Bouquinist

Smee / A. M. Burrage

Der Schriftsteller A. M. Burrage äußerte einst den Wunsch, seinen Lesern einen wohligen Schauer über den Rücken zu jagen, so dass sie nicht anders können, mit einer brennenden Kerze zu Bett gehen, ganz unerheblich, wie tapfer sie sich fühlen mögen. Doch seine Gespenstergeschichten, von denen eine Auswahl 2022 in einer opulenten Ausgabe der British Library erschien, bieten weit mehr als bloßen Grusel. Der in Middlesex geborene Burrage (1889-1956) begann bereits während seiner Schulzeit mit dem Schreiben von Geschichten, zunächst für Jugendmagazine. Doch erst nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg 1918 reifte er zu einem meisterhaften Autor übernatürlicher Geschichten heran. Seine besten Werke entstanden in den 1920er Jahren, einer Zeit, in der die Gespenstergeschichte eine ihrer zahlreichen Renaissancen erlebte. Dennoch ist sein Werk hierzulande weitgehend unbekannt: Eine deutsche Ausgabe seiner Erzählungen gibt es bis heute nicht.

Burrages Erzählungen sind von unterschiedlicher Qualität, sie reichen von sentimentalem Pathos bis zu purem Horror und phantastischen Alternativrealitäten. Die genaue Anzahl seiner Gespenstergeschichten ist nicht eindeutig belegt, es sollen aber weit über hundert sein. Material für eine deutsche Auswahl gäbe es also genug, aber freilich fehlen hierzulande die Leser.

Smee

Die Geschichte „Smee“ spielt an einem Weihnachtsabend und folgt der beliebten Tradition klassischer Spukgeschichten: Sie wird als Erzählung in einer Erzählung präsentiert. Tony Jackson sieht sich gezwungen, seinen Freunden zu erklären, warum er sich weigert, an ihrem Versteckspiel nach dem Abendessen teilzunehmen. Um sein Zögern zu begründen, erzählt er von einem unheimlichen Erlebnis in der Vergangenheit: einem Weihnachtsabend, an dem er mit elf Freunden das Spiel „Smee“ spielte. Dieses Spiel ähnelt dem klassischen Versteckspiel, hat aber eine raffinierte Variante. Der Name leitet sich von der phonetischen Ähnlichkeit zu „It’s me“ („Ich bin’s!“) ab.

Eine Person wird per Los zum „Smee“, wobei nur sie selbst um ihre Rolle weiß. Nach dem Erlöschen des Lichts versteckt sich „Smee“, während die anderen ihn oder sie suchen. Trifft ein Spieler auf einen anderen, fragt er: „Smee?“ Antwortet der andere mit „Smee!“, zieht der Fragende weiter. Der echte „Smee“ jedoch bleibt stumm, und wer ihn findet, verharrt ebenso schweigend bei ihm – bis alle Spieler beisammen sind. Der Letzte, der den Kreis erreicht, verliert das Spiel.

Was Jackson an jenem Weihnachtsabend jedoch erlebte, ging über ein harmloses Spiel hinaus: Ein Geist hatte sich unter die Mitspieler gemischt. Das Szenario ist perfekt für eine Spukgeschichte – ein weitläufiges, altes Haus mit unzähligen Zimmern und dunklen Gängen, dazu die Warnung des Gastgebers, bestimmte Bereiche aufgrund baulicher Eigenheiten besser zu meiden. In absoluter Dunkelheit verliert sich die Orientierung, und ein ungebetener Mitspieler bleibt unbemerkt, bis es zu spät ist.

„Smee“ spielt meisterhaft mit der Angst vor der Dunkelheit. Während Weihnachten gemeinhin mit heimeligen Lichtern verbunden wird, hat es in der angelsächsischen Tradition auch eine enge Verbindung zu Geistergeschichten. Doch während viele moderne Leser mit solchen Erzählungen wenig anfangen können, weil ihnen das Gespür für subtile Atmosphäre und literarische Raffinesse fehlt, entfalten sie für Kenner ihren vollen Zauber. Wer sich auf die düstere Eleganz solcher Geschichten einlassen kann, erlebt einen Genuss – ähnlich dem Weihnachtsfest selbst.

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Betibú / Claudia Piñeiro

Ein Mann mit durchtrennter Kehle wird in seinem Haus in einem geschlossenen Viertel (Barrio Cerrado) in Buenos Aires von seiner Haushälterin aufgefunden. Hat er Selbstmord begangen? Wurde er getötet? Und wenn ja, warum? Hat sein Tod etwas mit dem Mord an seiner Frau drei Jahre zuvor zu tun? Das sind die Rätsel, denen Claudia Piñeiro in ihrem Roman Betibú auf den Grund geht. Eine Geschichte, in der sich Realität und Fiktion, Journalismus und Literatur überschneiden.

Zwar ist Piñeiro eine gefeierte argentinische Autorin, aber in ihrer Popularität stieg sich noch einmal besonders an, als sie eine Aussage zur Netflix-Dokumentation Carmel über den Tod von Marta García Belsunce machte. Sie sagte, dass ein privates Viertel ein guter Schauplatz für einen Krimi ist, weil es die klassische Trope des „locked room“ in ähnlicher Weise wiederholt: Jemand stirbt in einem verschlossenen Zimmer und der Verdächtige gehört zum engen Kreis des Opfers.

Zur Erinnerung:

María Marta García Belsunce war eine argentinische Soziologin, die am 27. Oktober 2002 tot in ihrem Haus im Carmel Country Club, einer geschlossenen Wohnanlage in Pilar, Buenos Aires, aufgefunden wurde. Zunächst wurde ihr Tod als Unfall eingestuft, da man annahm, sie sei in der Badewanne ausgerutscht und gestürzt. Eine spätere Autopsie offenbarte jedoch, dass die durch fünf Schüsse in den Kopf ermordet wurde.

Der Fall sorgte in Argentinien für großes mediales Aufsehen und führte zu mehreren Gerichtsverfahren. Ihr Ehemann, Carlos Carrascosa, wurde zunächst des Mordes schuldig gesprochen, später jedoch wieder freigesprochen. Im Jahr 2022 stand ihr ehemaliger Nachbar, Nicolás Pachelo, vor Gericht, wurde aber ebenfalls freigesprochen. Bis heute bleibt der wahre Täter unbekannt.

Dieser Mord war also eine der Ausgangsideen für Betibú. Eine Frau wurde tot in einem Landhaus aufgefunden. Zunächst wurde es als Unfall abgetan, doch es handelte sich zweifellos um einen Mord. Der Fall schockierte auch im Roman die Gesellschaft und wurde monatelang fast ausschließlich in den Medien behandelt. Jahre vergingen, und die Justiz fand den Schuldigen nie. Die meisten Menschen glauben, dass der Mörder ihr Ehemann war. Pedro Chazarreta in der Fiktion, Carlos Carrascosa im oben geschilderten Fall. Der Roman beginnt mit Chazarretas Tod.

Betibú ist der Spitzname der Protagonistin. Nurit Iscar, eine Bestseller-Krimiautorin, ist in doppelter Hinsicht frustriert: von ihrem ersten Liebesroman – einem Flopp – und von der Beziehung, die ihn inspiriert hat. In den Fünfzigern ließ sie sich vom Vater ihrer Kinder scheiden und setzte auf ihre große Liebe, Lorenzo Rinaldi, den Herausgeber eines der beiden wichtigsten Printmedien des Landes. Doch er machte nur leere Versprechungen und verließ seine Frau nie.

