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Das Geheimnis des Glockenturms / Elizabeth C. Bunce

Elizabeth C. Bunce erzählte einmal die Geschichte, wie wie auf den Namen Myrtle kam. Das ist deshalb interessant, weil alle Titel im Original das Wort „Myrtle“ anstelle von „Murder“ beinhalten, was in der Übersetzung leider verloren gegangen ist. So heißt der erste Band, der bei uns bei Knesebeck erschienen ist „Mord im Gewächshaus„, in Wirklichkeit aber „Premediated Myrtle“ anstatt von Premediated Murder, also vorsätzlicher Mord. Der zweite Band – „Mord im Handgepäck“ heißt „How to get away with Myrtle“ anstelle von „Wie man mit Mord davonkommt“ – und der Band, um den es heute hier geht, nennt sich „Cold Blooded Myrtle“, anstelle von Kaltblütiger Mord. Übersetzt wurde der Titel mit „Das Geheimnis des Glockenturms“.

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Das College / Ruth Ware

Das College Thriller

Ruth Ware ist bekannt für ihre großartigen Psychothriller, die an illustren Schauplätzen spielen, die von einem rustikalen französischen Ski-Chalet bis zu einem dekadenten Kreuzfahrtschiff reichen. Ihr Roman The It Girl mag sich daher ein wenig wie eine Abweichung von ihrer gewohnten Form anfühlen. Der Schauplatz ist weniger luxuriös – er spielt (wie der deutsche Titel bereits suggeriert) in den Studentenwohnheimen der Universität Oxford und in den Straßen des heutigen Edinburgh – und obwohl die Geschichte voller gewohnter Spannung ist, ist das Opfer in dieser Geschichte mehr als ein Jahrzehnt vor den Ereignissen gestorben und das Leben ist weitergegangen.

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Roberto Bolaño: Die wilden Detektive

Roberto Bolaño ist einer jener Autoren, die ihren berechtigten Ruhm erst posthum erlebten (wie in solchen Fällen üblich, nicht mehr persönlich). Tatsächlich handelte es sich um einen Erfolg von dramatischen Ausmaßen. Nur sechs Wochen vor seinem Tod, im Alter von fünfzig Jahren, wurde er von einer Gruppe seiner Kollegen auf einer Konferenz in Sevilla als einflussreichster Schriftsteller seiner Generation gefeiert.

Es dauerte nicht lang, da wurde „Die wilden Detektive“ auf die Liste der größten spanischsprachigen Romane der letzten 50 Jahre auf Platz 3 gesetzt. Sein letztes Werk „2666“ landete gleich dahinter.

Vielleicht wäre ihm ein gewisser Erfolg bereits während seines Lebens sicher gewesen, wenn er nicht alles dafür getan hätte, sich Feinde zu machen. Er verachtete das literarische Establishment und attackierte sogar die Nobelpreisträger Gabriel García Márquez und Octavio Paz mit Vehemenz und Gift. Isabel Allende prangerte er als Kitschautorin an. Sie erinnerte sich an Bolaño als „äußerst unangenehm“ und erklärte, dass der Tod ihn „nicht zu einem schöneren Menschen macht“.

Wer nicht mit den Feinheiten der lateinamerikanischen Literaturpolitik vertraut ist, wird wahrscheinlich viele Hinweise in diesem Roman übersehen oder erst gar nicht verstehen. Es gibt eine Fülle gut getarnter, aber expliziter Aussagen zu mehr als 100 lateinamerikanischen Schriftstellern, und einige (wie Paz) tauchen sogar als Figuren in der Erzählung auf.

In dieser Geschichte spielt Bolaño (alias Belano) neben seinem Dichterkollegen und Landsmann Ulises Lima eine zentrale Rolle. Wir sehen die beiden Männer zu Beginn ihrer zwanziger Jahre einem Kreis von jugendlichen Dichtern vorstehen. Im Laufe von zwei Monaten Ende 1975 trinken alle zu viel, glauben, Teil einer „Bande“ zu sein, nehmen Drogen, haben Sex (ausnahmslos „die ganze Nacht“ oder „bis zum Morgengrauen“), machen sich über die etablierten Schriftsteller der Stadt lustig, stehlen Bücher und inszenieren am Silvesterabend die Flucht vor einem wütenden Zuhälter. Der Kreis besteht zumeist aus armen oder emotional geschädigten Jugendlichen, die außerhalb des Universitätssystems operieren, und Lima und Bolaño in seinem Zentrum werden als quasi legendäre Figuren verehrt. Dieses Porträt ist also ein hochromantisches. Dieser anfängliche Überschwang jedoch ist nur die Verkleidung der Traurigkeit und wird später zu einer Quelle der Tragödie.

