Der in Schäßburg geborene Vlad Tepes war schon zu Lebzeiten eine Legende. Über seine Gräueltaten kursieren im Westen die unterschiedlichsten Geschichten (während im Osten ganz andere Varianten kursieren), und nicht zuletzt lieferte er einen Teil der Vorlage für Bram Stokers “Dracula”. Sein erstes Grab vermutet man in der Klosterkirche auf einer Insel im Snagov-See. Als man es öffnete, fand man es jedoch leer vor. Das passt als Grundlage für den Vampirmythos ganz gut ins Bild, denn wenn er nicht in seinem Grab liegt, könnte das durchaus bedeuten, dass er noch lebt. In dem berühmten Roman von Elizabeth Kostova tut er das tatsächlich.
Wenn heute jemand zehn Jahre an einem Roman über Dracula schreibt, dann kann das nur bedeuten, dass er sich in etwas verliert, dem er kaum noch etwas Neues abgewinnen kann. Zumindest muss es von außen so aussehen. Wir reden hier nicht von einem fast alltäglich gewordenen Fantasy-Zyklus über Vampire, sondern von einem ambitionierten Werk, das nicht umsonst den Titel “Der Historiker” trägt. Genau deshalb musste Kostova so lange recherchieren und schreiben. Das Ergebnis ist erstaunlich und weit entfernt von Teenager-Romanzen und bissigen Horrorthrillern. Wenn es auf dem Klappentext heißt: „Der Roman gibt einen vielschichtigen Einblick in 500 Jahre südosteuropäische Geschichte“, dann ist das keineswegs gelogen. Kostova geht als Romanautorin genau so vor, wie es eine Historikerin tun würde. Natürlich schlüpft sie in die Rolle ihrer 16-jährigen Protagonistin, die namenlos bleibt (bis auf einen einzigen Hinweis, den man leicht überlesen kann) und selbst Historikerin ist, aber auch Tochter eines Historikers und einer Anthropologin.
Während wir in diese ungeheuerliche Geschichte eintauchen, sind wir viel unterwegs, während Paul (ihr Vater) ihr von der Entdeckung seines unheilvollen Erbes erzählt, immer in der Sorge, dass auch seine Tochter darin verwickelt werden könnte, was sie längst ist. Diese Reisebeschreibungen sind enzyklopädisch. Kostovas Schilderungen von Sehenswürdigkeiten, Geräuschen, seltsamen Gerüchen und einzigartigen Köstlichkeiten sind so eindringlich, dass sie durchaus abschreckend wirken können. Doch ohne diese Zutaten wäre die düstere, unheimliche Atmosphäre vielleicht zeitgemäßer, aber weniger überraschend.
Auf diesen Reisen schlägt die Finsternis wieder und wieder zu, und zwar auf eine Weise, die weitaus erschreckender ist als die meisten plakativen Entwürfe einschlägiger Autoren des Genres.
Es ist wohltuend, ein Buch über kultivierte Menschen zu lesen. Das kommt in diesem Buch nicht aufgesetzt und beiläufig rüber, das ist sozusagen das Fleisch all dieser Einsichten. Das mag manchem Leser zu langatmig erscheinen – tatsächlich habe ich gelesen, dass die Autorin durch ihr akribisch ausformuliertes Setting mögliche Spannungsbögen zunichte macht – aber Spannungsliteratur (ohnehin ein unschönes Wort) ist hier nicht das Prädikat. Vielmehr geht es um das Interessante, aus dem die Wirkung entstehen kann, und dazu braucht es Tiefe, die ein Spannungsroman nicht hat. Offenbarungen und Enthüllungen gibt es reichlich in diesem Roman, der eben nicht nur tief, sondern auch breit angelegt ist. Statt Action gibt es hier Aktivität, und auch wenn es Vampire gibt, sind sie alles andere als Pulp-Figuren, sondern so glaubwürdig eingebettet, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen der faktischen Geschichte, die ohnehin sehr interessant ist, und dem Mythos, was zeigt, dass es immer noch vom Talent des Autors abhängt, wie eine Geschichte wahrgenommen werden kann.
Die verschiedenen Perspektiven sind eine Reminiszenz an Bram Stokers “Dracula”, in dem ebenfalls mehrere Stimmen die Geschichte erzählen. Es sind vor allem Briefe und Dokumente, durch die sich die Erzählung entfaltet, und es gibt Rückblicke, die der Vater seiner Tochter nach und nach offenbart und die sein Leben als junger Historiker beleuchten, der ein normales akademisches Leben führt, bis sein Professor und Mentor Rossi eines Tages spurlos verschwindet, was ihn auf eine epische Suche führt – die Suche nach Dracula.
Die Autorin sagte über ihr Buch, sie habe gerade Mal eine Tasse Blut vergossen; dafür aber zeigt sie die Stärke der Stille exakt auf. Die Gespräche scheinen mehr geflüstert als gesprochen zu werden, doch in ihnen offenbaren sich große Einsichten. Überall scheinen schattenhafte Gestalten zu lauern, und niemand will belauscht werden. Ein Teil der Handlung spielt sich hinter dem Eisernen Vorhang ab, und diese Handlung ist durchsetzt mit einer gewissen Paranoia, die sich zu der des grundlegenden Rätsels gesellt, wo sich das Grab von Vlad dem Pfähler befindet.
“Der Historiker” ist eine große Liebesgeschichte, eine Geschichte über eine Vater-Tochter-Beziehung, eine wunderbare Erzählung über die Geschichte selbst und über exotische Orte in Europa, eine gelungene Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart im Dracula-Mythos. Wie ein scholastisches Rätsel spielt sich ein Großteil der Handlung in Bibliotheken, Archiven und Privatwohnungen ab.
Von Elizabeth Kostova gibt es derzeit drei weitere Romane, von denen der letzte – The Shadow Land“ von 2017 – noch nicht auf Deutsch vorliegt. Er hat Schauerromantik zum Thema, enthält aber auch eine Detektivgeschichte. Das bedeutet natürlich im Moment nur Gutes für Leser, die zu englischsprachigen Büchern greifen.