Ihr Spitzname ist das argentinische Wort für Betty Boob, eine der bekanntesten Cartoonfiguren der 1930er Jahre. Sie war eine der ersten weiblichen Animationsikonen und tauchte erstmals in den 130er Jahren als anthropomorphe Pudeldame auf, die sich aber schnell zu einer menschlichen Figur mit schwarzen Locken, einem markanten Flapper-Stil und einem frechen Charme entwickelte. Und Nurit sieht dieser Figur also ähnlich. In diesen unzähligen kleinen Geschichten, die sich in diesem Roman zusammenfinden wie mehrere kleine Bäche sich zu einem Hauptstrom vereinen, wird auch erzählt, wie sich Betty Boob auf Nurit Iscar anwenden ließ. Ohnehin sind hier viele Popkulturelle Verweise zu finden, und natürlich wird auch Julio Cortázar erwähnt.

Betty Boob
Betty Boob; (c) Fleischer Studios

Die andere Hauptfigur ist Jaime Brena, Polizeireporter von Beruf, der über den Mordfall an Chazarretas Frau berichtet hatte. Auch er ist gleich doppelt frustriert. Zum einen wegen einer Trennung, zum anderen, weil er aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit Lorenzo aus seinem lebenslangen Resort verbannt und böswillig in den Gesellschaftsteil versetzt wurde, obwohl jeder weiß, dass er die beste Polizeireporter des ganzen Landes ist. Lorenzo Rinaldi verkörpert den Kapitalismus, den Ehrgeiz, die Gewinnmaximierung für das Unternehmen, wie wir es überall beobachten können: langjährige Mitarbeiter werden entlassen und durch billige Arbeitskräfte ersetzt. Natürlich steht dieser Typ auch für das Zeitalter des Postmodernismus, den Hedonismus, die ständige Suche nach dem unmittelbaren Vergnügen, die Oberflächlichkeit.

Es gibt zwei Hauptschauplätze: das private Viertel La Maravillosa und die Redaktion der Zeitung El Tribuno. In Maravillosa schwingt die wirtschaftliche Ungleichheit mit, und in der Redaktion werden die Unterschiede zwischen den Generationen hervorgehoben. Das Verbrechen spielt sich im privaten Viertel ab. ab. Paradoxerweise zieht sich eine kleine Gruppe wirtschaftlich privilegierter Menschen hier in ein Paradies aus Natur und Entspannung zurück, um sich vor der Unsicherheit in den Großstädten der Dritten Welt zu schützen. Niemand kann sich vorstellen, dass die Gefahr von innen kommen könnte. Die Oberschicht von Buenos Aires, die Herren und Meister dieser Ländereien innerhalb der Mauer, und das Personal, das sie für Hausarbeit und Freizeitgestaltung brauchen: Dienstmädchen, Gärtner, Hausmeister, Tennis- und Golflehrer usw., leben dort zusammen. Die Grundbesitzer setzen ihre Regeln durch, um ihre materiellen Güter zu schützen, sogar über die Gesetze des Staates hinaus. Nurit, die keiner dieser beiden Schichten angehört, beobachtet und rügt diese eingebürgerten Verhaltensweisen in diesem Stadtviertel.

Dazu muss man wissen, dass diese sogenannten Countrys in Buenos Aires sich hauptsächlich in der Peripherie der Stadt, insbesondere in den nördlichen Vororten wie Pilar, Escobar und Tigre befinden und bereits in den 1940er Jahren nach US-amerikanischem Vorbild gebaut wurden. Zunächst wurden sie als Wochenendresidenzen für wohlhabende Stadtbewohner genutzt, aber als in den 1990ern die Kriminalität in Buenos Aires zunahm, entschieden sich viele obere Mittelschichtsfamilien, dauerhaft in diese geschlossenen Siedlungen zu ziehen.

In der Redaktion von El Tribuno hingegen arbeiten der Journalist von gestern mit Stift und Papier und die neuen akademischen Journalisten des digitalen Zeitalters, deren Hauptinformationsquelle Google ist, Seite an Seite. Die gegensätzlichen Gewohnheiten der Babyboomer und der Millennials treffen in diesem Raum aufeinander und werden durch Jaime Brena und „den Neuen“ repräsentiert. Gleichzeitig wird die Zeitung von ihrer unternehmerischen Seite gezeigt, wo Entscheidungen auf der Grundlage wirtschaftlicher Ziele getroffen werden.

Der „Neue“, der von fast jedem nur „Junge“ genannt wird, ist zwar jetzt für die Polizeidokumentation zuständig, aber da Brena sein Leben diesem Bereich gewidmet hat, verfügt er über wichtige Kontakte: hochrangige Polizeibeamte, Staatsanwälte und Kenntnisse der Gerichtsmedizin, also beschließt er, seinem Nachfolger zu helfen. Brena gibt Tipps aus der Praxis, unter anderem, wie man Belletristik liest, und vor allem, was man lesen soll.

Nurit hingegen wird ihre Erfahrungen als Schriftstellerin nutzen, um ihre Intuitionen und Erkenntnisse festzuhalten und sie mit den Lesern von El Tribuno zu teilen. Eine Non-Fiction-Geschichte in der Art, wie es Truman Capote mit „Kaltblütig“ machte. Sie trifft sich auch mit ihren Freundinnen und diskutiert über das Leben, die Liebe, das Vergehen der Zeit und kulturelle Ausdrucksformen wie Theater, Kino und Bücher.

Ausgehend vom Mord an Chazarretas Frau reflektieren sie über die große Zahl unaufgeklärter Verbrechen an Frauen, die sich im kollektiven Gedächtnis Argentiniens angesammelt haben. Norma Mirta Penjerek, Oriel Briant, Dr. Giubileo, María Soledad Morales, María Marta García Belsunce und viele andere. Der Roman bekräftigt, dass es keine unaufgeklärten Verbrechen an Männern, keine unaufgeklärten Morde an Männern gibt. Und auch wenn das nicht ganz richtig ist, fußt die Tendenz dennoch auf einer bitteren Wahrheit.

Die Morde im Roman gehen weiter und die Figuren entdecken, was hinter all diesen Todesfällen steckt. Im Laufe der Geschichte finden sie die Antworten auf die Frage, wer es getan hat und warum. Der erste Mord (an Chazarretas Frau), bleibt wie in der Realität: unaufgeklärt. Die anderen werden zwar aufgeklärt, aber der Roman zeigt uns das große Ganze, die Opfer, die Täter und, was uns die Realität immer verwehren wird: die wirklichen Ursachen.

Claudia Piñeiro setzt durch ihre Figuren – die Schriftstellerin und die Journalisten – das Puzzle zusammen. Sie verwendet Teile, die wir leider jeden Tag in den Medien sehen, aber sie zeigt uns auch die Dinge, die von Geld und Machtmonstern gekauft und später vertuscht werden, um jeglicher Strafe zu entgehen. Die Erzählung erfolgt in der dritten Person und mit Zugang zu den Gedanken der Hauptfiguren. Alle Charaktere, auch die Nebenfiguren, sind leicht zu erkennen, obwohl sie erzählerisch ineinandergleiten, so dass sie in einem Atemzug dargestellt werden. Auch die Beschreibung der Schauplätze ist präzise. Betibú wurde 2014, vier Jahre nach seinem Erscheinen, verfilmt. Ist aber nie bei uns erschienen und hat noch nicht einmal einen deutschen Untertitel, was natürlich Bände spricht.

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Roderers Eröffnung / Guillermo Martinez

Roderer ist ein „zerebraler Held“, der eifrig und manisch nach der Möglichkeit eines „neuen Denkens“ sucht, das der aristotelischen binären Logik (Sein oder Nichtsein), die er als starres Korsett und philosophisches Gefängnis betrachtet, entkommt, um das „ausgeschlossene Dritte“ zu finden. „Etwas“, wie er sagt, zwischen Sein und Nichtsein, vermutet er in den Schöpfungen der Kunst. Es ist eine Analyse des Seins des Menschen und des Seins der Sprache, die die tiefe Verbindung zwischen ihnen berücksichtigt, wie Michel Foucault sie in den 1970er Jahren vorschlug und ihr den Status einer entscheidenden Frage des zeitgenössischen Denkens zuschrieb. Im Schatten dieses Gedankens (und des Poststrukturalismus im Allgemeinen) scheint Roderers einsames und herzzerreißendes Genie zu wachsen, der binären Logik zu entkommen, Nietzsche folgend, sich im Wandel, in den Fluktuationen zu behaupten und die verlorenen Verbindungen, die Zwischenzustände des Denkens wiederzufinden.

