Eine sonderbare Stimmung hatte ihn bereits seit dem frühen Morgen fest im Griff, einige Stunden, bevor das Tagebuch seines Freundes eintraf. Als der Briefträger dann seine dürren Arme in den Postsack steckte, um in einer aufgenähten Seitentasche zu wühlen, in der die Sendungen für die Straße, in der Adam lebte, schlummerten, war das Gefühl der Unausweichlichkeit derart stark in seiner Magengegend zu spüren, dass er am liebsten davongerannt wäre. Ein gewisses Maß an Etikette ließ ihn hinter dem Gartenzaun die Hand ausstrecken, um zu empfangen, was der Bote für ihn hatte.

„Heute habe ich wirklich ein ganzes Buch, Herr Pikid.“ Das sagte Alfons jedes Mal, wobei er nur die Summen austauschte: „Heute habe ich wirklich nur drei Briefe, Herr Pikid.“
Manchmal sagte er auch: „Heute habe ich nur etwas für die Gnädige Frau, Herr Pikid.“
Selten war Adam deshalb besorgt. Heute konnte er sich allerdings kaum beherrschen. Einen Absender konnte er nicht ausfindig machen, aber er erkannte den Poststempel aus Thierstein, einen springender Rehbock, der durch den Stempel wie ein kopfloser Krakel aussah.

Die Nachricht, die er neben einem zerfledderten Tagebuch vorfand, war kurz und ohne persönliche Anrede formuliert:

Es war, wie du sagtest. Die Bahn teilte sich; und während wir uns in die eine, von uns aus richtige Richtung bewegten, verloren wir einen Teil von uns, der dorthin fuhr, worüber wir besser nicht nachdenken. Es waren sehr wenige Leute im Zug, aber sie alle hatten etwas bemerkt. Ich dachte in diesem Moment an den Hauch des Todes, der sich kühl über den Mittelgang bewegt, nur knapp über dem ratternden Boden. Wie eine unsichtbare Schlange, die sich in Träumen manifestiert, darüber hinaus aber nicht gesehen werden kann. Man spürt ihn an den unbekleideten Stellen. Ein Luftzug, der einfach da ist und keinen eigenen Körper besitzt. Ich weiß noch, wie du blass wurdest, so als wären wir mit unserem Waggon bereits aus den Gleisen gesprungen und nichts könnte uns mehr retten. Tonnen von Stahl und Nieten in Bewegung. Es war nur eine Sekunde – nicht einmal eine Sekunde, dann war das Gefühl auch schon wieder vorbei. Wir segelten gemütlich holpernd weiter wie jeden Tag. Aber etwas war anders, und das rechtfertigte dein Schweigen. Ich möchte mich bei dir entschuldigen, obwohl ich weiß, dass es schon so lange her ist. Möglicherweise können wir uns dort treffen, wo wir uns früher immer getroffen haben. Drei Jahre lang. Fast jeden Tag.

Zunächst starrte er den grußlosen kurzen Brief wie ein fremdartiges Ding an. Das Verstehen aber war von Anfang an da. Wie hätte es auch anders sein können? Es war nur so, dass er nicht damit gerechnet hatte, jemals eine solche Nachricht zu bekommen. Nicht nach all dieser Zeit, in der er sich einen Glaspalast der Erinnerungslosigkeit errichtet hatte. Er war vor Jahrzehnten mit der Absicht fortgegangen, niemals wieder zurückzukehren, und er hatte sich damit abgefunden, Dorn ebenfalls niemals wieder zu sehen. Seine Abwesenheit hatte ihn nur die ersten Jahre Tag für Tag beschäftigt. Es hatte ohne Spektakel geendet. Er war gegangen, und das war das Ende der Geschichte.

Adam ließ den Spaten aus seinen knochigen Fingern gleiten, mit dem er gerade die Erde umgraben wollte, um vielleicht etwas eigenes anzupflanzen (und auch zu essen), nur um zu sehen, wie es sich anfühlen würde, für etwas verantwortlich zu sein. Schließlich übte er sich seit längerem in einer Lebenshaltung, die ihm das nahebrachte, was seine Mitmenschen den Boden der Tatsachen nannten.