Dabei singt der Roman mit einem enormen Chor kanonischer Stimmen. Die Auseinandersetzung mit der Literatur ist oft direkt, und eine schwindelerregende Liste von Dichtern wird präsentiert, auf die nun Hass oder Lob niederregnen. Der Name von Ulises beschwört sowohl Joyce als auch Homer herauf, und in der Tat wird in dem Roman viel hin und her spaziert. Belano verbeugt sich vor niemandem, daher gibt es statt einer einzigen Odyssee drei, eine für jeden Abschnitt. Im ersten Abschnitt handelt es sich um Mexiko-Stadt 1975, im zweiten um die Welt insgesamt in den folgenden zwei Jahrzehnten und im dritten um die Sonora-Wüste. Hier knüpft die Erzählung wieder am ersten Teil an, der im Januar 1976 endete. Aber im Gegensatz zu Odysseus und seiner Odyssee gibt es am Ende dieser Reisen keine Versöhnung. Jedes Mal beginnen die Figuren einfach eine neue Runde von Wanderungen in einem anderen Maßstab. Bolaño gibt jedoch trotz der den Roman beherrschenden Unzufriedenheit nie seine formalen Kühnheit auf. Der ausgedehnte Mittelteil wird auf verschiedene Weise von zahlreichen Erzählern vorgetragen, von denen jeder einen merkwürdigen, komplizierenden Splitter über das prismatische Leben von Belano und Lima ausbreitet.

Die Spiele mit dem Text sind fröhlicher Natur, auch wenn die Figuren es nicht sind. Ein großspuriger, Latein zitierender Anwalt erzählt von Belanos Abstieg in einen phantastisch tiefen Abgrund, an dessen Ende sich der Teufel angeblich aufhält, und Bolaño lässt seinen Erzähler jedem Dichter der Antike einen Gruß zukommen. An anderer Stelle erinnert ein albernes Schwertduell an Borges‘ Geschichte von Träumen und Duellen in „Der Süden“. Manchmal ist der Text tief verschlüsselt. Hunderte von Seiten vergehen zwischen der Beschreibung einer Figur und den eigentlichen Ereignissen des Romans. Und obwohl Julio Cortázar nur einmal direkt erwähnt wird, trägt sein Klassiker Rayuela, der von kluger Jugend, einem tragischen Tod, textlichen Rätseln und der Unmöglichkeit des Lebens handelt, massiv die Züge eines Vorbilds für Bolaños Werk. 

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Der Club Dumas / Arturo Pérez-Reverte

Zu Beginn lässt sich sagen, dass – Polanski in allen Ehren – der Film “Die neun Pforten” aus dem Jahre 1999 das Buch ziemlich zerstört hat. Meistens ist es so, dass Filme einem guten Buch nichts anhaben können, hier ist es anders. Als der “Club Dumas” 1993 erschien, hat ihn – in Deutschland – niemand wirklich gelesen. Es gibt dann immer diejenigen, die durch den Film auf das Buch aufmerksam werden, was den Verlagen natürlich in die Karten spielt. Das Problem bei einem handlungsgetriebenen Plot: man kennt die Stationen schon und bringt sich um das Lesevergnügen. Natürlich lässt der Roman einige Dinge anders ablaufen und vertieft sie. Polanski hat ziemlich viel weggestrichen und geändert, so dass sich das Buch dennoch lohnt, aber der Film ist nicht das einzige Problem des Romans. Man hat ihn schon als “Umberto Eco Light” bezeichnet, und das ist gar nicht so weit hergeholt. Um die Jahrtausendwende wurden Verschwörungs-Thriller populär, obwohl Eco sein “Foucaultsches Pendel” bereits 1988 vorlegte. Auch den “Club Dumas” hat man versucht, als “literarischen” Thriller zu vermarkten, aber gegen Ecos Arbeiten wirkt das fast wie ein Witz. Am besten, man lässt die Vergleiche und schaut sich an, worum es geht.

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Der Tod der Mrs Westaway / Ruth Ware

Die britische Autorin Ruth Ware befindet sich in guter Gesellschaft. Ihre Mystery- und Thriller-Romane wurden schon mit Krimiautorinnen des Goldenen Zeitalters wie Agatha Christie, Josephine Tey und Dorothy L. Sayers verglichen. Ihre früheren Romane – Woman in Cabin 10, In einem dunklen, dunklen Wald und Wie tief ist deine Schuld – basieren auf klassischen Krimimustern und handeln von Frauen, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort befinden.

Dieses Konzept hat sie im vorliegenden Roman verändert. Hier schreibt sie über eine Protagonistin, die sich absichtlich in eine trügerische Situation begibt. Es geht um Geld und es geht um eine sehr seltsame Erbschaft.

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Munk / Ricardo Piglia

Ricardo Piglia war ein eifriger Leser, der das Lesen als Freizeitbeschäftigung ablehnte. In seinem Buch „Der letzte Leser“ feiert er nicht die Schnelligkeit des Lesens, die sogar in manchen Schulen für gut befunden wird, sondern die Langsamkeit. Im Epilog zitiert er einen Satz von Wittgenstein: „In der Philosophie gewinnt der das Rennen, der am langsamsten läuft. Oder: derjenige, der als letzter ankommt“. Piglia nannte scharfsinnige Leser „Privatdetektive“, zu Ehren seiner Besessenheit für Detektivgeschichten, ein Stil, den er für die meisten seiner Werke übernahm. Oft verwies er auf ein Foto von Borges, der im Alter von dreißig Jahren erblindete. Auf diesem Foto hält er als Direktor der argentinischen Nationalbibliothek ein Buch wenige Zentimeter vor seine Nase und kommentiert das Bild mit den Worten: „Ich bin jetzt ein Leser von Seiten, die meine Augen nicht sehen können“. Piglia schreibt: „Ein Leser ist auch jemand, der die Dinge falsch liest, sie verzerrt und auf irritierende Weise wahrnimmt“. Für ihn war es entscheidend, idiosynkratisch gegen den Strom zu lesen.