Roderers intellektuelles Bemühen gerät auf eine schiefe Bahn, wenn er sich seinen „Erleuchtungen” hingibt, sich im Konflikt mit den Göttern und der Zeit des Todes wähnt und mit seiner Krankheit, seinem Schmerz und seiner unvorstellbaren Einsamkeit nicht zurechtkommt. Das narrative Design, das Roderers Leben umgibt, folgt einer binären Logik, die in Gegensätzen und Zwielicht verharrt – wie das Leben selbst –, von dem er sich zu isolieren versucht, um seinen „Blick in den Abgrund“ zu wagen. Das luzide Schachspiel, das schulische Wissen und die Selbsterziehung, die Intelligenz und das Genie, Cambridge und die Falklandinseln, das universitäre Wissen und die heilige Vision von Machu Picchu, der Himmel und die Hölle – kurz: die Funktionsweise und Vereinfachung der Intelligenz – wiederholen sich bis zur Hartnäckigkeit. Roderer kämpft gegen diese Tradition an – allein und krank.

Man könnte meinen, dass die Handlung dieses Romans ausschließlich aus der intellektuellen Beziehung zwischen Roderer und dem Erzähler besteht. Da es sich jedoch um eine Allusion handelt, ist dies ein guter Ausgangspunkt, um den Inhalt einer Beziehung zu verstehen, die nicht in den Bereich der Freundschaft, sondern in den eines eventuellen Wettstreits ungewöhnlicher Intelligenzen fällt und somit in die letzte Bedeutung der Suche nach Antworten auf den Schmerz des Daseins eintaucht.

Roderer kommt in die Stadt Puente Viejo, um dort die weiterführende Schule zu besuchen. Er lebt allein mit seiner Mutter, einer aufopferungsvollen Frau, die versucht, alle Bedürfnisse des wissbegierigen Teenagers durch die zahllosen Bücher zu decken, die ihn überallhin begleiten – auch in die neue Schule. Dort sucht er Zuflucht in ihnen und versucht, seinen Platz und seinen Sinn im Leben zu entschlüsseln. Zu Beginn wird er in einem komplexen Kräftemessen in einer Schachpartie mit dem Erzähler konfrontiert. Dieser ist ein hervorragender Spieler und erlebt mit, wie Roderer ihn nach und nach geistig erstickt und schließlich besiegt – fast so, als wäre es eine reine Formalität gewesen.

Doch ab diesem Moment wird der Protagonist und Erzähler Teil von Roderers Existenz – und umgekehrt. Die beiden befruchten sich in einem bisweilen einseitigen Dialog gegenseitig, denn Roderer scheint ein tragischer Erleuchteter zu sein. Er nimmt die Wirklichkeit jenseits des Unmittelbaren mit einer verblüffenden Klarheit wahr. Was Roderer bei diesem Kräftemessen wirklich antreibt, ist der Wunsch, eine Art Resonanzboden vor sich zu haben. Seine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt erfordert jemanden, der die Tiefe seines Verstandes begreift.

Roderer beschäftigt sich mit Autoren, die der Mehrheit unbekannt sind und die sein ungewöhnliches Wissen nähren. Zusammen mit seiner besonderen Intelligenz bringt es ihn an den Rand des Ungleichgewichts. Aus der Geschichte unseres Protagonisten ergibt sich, dass die anderen, weil sie substanzlose Wesen sind, eine banale Realität gestalten, die ihnen aber zusagt. Andererseits trägt Roderer den untrüglichen Stempel einer bestimmten Sorte von Genies, die sich nicht in ein menschliches Universum einfügen können und wollen, da sie dieses in Form und Inhalt verabscheuen.

In der Schule wird er als seltsames, zurückgezogenes Individuum wahrgenommen, das sich von seinen Mitschülern entfernt. Dennoch übt er eine unausweichliche Anziehungskraft auf Frauen aus. Cristina, die schöne Schwester des Erzählers, ist schließlich von der geheimnisvollen Atmosphäre, die Roderer ausstrahlt, geblendet, ohne es zu wollen. In dieser Perspektive wird auch Daniela Rossi, ein junges Mädchen, eine ungesunde Verehrung für Roderer empfinden. Diese geht so weit, dass sie auf alarmierende Weise an Gewicht verliert, was in einer fulminanten Magersucht mündet, die mit ihrem Tod endet. Dieses beunruhigende Ereignis führt zu Roderers dauerhaftem Rückzug vom Studium.

Seine Misanthropie verschlimmert sich. Er schließt sich in seinem Zimmer ein und verlässt es kaum noch. Tag und Nacht ist er in seine beklemmende Lektüre vertieft. Der Erzähler kommt zu ihm und sie führen umständliche Gespräche über Roderers unstillbare Suche. Dabei gehen sie Spinoza, Thomas de Quincey und seine Ausflüge in das Opium als Wunderdroge, Hölderlins Texte und seine strengen Analysen der Verbindung mit dem Teufel als Substrat seiner Werke sowie schließlich Nietzsche, Goethe und Heidegger durch. Schließlich gelangen sie zu dem großen fiktiven Satz von Seldom, der die Mathematik revolutionierte und den der Erzähler Roderer nach seinem Eintritt in die Universität nahebrachte.

Dies ist auch ein wesentlicher Teil des unvorhersehbaren Schlusses des Romans. Roderers obsessive Suche nach dem Sinn des Daseins ist das, was Nietzsche als „die neue menschliche Erkenntnis” bezeichnete. Das Werk verführt uns nicht nur mit dem Talent seines Autors, sondern berührt uns auch mit dem trostlosen Leben Roderers: eine einzigartige Figur, die es nicht geschafft hat, irgendwo hinzugehören, obwohl sie vielleicht ihre eigene Welt gewonnen hat.

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Der Fall Alice im Wunderland / Guillermo Martinez

Der Fall Alice im Wunderland
Guillermo Martínez: Der Fall Alice im Wunderland

Mit „Der Fall Alice im Wunderland“ gewann Martinez 2019 den spanischen Nadal-Preis und ist die Fortsetzung von Die Oxford-Morde. Beide Romane können dennoch völlig unabhängig voneinander gelesen werden. Was sie verbindet ist der Schauplatz Oxford und die Figuren des berühmten Logik-Professors Arthur Seldom, des argentinischen Studenten Martin, sowie des Polizeiinspektors Petersen. Mit ein paar Sätzen verlässt Guillermo Martínez den vorherigen Roman, einen Fall, der eigentlich schon abgeschlossen war, um sich auf diese neue Geschichte zu konzentrieren, eine Geschichte, deren Hauptfigur nicht Seldom oder Martin ist, sondern Lewis Carroll und das Universum von Alice im Wunderland.

Der Roman basiert auf realen Ereignissen, wie dem Fund eines Zettels, der den Inhalt der aus den Tagebüchern von Lewis Carrol herausgerissenen Seiten zusammenfasst, um einen völlig fiktiven Mordfall zu schaffen.

Dies geschieht in einem sehr britischen Stil, nicht nur wegen des Schauplatzes Oxford, sondern auch, weil er, wie schon bei den Oxford-Morden, unweigerlich an den Stil der Romane von Agatha Christie erinnert. Denn obwohl er an mehr Schauplätzen spielt als sein Vorgänger, könnte er sehr gut als Theaterstück umgesetzt werden. Es gibt wahrscheinlich mehr Dialoge und Überlegungen als Handlung.