Der eigentliche Grund war jedoch weitaus verwirrender, betraf er doch diese merkwürdigen Objekte, die er an unterschiedlichen Orten im Haus fand und die er zu begraben begann, nachdem ihm klar geworden war, dass sie aus seinen Träumen stammten. In letzter Zeit hatten die Vorfälle wieder etwas zugenommen, auch wenn sie über die Jahre nicht nennenswert aufgetreten waren. Versiegt allerdings war das Phänomen niemals. Da gab es Postkarten, auf denen nichts als Schlieren zu sehen waren, verworrene und ineinander geschmierte Farben. Undefinierbare Porzellanfigürchen, die viel kleiner waren als er sie in Erinnerung hatte und die zu einem Batzen zusammengeschmolzen waren. Einmal hatte er Besteck gefunden, verrostet und miteinander verschränkt, einer obszönen Plastik gleich. Oftmals waren diese Stücke gar nicht zu identifizieren, aber sobald er sie fand, erinnerte er sich sogleich an den vorangegangenen Traum und wusste, was sie darstellen wollten. Sie gehörten zu seiner Vergangenheit, und diese Vergangenheit gab sich nicht damit zufrieden, dass er fortgezogen war. Sie suchte nach Mittel und Wegen, zu ihm zu kommen. Das war einer seiner beunruhigenden Erkenntnisse, nachdem er die ersten Artefakte ins einen Schuhen gefunden hatte. Stark oxidierte Kronkorken mit einem Loch in der Mitte. Das war die Eintrittskarte für alles, was folgte. Immer handelte es sich um Dinge, die er nicht nur deshalb erkannte, weil er kurz davor von ihnen geträumt hatte, sondern weil sie tatsächlich mit ihm verbunden waren. Zum Beispiel schmückten diese Kronkorken einst eine Holzhütte unten am Wendenschuch, wo er seine Kindheit in den Wäldern verbracht hatte und zu einem merkwürdigen Kind herangereift war, das in ständiger Angst vor seiner Umgebung lebte. Die Menschen, Bauern, Eltern und Freunde sagten ihm nichts, sie waren wie er auf diese Welt geworfen, um einem Pfad zu folgen, den sie vorgaben zu planen, aber niemals wirklich sahen. Er aber erkannte die Tunnel und Brücken überall. Tunnel, die sich mit unheilvollem Rauch füllten, Brücken, über Pfützen gebaut; Bewegungen in Zweigen, Gräsern und hinter Fenstern. Es gab keine Leere in der Nacht, keine eigentliche Dunkelheit, keine Ruhe vor dem Tag. Er entdeckte, dass dieser Landstrich von einer Unruhe geprägt war, die ihn entsetzte. Eine Feenland zwar, aber eines, das von der Agonie des steten Abschieds verschlungen wurde.

Diese Kronkorken, da war er sich sicher, zierten einst jene Flaschen, die von seinem Vater und den Nachbarn vor mehr als dreißig Jahrzehnten geleert und worden waren. Danach hatten sie diese Deckel an die Holzhütte genagelt, in denen sie manchmal auch Karten spielten. Niedergetrampelte Seggen bildeten einen Kranz, der unter dem Gehölz hervorbrach und sich im Schatten besonders wohl fühlte und Spinnen beherbergte, die merkwürdig glänzten.

Seine Erinnerungen waren kaum von seinen Alpträumen zu unterscheiden.

Arthur warf einen Blick durch die noch netzartigen Baumkronen am Rande des Grundstücks. Was er jetzt tun würde, hatte er sich nicht gewünscht. Im Gegenteil, er dachte, es würde nie geschehen. Für die Vergangenheit hatte er keine Türen vorgesehen, die ihn je dorthin zurückbringen könnten.

Hätte Zofi einfach nur geschrieben, dass sie ihn wiedersehen wollte, hätte er einen Weg gefunden, freundlich, aber bestimmt, abzusagen. Schließlich war er längst verheiratet und neigte nicht zu Gedanken an eine Liebelei. Selbst wenn es sich – wie in diesem Fall – überhaupt nicht um ein wie auch immer geartetes Begehren handelte, war er nicht derjenige, der sich mit anderen Damen traf. Er konnte kaum auf etwaige Erfahrungen zurückgreifen, schließlich begriff er kaum sein eigenes Geschlecht, und wie sich daraus ein gesellschaftliches Verhalten ableiten ließ, blieb ihm wohl für alle Zeiten verborgen. Der Tumult in seinem Kopf war stets ein anderer, so als wäre er gar nie wirklich auf der Welt gewesen, so als hätte er sich seine Erlebnisse und Konversationen stets nur eingebildet.

Doch Zofi war nicht nur seine Jugendfreundin gewesen. Sie war dabei, als sich die Welt spaltete. In den letzten Jahren hatte er aufgehört, an die ruchlosen Schienenbusse zu denken, die Waggons hinter sich her zogen, die nichts Irdisches an sich hatten.

Im Grunde war von damals nur seine Aversion gegen Bahnhöfe, Gleise und Zugfahrten geblieben, auch wenn es die alten Bahnen und Leichttriebwagen längst nicht mehr gab. Arthur wusste, dass alle modernen Konstrukte dagegen geistlos waren. Die beseelte Vergangenheit war endgültig vorbei, die hungrigen Blicke der runden Scheinwerfer, das heftige Atmen des Unterflurmotors. Und doch. Es gab Reste. Reste an Träumen, die ihm zeigten, was damals möglicherweise ungesehen geblieben war; und ein Ereignis, das seine unbeschwerte Jugendlichkeit für immer aus seinem Körper gedrängt hatte, um Alpträumen und Angstzuständen Platz zu machen, die ihn für immer heimsuchen würden.

Er ging ins Haus und wusch sich die Hände, als Tanja zur Badtür herein kam, um die Handtücher auszuwechseln.

