich jedoch bemüht, seine Gegner zu verstehen, beginnt er damit, seine eigenen Instinkte zu entwickeln. Von diesem Augenblick an fließt Leben in die Geschichte ein.
In ähnlicher Weise wird die Überlagerung von präziser, schicker Prosa in einem bizarren Kontext hypnotisch. Die Präzision von Unwins Perspektive verleiht jeder Szene einen Realismus, der ständig untergraben wird. Die Geschichte geht nie in bloße Merkwürdigkeiten über, sondern bleibt in der unerbittlichen Traumlogik ihrer Welt verankert. Sie erreicht und verunsichert den Leser auf unbewusster Ebene. Science-Fiction-Fans sprechen gerne über den „Sense of Wonder“, der sich aus der Begegnung mit neuen Konzepten und Kreationen ergibt, hier aber wird das heikle Gefühl dargestellt, das entsteht, wenn etwas Vertrautes völlig fremd erscheint: ein Gefühl des Mysteriums. Nehmen wir zum Beispiel diese Szene, als Unwin bemerkt, dass man ihn ausspioniert:
„Er versucht sich zu konzentrieren“, sagte der Mann am Telefon.
Unwin legte das Handbuch weg und erhob sich von seinem Stuhl. Er hatte sich nicht verhört. Der Mann mit dem blonden Bart sprach Unwins Gedanken laut aus. Seine Hände zitterten bei dem Gedanken; er hatte angefangen zu schwitzen. Die Männer am Tresen fuhren erneut herum und sahen dabei zu, wie Unwin in den hinteren Teil des Raumes ging und dem Mann auf die Schuter tippte.
Der Mann mit dem blonden Spitzbart blickte auf. In seinen hervorquellenden Augen war zu lesen, dass er zu Handgreiflichkeiten bereit war. „Such dir ein anderes Telefon“, zischte er. „Ich war zuerst hier.“
„Haben Sie gerade über mich geredet?“, fragte Unwin.
Der Mann sagte in den Hörer: „Er will wissen, ob ich gerade über ihn geredet habe.“ Er lauschte, nickte, nickte noch einmal und sagte dann zu Unwin: „Nein, ich habe nicht über Sie geredet.“
Unwin wurde von einer schrecklichen Panik ergriffen.
Kurz gesagt, Berry hat einen Roman mit der sinnlich herausfordernden Wirkung eines Magritte-Gemäldes zusammengestellt, und jedes Element der Geschichte arbeitet zusammen, um diesen Effekt zu erzeugen. Es ist Unwins empfängliche, ungeformte Eigenschaft, die es ihm erlaubt, die Landschaft als eine Art luzider Träumer zu durchqueren und Informationen vorurteilsfrei so zu sichten, wie sie ihm zufliegen, ohne sich zu sehr in dem zu verzetteln, was er weiß, und vielleicht fälschlicherweise für wahr hält. Er setzt seinen klaren, methodischen Ansatz fort, auch wenn die Realität um ihn herum dekonstruiert wird. Damit ist es folgerichtig, dass die Geschichte in dem Tempo voranschreitet, in dem sie das tut, denn es liegt in der Natur dieses Buches, dass es den Leser nicht mit Gefühlen, Aktionen oder schillernden Bildern bombardiert. Hier ist das Geschichtenerzählen das Gegenteil von Bombast, es lädt in eine stilvolle Welt ein, und es gibt hier nur spärlich Hinweise. Es ist eher ein stimmungsvolles Buch, in dessen Atmosphäre man versinken und sich fortspülen lassen kann. Und es dringt in das Gemüt.
Das Handbuch für Detektive ist glänzende surreale Kunst und zweifellos auch ein gutes Stück altmodischer Detektiverzählung, wo alles miteinander verbunden ist und dem Leser die Befriedigung eines zu entziffernden Rätsels geboten wird, in dem ineinander greifende Teile zu einem logischen Ganzen zusammengefügt werden. Doch etwas Größeres verweilt hinter den einzelnen Rätseln, die Unwin erforscht: Ein Mysterium, fremd und unbekannt.
Unwin wird an einer Stelle als „akribischer Träumer“ beschrieben, und dieses elegante, komplizierte, ehrgeizige Buch hinterlässt das Gefühl, dass es eine wunderbare Sache ist, ein akribischer Träumer zu sein.
Mit Piglias „Letztem Leser“
So erstaunlich es sich anhört, habe ich eine irrationale Angst davor, Bücher könnte es eines Tages nicht mehr geben und diese Möglichkeit käme noch zu meinen Lebzeiten zum Tragen. Das mag vielleicht ein Grund für meine Besessenheit sein: kaum habe ich ein Buch in meine Sammlung integriert, fehlt mir ein anderes schmerzlich. Und das geht immer so fort. Als Leser hat man immer zu wenig Bücher, auch wenn man eines Tages so viel hat, sie nie und nimmer alle lesen zu können. Doch das spielt keine Rolle und kann nur der Einwand eines Nichtlesers sein, denn manchmal besteht die Aufgabe eines Lesers gerade darin, nur zwischen den Büchern zu verweilen und nicht zu lesen. Es gibt keine andere Möglichkeit, das Universum zu uns einzuladen; sobald wir in den Nachthimmel sehen, zieht es sich zurück. Nur in einer Bibliothek offenbart es sich, wie das Leben, das man sucht, aber nur noch in der Erinnerung findet, einer Erinnerung, die sich nicht zuletzt aus Gelesenem speist.