Lewis Carroll
Lewis Carroll

Die Geschichte des Romans dreht sich um eine Gruppe von Fans von Lewis Carroll, dem Autor von Alices Abenteuer im Wunderland, eine Bruderschaft, die nicht nur das Werk und das Vermächtnis des Schriftstellers bewahrt, sondern auch seinen Mythos pflegt und sein Andenken schützt. Unter ihnen ist auch Seldom. Es ist ein heikles Thema – vielleicht heute mehr denn je, auch wenn der Roman vor einem Vierteljahrhundert spielt -, denn wie wir wissen, wurde das Werk, das Carroll, der eigentlich Charles Dodgson (1832-1898) hieß, unsterblich machte, von einer der Töchter eines gewissen Henry Liddell, seines Dekans am Christ Church College in Oxford, inspiriert. Dodgson, der Mädchen liebte und ein erfahrener Fotograf war, brachte diese beiden Leidenschaften zusammen und porträtierte Liddells Töchter – wie auch viele andere Mädchen – bei zahlreichen Gelegenheiten. Die Grenze zwischen dieser freizügigen Faszination und ihren dunkleren Konnotationen war schon immer eine Quelle von Konflikten, die zweifellos durch die Falten einer Epoche – der viktorianischen – genährt wurden, deren moralische Strenge voller Widersprüche war.

Alice Liddell
Alice Liddell als Bettlerin

Die Handlung des Romans wird durch das Auftauchen eines kleinen Zettels ausgelöst. Darauf notiert eine von Carrolls Nichten, misstrauisch, aber letztlich schuldbewusst, das Wesentliche dessen, was auf einer der Seiten stand, die sie aus den Tagebüchern des berühmten Schriftstellers herauszureißen beschloss. Das Seltsame ist, dass dieses Blatt von all jenen, die sein Leben bis ins kleinste Detail erforscht haben, darunter auch Mitglieder der Bruderschaft, unbemerkt blieb. Diese wenigen Zeilen, so scheint es, könnten die Perspektive, aus der Carroll bisher betrachtet und beurteilt wurde, erheblich verändern. Sie würden unter anderem die Gründe für seinen Bruch mit der Familie Liddell offenbaren. Die bevorstehende Veröffentlichung der Tagebücher wirbelt alle möglichen Gespenster auf und es geschehen Morde, die direkt aus Carrolls Büchern entnommen zu sein scheinen.

Martinez ist ein überzeugter Anhänger des Klassizismus, und seine Herangehensweise an die „weiße“ Polizeiarbeit (bei der nur der Verstand zur Lösung kommt und alle Emotionalität hinten angestellt wird) ist ein Bekenntnis zu seinen Prinzipien. Die Darstellung der Charaktere – die weiblichen sind vielleicht am gelungensten -, die Entwicklung der Handlung und ihr Fortschreiten bis hin zur Auflösung der Schleier am Ende entsprechen bestimmten Klischees des klassischen Kriminalromans, und es steht außer Frage, dass er sie mit Geschick wieder aufgreift. Am besten ist der Roman jedoch, wenn er seine Vorlage aus den Augen verliert, insbesondere, wenn er in die Zwischenräume und Zweideutigkeiten von Carrolls geheimnisvollem Leben eintaucht.

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Watchmen / Alan Moore

Dem Autor Alan Moore, dem „Zauberer” hinter „V wie Vendetta”, „Batman: The Killing Joke”, „From Hell” und vielen anderen Titeln, ist es gelungen, seine zeitgenössischen Ideen auf revolutionäre Weise durch das Medium Comic zu vermitteln. Indem er sich mit universellen Konzepten auseinandersetzte und sie durch Symbolismus und Satire aufschlüsselte, erregte er schnell die Aufmerksamkeit der Welt. Er wurde zu einem wichtigen Einfluss in der Populärkultur, denn sein Werk besitzt bis heute eine unvergleichliche Relevanz für die moderne Politik und Philosophie. Zu seinen bedeutendsten Comics gehört das mit dem Hugo Award ausgezeichnete Hauptwerk „Watchmen”, das mit seiner Erzählung, seinen Themen, seinen Figuren und seiner philosophischen Botschaft die Comic-Industrie schlagartig veränderte.

Die Geschichte von „Watchmen” ist in einer alternativen Realität angesiedelt, die sich am Zustand der Welt in den 1980er Jahren orientiert. Sie ist ein ausladender Kommentar zum Superheldenkonzept und seinen persönlichen sowie politischen Implikationen vor dem Hintergrund eines drohenden Atomkriegs. Zwar absolviert Richard Nixon hier mehrere Amtszeiten als Präsident der Vereinigten Staaten und die Vereinigten Staaten gewinnen den Vietnamkrieg, doch die zentrale Wendung dieser realistisch dargestellten Geschichte ist die Existenz von Superhelden und ihre Verantwortung für die Entwicklung der internationalen Beziehungen und die Verbrechensbekämpfung. Während die Spannung ins Unermessliche steigt, deutet der Mord an einem ehemaligen Helden auf ein größeres Komplott hin. Aufgrund des Keene-Gesetzes sind Vigilanten nun illegal und ihre Aktivitäten sind untersagt.

Alan Moore hat sich eines Themas angenommen und eine realistische und doch nihilistische Sicht auf Superhelden vorgelegt, wie es sie vorher noch nie gegeben hat. Durch seine vielschichtige, nicht-lineare Erzählweise bietet er eine intime und doch universelle Geschichte, die den Wahnsinn der Welt durch die Augen von Vigilanten betrachtet. Diese haben ihre Bestimmung in Handlungen gefunden, die darauf ausgerichtet sind, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Ob diese Helden für die Regierung arbeiteten oder nicht, war nicht entscheidend für das Verständnis der keineswegs neuen Erkenntnis, dass die Menschheit zu Schrecken jenseits unserer Vorstellungskraft fähig ist. Anhand verschiedener komplexer Charaktere – vom schwer fassbaren, zwanghaften Rorschach bis hin zum göttlichen, rätselhaften und introspektiven Dr. Manhattan – wird in einer zwölfteiligen Serie ein kritischer Kommentar zur Motivation von Helden präsentiert.

Die schonungslose Sezierung der Superhelden und die fesselnde Krimihandlung sind jedoch nicht die einzigen Eigenschaften dieses Comics. Zeichner Dave Gibbons verdient ebenso viel Lob für dieses bahnbrechende Werk, denn sein Neun-Panel-Raster ist eines der ikonischsten Elemente dieser Geschichte. Die dialoglosen Seiten zeigen eine unglaubliche emotionale Bandbreite und bestätigen das Sprichwort, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt. Der ehrgeizige und selbstbewusste Künstler zögert nicht, die Hauptfiguren zu ignorieren und sich auf die Umgebung zu konzentrieren, um die starke Symbolik der Geschichte zu vermitteln. Tatsächlich gibt es in der gesamten Geschichte erstaunliche Wort- und Bildspiele, die bis ins kleinste Detail analysiert werden können und die Erzählung meisterhaft perfektionieren. Dies hilft auch bei der Illustration einiger der besten Übergänge zwischen den Panels. Letztendlich dient das Artwork als tadelloses Gefäß, um diese erschütternde und doch fesselnde Tragödie zu erzählen, die auf ihrer selbst konstruierten, atemberaubenden Mythologie aufruht.