“Hast du einen Geist gesehen?” Ihre Bewegungen verlangsamten sich und ihr Blick wich nicht von seinem Gesicht. Arthurs Spiegelbild zeigte ihm, wer er war: ein Fremder, wo immer er auch hin ging. Für Tanja war er ein Schatten, den man nicht ausleuchten konnte, auch wenn sie sich Mühe gab. Würde sie es jemals satt haben, sich in seiner Gegenwart zu fürchten?

“Ich werde kaum Zeit haben, es dir zu erklären”, sagte er, “aber ich muss für ein paar Tage verreisen.”

Natürlich hätte er es ihr erklären können, aber damit hätte er sich selbst nur bewiesen, dass er damals geflüchtet war und nun ein Leben führte, das ihm vielleicht gar nicht gehörte. Seine eigenen Erfahrungen konnte er nicht übertragen. Er konnte sich weder mitteilen, noch konnte er alles in eine Anekdote aus seiner Kindheit packen. Es gab keine Anekdoten, nur einen lang vergessenen Traum, der über die Grenzen quoll und ihm zu verstehen gab, dass all das, was er verlassen hatte, Mittel und Wege fand, zu ihm zu kommen, sollte er sich nicht eines Tages wieder einfinden. Er war ein Teil nicht nur der Geschehnisse, sondern des Inventars.

“Wenn du gehst, komme ich mit”, sagte sie. Er betrachtete sie überrascht, wie sie mit den dreckigen Handtüchern im Türrahmen stand. Sie fragte ihn nicht, wohin er so plötzlich aufbrechen müsste, schließlich war sie lange genug mit seinen irrationalen Entscheidungen vertraut und kannte auch ihren Ursprung. Allerdings schätzte sie die Bedeutung seiner Handlungen falsch ein. Die Artefakte, die er an immer anderen Stellen im Haus fand, hielt sie für einen Tick. Dass er die meisten von ihnen ohne ihr wissen entsorgte, änderte nichts daran. Lange genug hatte er das alles für einen Nachläufer jugendlicher Psychose gehalten, ausgelöst von Verlusten und einem überempfindlichen Nervenkostüm, einer Phase im Leben, die womöglich jeder auf die ein oder andere Art erfahren hatte.

Obwohl er sie liebte, spürte er, dass er sie nicht dabei haben wollte. Nicht Zofis wegen. Da gab es nichts, was ihn nervös machte. Vielmehr glaubte er, dass seine Frau nicht in seine Vergangenheit gehörte und es deshalb neue Komplikationen geben könnte. Das sagte er ihr und wusste gleichzeitig, dass sie es nicht verstand. Kam er zurück? Er wusste es nicht, sagte aber ja. Gab es eine andere Frau? Nun, es gab keine, die ihm so viel bedeutet hätte wie Tanja, und so verneinte er die Frage. Er gestand sich ein, nichts über Zofi zu wissen. Sein Interesse war metaphysischer Natur. Aber er erwähnte sie dennoch mit keiner Silbe.

Nach seiner Entscheidung hatte er sich dabei ertappt, wie er sein Innerstes nach Stimmen abhörte. Aber da waren keine Stimmen, keine Euphorie, kein Gefühl, das Richtige zu tun. Er brach auf, ohne darüber nachzudenken. Als er die Wälder dichter werden sah, wurden die Erinnerungen jedoch deutlicher. Ohne Pause trieb er seinen Wagen durch die Nacht und kam an, als die Sonne ihre ersten Strahlen unter das Gewölk am Himmel schickte.

Zofi hatte kein Datum und keine Uhrzeit auf ihre Nachricht geschrieben. Hier ging es nicht um menschliche Belange, sondern um Gesetzmäßigkeiten, die einzuhalten waren. 5 Uhr 37. Er fuhr den Wagen in eine Parkbucht und stieg aus. Der Zug würde um 7 Uhr 11 abfahren. Es blieb genügend Zeit.

Noch sah der Himmel aus wie eine blutgefüllte Blase. An manchen Tagen waren dort die Gitternetze einer untergegangen Spiegelwelt zu erkennen, verschwimmende Koordinaten, verätzte Landschaften. Wo andere Schafe sahen, erkannte er eine Sprache, die nicht überliefert werden konnte, weil sie sich ständig änderte. Rings um ihn herum lärmten die riesigen schwarzen Fichten. Das Dorf neigte sich von ihm weg. Wenn es hier Leben gab, dann nur am Tag. Ein guter Zeitpunkt, um eine Rast einzulegen. Er befand sich jetzt an der äußeren Grenze, spürte aber bereits den Sog des Geheimnisvollen. Wenn er sich anstrengte, konnte er den Chor, bestehend aus Atemgeräuschen, hören, der in seiner Vorstellung den Wind erzeugte, der den Südhang des Ochsenkopfes nach oben rollte. Alles um ihn herum bebte und bewegte sich, obwohl die Stille nicht weniger sagenhaft war, auch wenn sie nur zwischen den Zeilen stand. Arthur konnte sich nie außerhalb denken. Stets war er im Begriff, in alle Abgründe zu stürzen, die sich vor ihm auftaten. Wäre es nicht Zeit, darüber nachzudenken, was hier vor sich ging?