Dieses Buch wurde seit seiner Erstveröffentlichung endlos zerpflückt. Jedes Bild wurde mikroskopisch genau untersucht, die Handlung, die Charaktere und die Symbole wurden nicht weniger ausführlich analysiert als jene der Odyssee. Die Fans dieses Buches sind wie die Fans aller anderen Bücher auch äußerst einnehmend und streitlustig. Wenn man ein Buch wie dieses zum ersten Mal liest, wird man wahrscheinlich weniger Kritik üben, sondern eher eine intellektuelle Angleichung vornehmen. Was gesagt werden konnte, wurde wahrscheinlich schon gesagt; die Frage ist nun, mit wem man übereinstimmt.

„Watchmen“ ist groß, wichtig, brillant – und unerträglich. Es ist mythisch, düster. Es ist fantastisch und dumm. Auf seinen Seiten gibt es Helden, Antihelden und riesige, blaugesprenkelte Superhelden. Es gibt Aliens, straßenkämpfende Lesben und Piraten. Zweideutig böse Genies und durchschnittliche New Yorker sind ebenfalls dabei. Wenn die Gewalt nicht intim ist, dann ist sie global. Wenn der Sex nicht zärtlich ist, dann ist er schmutzig. Die Geschichte von „Watchmen” ist zum Teil ein Krimi, zum Teil ein philosophisches Traktat. Der Schreibstil ist heftig, bahnbrechend, verkniffen und pedantisch. Die Kunst ist stets steif, aber immer angemessen.

Watchmen ist alles. Manchmal ist es sogar langweilig.

Obwohl „Watchmen“ als bahnbrechende Graphic Novel bezeichnet wird, lässt sich die Frage, was eine Graphic Novel ist, kaum klären. Das Time Magazine hat ihn zu einem der 100 besten Romane des Jahrhunderts gekürt. Dabei ist „Graphic Novel“ einfach das Etikett der Wahl für diejenigen, die lieber nicht beim Lesen von Comics erwischt werden wollen.

Eine der wichtigsten Figuren ist Dreiberg. Er ist kein Held mit Superkräften, aber auch nicht ganz gewöhnlich. Er ist ein Post-Superheld: Seit die Regierung maskierte Verbrechensbekämpfer verboten hat, hängt sein Nite-Owl-Kostüm im Schrank und sein cooles Luftkissenfahrzeug verstaubt im Keller. Aufgrund seines Übergewichts ist sein Selbstvertrauen geschwächt, sodass er sich nur aus der Ferne für Dr. Manhattans kurvige Freundin Laurie begeistern kann. Dr. Manhattan steht außerhalb der Zeit. Als Opfer eines nuklearen Unfalls kann er über Wasser laufen, durch Wände gehen und in einem Anfall von Wut sogar zum Mars fliehen und dort schmollen. Die Geschichte beginnt jedoch mit Rorschach im Trenchcoat – einsilbig und vermutlich geisteskrank – und seiner Vermutung, dass jemand es auf die Maskierten abgesehen hat. Während sich Recht und Unrecht um ihn herum ständig verschieben, ist Rorschach ironischerweise derjenige, der konstant bleibt. Er ist das schreckliche Gewissen von „Watchmen“.

Die Handlung ist komplex und äußerst anspielungsreich. Neben der Haupthandlung gibt es mehrere Hintergrundgeschichten sowie eine alternative Geschichte, die sich im Hintergrund abspielt. Es gibt Darstellungen und Parodien auf die unterschiedlichsten Medien: Comics, Zeitungen, Fernsehen, Werbung, Zeitschriftenartikel usw. Zudem gibt es endlose Verweise auf die jüngere amerikanische Geschichte, die Antike, Philosophie, Poesie, populäre Musik, andere Comics und „Watchmen“ selbst.

Die verschiedenen Symbole des Comics – Uhren, Pyramiden und Dreiecke, das berühmte blutbespritzte Smiley-Gesicht, Masken, Tintenkleckse, Vögel und Schmetterlinge, Atome, Parfüm, Knoten, Spiegel und Reflexionen u.v.a.m. – wirken dagegen fast schon konkurrenzlos unsubtil. Pyramid Deliveries. Prometheus Cab Company. Gordian Knot Lock Co. Nostalgie-Parfüm. Utopia Theater.

Einige Handlungselemente wirken überflüssig und einen Schritt zu gewollt. An erster Stelle steht der Piratencomic im Comic. Die Tatsache, dass die Piraten die Superhelden als Thema der Comics abgelöst haben, deutet darauf hin, dass die Welt der „Watchmen” vielleicht düsterer und weniger idealistisch ist als unsere eigene. (Zumindest ist sie düsterer als die Zeit, in der Superhelden die Comics beherrschten.) Doch was ist mit einer Welt, in der Comics wie „Watchmen” dominieren? Moore übertreibt es jedoch, indem er ein morbides Piratenabenteuer einführt, das während der gesamten „Watchmen”-Geschichte Parallelen und Kommentare zur Haupterzählung aufweist. Zunächst ist es ein netter Trick, doch wenn es Kapitel für Kapitel wieder auftaucht, fragt sich der Leser: Was soll das?!? Der Autor des Piratencomics taucht sogar in einer Nebenhandlung auf, hat aber kaum Wirkung.

Die Grafik ist selbstbewusst, manchmal jedoch auch übermäßig konservativ: Die Kiefer sind quadratisch, die Seiten sind stets in neun Panels unterteilt. Das Ergebnis ist eine interessante formale Spannung zwischen einem altmodischen Look und bahnbrechenden Texten. Eine komplizierte Handlung und ein ausgeklügeltes Layout greifen ineinander wie – was sonst? – ein Uhrwerk. Das ist auf technischer Ebene interessant. Es gibt jedoch Momente, in denen sich alles sehr nach der Maschinerie des Plots anfühlt. Dadurch verliert die Geschichte an Leben.

Es wird deutlich mehr Zeit auf die Figuren als auf die Geschichte verwendet. Das ist ein weiteres Indiz dafür, warum „Graphic Novel” als Etikett funktionieren könnte – wenn man dazu geneigt ist. Charaktere wie Dan Dreiberg, Laurie Juspeczyk und ihre Mutter Sally Jupiter sind allesamt erkennbar menschlich und äußerst dreidimensional dargestellt. In ihrer Welt ist alles kompliziert, ironisch und unangenehm.

Was Rorschach, Dr. Manhattan und den von Alexander besessenen Geschäftsmann Ozymandias betrifft, hätte man sich in einer anderen literarischen Inkarnation vorstellen können, dass sie einen langen, erholsamen Spaziergang vor dem Internationalen Sanatorium Berghof gemacht hätten, während sie mit ihren Stöcken klickten und über die Auswirkungen des Determinismus nachdachten. Leider werden sie in „Watchmen“ auf die ganze Erde und sogar auf den Mars losgelassen. Sie sind kaum mehr als mythisch-philosophische Typen mit gequältem Vokabular. Sie schweben über unserer bloßen Sympathie oder Empörung.

Ein weiteres Problem bei „Watchmen” ist die Wirkung, die der Comic auf das Medium selbst und sein Publikum hatte. Die Comicfirmen haben aus „Watchmen” die falsche Lektion gelernt. Anstatt neue Wege zu finden, um bekannte Geschichten zu erzählen, dachten die Autoren und Künstler im Grunde, dass die Gewalt und die „Reife” dafür verantwortlich waren, dass „Watchmen” so beliebt war. „Reife” bedeutet jedoch mehr als nur Blut und unanständige Worte. Das wusste „Watchmen”, seine Nachahmer in den Jahren danach jedoch nicht. Anstatt dem Beispiel von „Watchmen” mit seiner Tiefe, seinem sozialen Kommentar und der Art und Weise, wie es das Medium nutzt, zu folgen, wurden die Comics einfach nur düsterer statt komplexer. Das hat die Comics verändert – jedoch nicht immer zum Besseren.

„Watchmen“ ist durchweg ernsthaft und äußerst ehrgeizig. Es ist groß und strebt danach, wichtig zu sein, aber zu oft ist es einfach nur selbstgefällig. Moores Texte strotzen nur so vor Überheblichkeit und werden von Zeit zu Zeit zu einer Parodie ihrer selbst.

In „Watchmen“ gibt es einen herzzerreißenden Moment. Er ereignet sich am Ende des vorletzten Kapitels, wenn der Videomonitor weiß wird und alles entsetzlich still ist. Dieser Moment ist wie geschaffen für einen Mythos, für eine Geschichte, in der es um das Unbekannte geht, um das, wofür wir zunächst keine Worte haben. Der Mythos blickt in das Herz einer großen Stille. Bemerkenswert an „Watchmen“ ist die Art und Weise, wie methodisch und manchmal grausam die „essentielle Albernheit” seiner Charaktere entlarvt wird (um Moore in seinem Vorwort zu The Dark Knight Returns zu zitieren), während gleichzeitig der Geist und die Mission des Mythos aufrechterhalten werden.

Und das, obwohl Mythen und Romane, oder Comics und Romane, traditionell ein Widerspruch in sich sind. Sicher, Mythen mögen sich manchmal wie Romane lesen, aber die beiden Formen haben eigentlich nichts gemeinsam. Selbst die experimentellsten Fiktionen müssen sich bis zu einem gewissen Grad auf psychologischen Realismus stützen; ohne ihn wären ihre Figuren unerkennbar und ihre Handlungen uninteressant. In den Mythen hingegen geht es genau um dieses Widersprüchliche und das Unerklärliche. Das Leere. Das Schweigen.

Letztendlich überwiegt jedoch die visuelle Komplexität von „Watchmen“ viele seiner literarischen Schwächen. Es ist interessant anzuschauen. Und die Welt, die Alan Moore erschaffen hat, ist so umfassend und tiefgründig erdacht, dass sie einen in ihren Bann zieht und am Ende nicht mehr loslässt.

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Dennis Etchison: Blut und Küsse

Dennis William Etchison gilt als einer der originellsten lebenden Horror-Autoren Amerikas, gewann dreimal den British Fantasy Award als Autor und einmal den World Fantasy Award als Herausgeber.

The Blood Kiss (dt. Blut und Küsse) war Etchisons dritte Sammlung von Stories, die doch tatsächlich (und man wundert sich) von Bastei/Lübbe 1990 als bisher einzige Veröffentlichung des Meisters psychologischen Horrors auf deutsch erschien. Vermutlich ein Zufall, denn mit der Klasse, mit der Etchison aufwartet, lässt sich kein goldener Bart finanzieren. Das erklärt auch, warum er in Deutschland nahezu unbekannt ist und es kaum einer unserer Verlage angehen wird, diesen großartigen Autor für das hiesige Lesepublikum zu erschließen.
Der Reiz von Etchisons Geschichten, die er selbst so beschreibt:

„… ziemlich dunkel, bedrückend, fast pathologisch nach innen gerichtete Fiktionen über den Einzelnen und sein Bezug zur Welt,“

wird von ihrer Skizzenhaftigkeit erzeugt. Geschehnisse werden anders beleuchtet als gemeinhin üblich. Hinter den Zeilen entsteht eine Menge dunkler Raum, der angereichert ist mit Unbenennbarkeiten. Er lädt ein, sich in ihm zu verlieren, es gibt keinen Weg zurück. In diese Texte dringt man ein oder man bleibt außerhalb stehen. Einen Mittelweg gibt es nicht. Die Sätze nehmen den Leser weder bei der Hand, noch lullen sie ihn ein. Am Ende bleibt das trockene Gefühl auf der Zunge, das Gefühl, etwas Verbotenes beobachtet zu haben, das man nicht ganz versteht, obwohl man es doch gesehen hat; wie ein Alptraum, an den man sich am Morgen nicht mehr erinnern kann. Roh liegen diese Texte vor uns, scheinen keinen Körper zu besitzen, keinerlei Oberfläche, bestechen durch ihre raffinierte Tiefe und einen einzigartigen Stil.

Bouquinist

Adiós, Hemingway

Adios Hemingway

Von 1939 bis 1960 lebte Ernest Hemingway (1899-1961) in Kuba auf der Finca Vigía, etwa 24 Kilometer von Havanna entfernt, obwohl er sich in dieser Zeit auch in anderen Teilen der Welt aufhielt. Nach dem historischen Ereignis in der Schweinebucht 1961 (eine gescheiterte, von der CIA forcierte Operation gegen das Kubanische Regime) enteignete die Kubanische Regierung das Anwesen und die Bibliothek des Schriftstellers, die zwischen 4.000 und 6.000 Bände umfasste. Hemingway wurde aus verschiedenen Gründen vom FBI überwacht, unter anderem weil er während des spanischen Bürgerkriegs auf der Seite der Republikaner stand, „kommunistische“ Freunde hatte und zuletzt in Kuba lebte.

Dies ist der historische Hintergrund des wunderbaren Romans Adiós, Hemingway des Kubanischen Schriftstellers Leonardo Padura (Havanna, 1955), den er auf Wunsch seines brasilianischen Verlegers für eine Reihe mit dem Titel Literatura o Muerte (Literatur oder Tod) schrieb. Padura ist der Schöpfer des heute international bekannten Kubanischen Ermittlers Mario Conde, und hatte vor, seiner Hauptfigur nach seiner Havanna-Quartett-Tetralogie, bestehend aus den Romanen Ein perfektes Leben, Handel der Gefühle, Labyrinth der Masken und Das Meer der Illusionen, eine Pause zu gönnen, war aber interessiert an der Idee seines Verlegers, über einen Schriftsteller zu schreiben.

Padura entschied sich für Hemingway, einen Autor, mit dem ihn eine Hassliebe verband, wie er uns im Vorwort des Buches mitteilt, und so wandte er sich wieder seinem Ermittler zu und übertrug seine Obsessionen auf Conde, der am Ende der Tetralogie seinen Posten bei der Polizei von Havanna aufgibt, um Schriftsteller zu werden; in Adios, Hemingway lernen wir also den ehemaligen Inspektor als angehenden Schriftsteller kennen, der seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf gebrauchter Bücher verdient. James Parker schrieb in seiner Rezension für die New York Times: „Der ehemalige Inspektor Conde ist der literarische Amateurdetektiv, von dem jeder Paul Auster-Leser träumt.

Als Conde 1960 als kleiner Junge Hand in Hand mit seinem Großvater spazieren ging, sah er Hemingway am Strand. Als junger Mann begann er unter dem Einfluss Hemingways zu schreiben und unternahm mit seinen Schulfreunden Ausflüge zur Finca Vigía, dem Haus des berühmten Schriftstellers, der während seines Aufenthalts in Kuba den Nobelpreis erhielt. Als er älter wurde, stellte er fest, dass Hemingway nicht immer ein guter Mensch war, dass er ein Gringo war, der die Kubaner nie wirklich verstand, obwohl er zwei Jahrzehnte in diesem Land gelebt hatte. Dennoch blieb er als Autor im Mittelpunkt von Condes literarischem Leben.

Ende der 1990er Jahre erhält Mario Conde Besuch von seinem ehemaligen Arbeitskollegen, der ihm mitteilt, dass auf dem Gelände der Finca Vigía die sterblichen Überreste eines seit etwa 40 Jahren toten Mannes gefunden wurden, der an zwei Schusswunden in der Brust gestorben war. Conde beschließt, sich an den Ermittlungen zu beteiligen, denn er weiß, dass die Gerüchteküche Hemingway beschuldigen wird, wenn der Fall, der aufgrund der zeitlichen Distanz schwer zu recherchieren ist, nicht aufgeklärt wird.

Adiós, Hemingway schildert diese Ermittlungen, erzählt aber auch in eingeschobenen Kapiteln, was in den ersten Oktobertagen des Jahres 1958 geschah, und zwar aus der Sicht von Hemingway selbst, der sich alt und müde fühlt, dem das Schreiben schwerfällt, dem das Trinken verboten ist und der dennoch trinkt, wenn auch mäßig. Ein Hemingway, der allmählich sein Gedächtnis verliert und sich dennoch mit wilder Nostalgie an sein Leben erinnert.
Die Ermittlungen sind interessant und die Entdeckungen noch interessanter. Sowohl Conde als auch der Hemingway dieser Geschichte sind zwei liebenswerte Charaktere, und der Roman ist voll von Momenten und Sätzen, die im Gedächtnis bleiben.

Unionsverlag


Bouquinist

Der Quinkunx / Walter de la Mare

Walter de la Mares „Der Quinkunx“ ist eine Geistergeschichte, die erstmals im Dezember 1906 in Lady’s Realm veröffentlicht und später für die Sammlung A Beginning and Other Stories (1955) überarbeitet wurde. Die Erzählung folgt einem namenlosen Protagonisten, der von seinem Freund Walter in ein kürzlich geerbtes Haus eingeladen wird, um ihm bei einem Problem zu helfen.

Diese Erbschaft erfolgte nach dem Tod von Walters Tante, deren Präsenz im Haus auf gespenstische Weise spürbar bleibt. Besonders ihr Porträt verhält sich unheimlich: Es dreht sich nachts auf mysteriöse Weise wieder nach vorne, obwohl Walter es explizit umgedreht oder gar entfernt hatte. Diese verstörenden Vorkommnisse deuten auf einen übernatürlichen Versuch hin, die Entdeckung eines verborgenen Geheimnisses zu verhindern. Walter bittet nun den Erzähler, im Zimmer mit dem Bild Wache zu halten, um das Rätsel zu lösen.

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Bouquinist

Was wir im Feuer verloren / Mariana Enriquez

Auch hier ist es wieder, das Phänomen einer literarischen Sprache, die unserem Land völlig abgeht. Das Buch erschien bereits 2017 im Ullstein-Verlag, ist aber bei uns völlig unbekannt geblieben.

Ein verlassenes Haus strotzt vor Regalen mit Fingernägeln und Zähnen. Ein dämonisches Idol wird auf einer Matratze durch die Straßen der Stadt getragen. Ein abgemagerter, nackter Junge liegt angekettet im Hof eines Nachbarn. Mitten in der Nacht klopfen unsichtbare Männer an die Fensterläden eines Landhotels.

Diese gespenstischen Bilder flimmern aus diesen Geschichten hervor. Ihre Figuren werden Zeugen von Gräueltaten oder deren Schatten oder Nachbildern. All diese Geschichten werden aus der Sicht einer Frau erzählt, oft einer jungen Frau, und sie scheinen dem Grauen, das sie lockt, nur so lange standhalten zu können, wie über es erzählt wird. Schließlich gehen die Mädchen und Frauen von Enriquez freiwillig auf das zu, was sie am wenigsten sehen wollen. Sie öffnen die Tür, öffnen den Schrank, überqueren die Grenze.

Die psychische Innerlichkeit der Auseinandersetzung mit der eigenen Dunkelheit ist die Hauptstütze der Horrorliteratur. Und doch verlagert Enriquez diese Innerlichkeit nach außen in eine Landschaft, die von politischen und wirtschaftlichen Kräften grauenhaft zerrüttet wurde. Kinder, die auf der Straße leben, ein Mädchen, das nach einer illegalen Abtreibung auf dem Bürgersteig stirbt, Gefangene, die in einer Haftanstalt gefoltert werden, machen keinen Unterschied zwischen dem hellen Tag und der tiefen Nacht. Das Grauen ist ständig um uns herum.

In Der schmutzige Junge schüttelt ein bettelndes Kind demonstrativ die Hand von U-Bahn-Fahrgästen und beschmutzt sie absichtlich. In ähnlicher Weise küsst in der Titelgeschichte ein grässlich verbrannter Bettler die Wangen von Pendlern, und begeistert sich an ihrem Unbehagen. Die Gewalt stellt sich zur Schau und dringt in den Alltag ein. Während die meisten vor ihr zittern, werden die Frauen von Enriquez von ihr angezogen, als ob sie sehen wollten, was sie damit anfangen können.

Enriquez verbrachte ihre Kindheit in Argentinien während der Jahre des berüchtigten Schmutzigen Krieges, der endete, als sie zehn Jahre alt war. Zehntausende wurden gefoltert, getötet oder „verschwanden“ unter Umständen, die später durch eine pauschale Amnestie aufgehoben wurden. Es liegt auf der Hand, dass diese Taten und die damit einhergehende wirtschaftliche Instabilität und Korruption den Boden für Enriquez‘ Erzählungen bereiten.

Sie entstammt auch einer Tradition argentinischer Fabeldichter, beginnend mit dem verehrten Jorge Luis Borges. Borges und seine Freunde, die Schriftsteller Adolfo Bioy Casares und Silvina Ocampo, waren so sehr vom Horror angetan, dass sie mehrere Ausgaben einer Anthologie makaberer Geschichten gemeinsam herausgaben. Die Mischung aus Horror, Phantastik, Verbrechen und Grausamkeit hat einen besonderen argentinischen Stammbaum. Dabei handelt es sich nicht um Fantasy, die von der Realität losgelöst ist, sondern um eine schärfere Wahrnehmung der Übel, die wir durchwaten.

Die Protagonisten in Enriquez‘ Erzählungen sind sich meist ihres Privilegs bewusst, wenn man es es ein Privileg nennen kann, gerade so einen Ort zum Leben zu haben, genügend Nahrung und ein Gesicht, das nicht grotesk entstellt ist. Die Nähe zu jenen, die diese grundlegenden Annehmlichkeiten nicht haben, schafft eine Zerbrechlichkeit der vermeintlich Bessergestellten, was nicht daran liegt, dass diese Protagonisten ein Abgleiten in die Armut befürchten, sondern, dass die Vorzüge ihres Lebens so deutlich auf finsterem Dreck sitzen. Das hier Gebotene ist natürlich etwas völlig anderes als der Mainstream-Horrortrip, bei dem sich oft jemand unbekümmert dem Grauen nähert – die Begräbnisstätte unter der Wohnsiedlung oder das fade Mädchen, das nichts von den Klauen des Schlitzers ahnt. In der Welt von Enriquez ist niemand ausreichend abgeschirmt. Den verhätschelten Vorstädter gibt es nicht. Ihre Erzähler müssen sich im Alltag an fast unerträglichen Anblicken vorbeischleichen. Dadurch gewinnt der Akt des Schauens enorm an Bedeutung. Die Folgen sind schrecklich, aber es gibt dennoch ein Gespür für Handlungsfähigkeit, um zumindest den Blick in die richtige Richtung zu lenken.

Eine der herausragendsten Geschichte in der Sammlung ist wohl Tief unten im schwarzen Wasser, die einen lokalen Mord der Polizei an zwei Jugendlichen detailliert beschreibt. Indem sie die Staatsanwältin Marina Pinat einsetzt, um den Fall zu untersuchen, streift Enriquez das allgegenwärtige Problem der Korruption, der hoffnungslosen Kriminalität und der verantwortungslosen Verschmutzung, und erzählt eine eindringliche, schwarze und erschütternde Geschichte.

Einige der Frauen von Enriquez tauchen aus solchen Erfahrungen wieder auf. Die meisten tun das nicht. Aber sie zeigen sowohl Mut als auch Empörung über den schrecklichen Dreck, in den sie getaucht sind. In „Spinnennetz“ unternimmt eine Frau, die in einer missbräuchlichen Ehe gefangen ist, eine Reise über die Grenze nach Paraguay. Dort verbinden sich sowohl die Wildheit des Militärs als auch der ungezähmte Dschungel zu einer Geisterfalle, in der die Geschichte ins Paranormale abdreht und der Frau einige unerwartete Optionen eröffnet. Auch diese Erzählung bekommt einen plötzlichen Ruck, da der fein geschliffene Realismus plötzlich Fäden eines tieferen und mysteriöseren Ursprungs aufscheinen lässt.

Die Titelgeschichte knüpft fast dort an, wo „Spinnennetz“ aufgehört hat: Frauen protestieren gegen häusliche Gewalt mit eigener Gewalt. Silvina, die Protagonistin von Was wir im Feuer verloren, ist noch nicht ganz in der Protestbewegung engagiert. Die Geschichte endet mit einem verweilenden Blick auf ihren beispielhaften Gewaltakt, der bald folgen muss. Diese Pause vor dem Unvermeidlichen ist der Raum der fabulierfröhlichen Fiktion, die die starren Regeln der Realität aufdreht, um eine Lücke der Möglichkeit zu schaffen.

Das unermessliche Vergnügen an Enriquez‘ Fiktion ist die Schlüssigkeit ihrer Zweideutigkeit. Wir wissen nicht, wer ein verschwundenes Mädchen entführt, ein Kind ermordet oder einen Ehemann verschwinden ließ. Sie mussten einfach gehen. Die Welt verlangt ihr Opfer. Wir wissen nicht, was das schreckliche Gespenst ist, grau und triefend, das mit seinen blutigen Zähnen auf dem Bett sitzt. Aber wir wissen, dass es durch eine unausweichliche Logik, durch ein intensives Bewusstsein für die Welt und all ihr Elend da ist.

Bouquinist

Alice (Das Wunderland)

Alte Sendung aus dem „Phantastikon-Podcast“

Es war der 4. Juli 1862, als Lewis Carroll (in Wirklichkeit Charles Dodgson) – angeblich ein schüchterner und exzentrischer Mann, der Mathematik an der Oxford University lehrte, die drei kleinen Töchter seines Freundes Henry Liddell zu einer Bootsfahrt entlang der Themse mitnahm. Aus dem, was sich inzwischen aus seinen Tagebucheinträgen ableiten lässt, hat er sich spontan eine lustige und absurd ausgefallene Geschichte ausgedacht, um sie zu unterhalten. Dieser Tag ging in die Literaturgeschichte ein.

Kurz zusammengefasst: Ein junges Mädchen namens Alice (nach einer der Liddell-Schwestern selbst benannt) stürzt versehentlich in eine bizarre Fantasiewelt, in der es auf verschiedene anthropomorphe Kreaturen trifft, einen Wahnsinnigen, der eine sehr seltsame und sehr wunderliche Teeparty veranstaltet, und eine merkwürdige Herzdame, die gerne Krocket spielt, wobei sie Flamingos als Schläger benutzt. Jahre später erinnerte sich Carroll an die Geschichte und entschied sich, sie weiterzuentwickeln und zu transkribieren.

Die veröffentlichte Version, die von John Tenniel illustriert wurde, war ein sofortiger Erfolg, der von Erwachsenen und Kindern gleichermaßen geschätzt wurde. Selbst die berüchtigte, schwer zu beeindruckende Queen Victoria war amüsiert. Alice im Wunderland war reiner Eskapismus (wie jede gute Literatur) – völlig absurd und doch wunderbar bunt, erhebend und unendlich inspirierend.

Aber, wie es vielleicht bei jedem erfolgreichen Kunstwerk unvermeidlich ist – sei es literarisch, theatralisch oder filmisch -, wurde Carrolls Geschichte in den kommenden Jahren einer immensen Prüfung unterzogen. Kritiker und Wissenschaftler brüteten über die Geschichte und zerlegten jede Zeile in verzweifelten Versuchen, eine potenziell kodierte, tiefgründige und vielleicht unheimliche verborgene Bedeutung aufzudecken. Als außergewöhnlich intelligenter und offensichtlich gut belesener Mann ist es wahrscheinlich, dass Carroll bei der Entstehung seiner eigenen Geschichte auf verschiedene Einflüsse zurückgreifen konnte. Tatsächlich ist das Buch gefüllt mit literarischen und kulturellen Anspielungen sowie einer Reihe von mathematischen Problemen, Denksportaufgaben und Rätseln, die frustrierend unbeantwortet bleiben. Carroll scheint sich an seiner eigenen klugen Kreativität zu erfreut zu haben, dass seine Leser über ihre Lösungen und Konnotationen bis in alle Ewigkeit nachdenken und darüber streiten können.

Von allen Analysen, die Carrolls Arbeit im Laufe der Jahre erdulden musste, sind sich mindestens zwei darüber einig, dass Caroll die Erfahrungen seiner Protagonisten tatsächlich selbst gemacht haben muss, und zwar, indem er halluzinogene Drogen konsumierte. Noch verunglimpfender ist jedoch die Frage nach Carolls Beziehung zur echten Alice – der Tochter seines Freundes, der er die Geschichte als erste vorlas. Kurz: Man hat Caroll der Pädophilie bezichtigt.

Alice im Wunderland ist in der Tat ein Rätsel, und es ist unwahrscheinlich, dass außer dem Autor jemals jemand seine wahren konnotativen Bedeutungen vollständig verstehen wird. Dies ist jedoch zweifellos ein wesentlicher Teil der Attraktivität des Buches. Seit mehr als einem Jahrhundert lädt die Mehrdeutigkeit und Komplexität der Geschichte verschiedene Künstler — von Film- und Theaterregisseuren über Modestylisten bis hin zu Tänzern, Fotografen und anderen Kunstschaffenden — dazu ein, ihre eigenen Interpretationen von Carrolls Geschichte zu finden. Walt Disney und Tim Burton sind nur zwei der Legenden aus der Filmwelt, die Alices Geschichte verfilmt haben, das russische Model Natalia Vodianova hat sich als junge Heldin für die Vogue ablichten lassen, und der spanisch-amerikanische Bildhauer José de Creeft hat ihr zu Ehren eine Bronzestatue geformt, die im New Yorker Central Park steht. Die Herzkönigin, der wunderbar verrückte Hutmacher, und die grinsende Cheshire-Katze haben ebenfalls viel Ruhm erlangt und sind so etwas wie kulturelle Symbole geworden.

Die Natur dieser Interpretationen ist ebenso faszinierend. Disneys fröhliche, familienorientierte Animation wird von viel Gesang und Tanz begleitet, während Burtons Version von 2010 mit Johnny Depp und Mia Wasikowska eine viel dunklere Angelegenheit ist. Salvador Dali schuf 12 Illustrationen auf der Grundlage des Romans, die so surreal und verblüffend sind wie Carrolls Originalgeschichte. London verfügt über einen angemessen exzentrischen Boutiquenladen, der Alices Utensilien (Alice Through the Looking Glass) gewidmet ist, sowie über einen Cocktailklub und einen malerischen, aber dennoch schrulligen Teeraum im Wonderland-Stil im Sanderson Hotel.

Selten hat eine Kindergeschichte einen so zeitlosen und weltweiten Reiz ausüben können – umso außergewöhnlicher, dass sie unbeschwert, tiefgründig, unheimlich, modisch, schön und bizarr zugleich ist und praktisch jeden denkbaren Aspekt der Populärkultur durchdringt. Alice und ihr wahrhaft bemerkenswertes Erbe werden sicherlich noch Jahrhunderte andauern – die charmante junge Protagonistin und ihre Wunderlandfreunde sind nicht nur in Carrolls Büchern, sondern auch in unzähligen Interpretationen und Bearbeitungen für immer verewigt worden.