Wie jeder ambitionierte Schriftsteller, der in den 1970er und 1980er Jahren schrieb, verstand er die besondere Last und Gabe, im Schatten von Jorge Luis Borges zu arbeiten – dem Meister, der, wie ein argentinischer Kritiker sagte, „größer ist als die argentinische Literatur“. In einer vier Jahrzehnte währenden Karriere, in der er zu einer der markantesten literarischen Stimmen Lateinamerikas wurde, schrieb er oft über vertriebene Einzelgänger, gescheiterte Genies, überzeugte Paranoiker und Verschwörer.

Der Name seines Alter Egos Emilio Renzi, den er in einigen seiner Bücher auftreten lässt, ist nicht zufällig gewählt. Piglias Geburtsname war Ricardo Emilio Piglia Renzi. Unter diesem Namen erschien auch sein erstes Buch. Und natürlich taucht er auch in diesem auf: Munk.

„Sie wissen, dass sich dort draußen kein Mensch für Literatur interessiert und sie die letzten Verbliebenen Hüter einer glorreichen, in die Krise geratenen Tradition sind.“

Man liest Bücher, um etwas über sich selbst zu erfahren. Ein Buch, in dem das nicht der Fall ist, taugt nicht viel. Nun ist es die lateinamerikanische Literatur im Allgemeinen, in der man vor allem etwas über die Zerrissenheit lernen kann. Die Europäer – allen voran die französische und die englische Literatur – waren die literarischen Kulturträger des südlichen Kontinents. Heute, da es in Europa keine nennenswerte Kultur mehr gibt, wendet man sich Amerika zu. Die beiden Amerikas sind voll von Zerrissenheit und Kunst, Europa ist nur noch ein Relikt der Vergangenheit. Das Interessante ist, dass die Hispanistik zur Romanistik gehört wie die Französistik. Borges bevorzugte die englische Literatur als Lektürequelle, und die USA sind vor allem deshalb ein Literaturvolk geworden, weil Autoren wie Poe, Mark Twain und Whitman sich emanzipieren wollten und mussten. Von Poe stammt der Symbolismus, der in Frankreich vor dem Surrealismus groß wurde, und der literarische Surrealismus wiederum blühte in Lateinamerika auf. Das alles hat zunächst nichts mit Ricardo Piglias Roman zu tun, der im Original „El camino de Ida“ heißt: Der Weg Idas.

Es war sein letzter Roman, Piglia starb im Januar 2017 in Buenos Aires, nachdem er mehr als zwanzig Jahre in den USA gelebt hatte. Es ist nicht zu leugnen, dass dieser Aufenthalt, wie bei früheren Autoren, die vorzugsweise in Frankreich lebten (bei Borges waren es die Schweiz und Spanien), Spuren hinterlassen hat. In der Zeit nach Borges war Piglia der berühmteste Argentinier. In MUNK erfahren wir viel über die Literatur selbst, was nicht verwundert, da der Autor, wie sein Protagonist, als Professor Literatur lehrte. Wie Borges, Cortázar und Roberto Bolaño liebte auch Piglia seinen literarischen Fundus und schreibt ihn hier Emilio Renzi auf den Leib, der von Buenos Aires nach New York reist, um an der elitären Taylor University ein Seminar über W. H. Hudson zu halten, einen englischen Schriftsteller, den Joseph Conrad bewunderte und der einige Zeit in Argentinien lebte. Renzi war von der schönen und hochintelligenten Professorin Ida Brown eingeladen worden.

Renzi ist frisch geschieden und glaubt, dass ihm der Abstand und der Aufenthalt an einem fremden Ort, an dem ihn kaum jemand kennt, helfen werden, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Doch sein Plan scheitert sofort: In der ersten Nacht wird er durch einen seltsamen Anruf aus der Bahn geworfen. Dann beginnt er in einem Anfall von Leidenschaft eine heimliche, unvergessliche Romanze mit Ida. Kleine verdächtige Zwischenfälle und seltsame Missverständnisse gipfeln im tragischen Tod der Professorin bei einem unerklärlichen Autounfall, der ein beunruhigendes Detail zutage fördert: Idas Hand ist verbrannt, und das scheint sie mit einer Reihe von Personen aus der akademischen Welt gemeinsam zu haben.

Das FBI ermittelt, doch zunächst wird der Fall zu den Akten gelegt, weil er wie ein Unfall aussieht. War es wirklich ein Unfall? Das FBI vermutet, dass sie eine Komplizin des Briefbombers gewesen sein könnte. Und hier kommt eigentlich der Titel (sic!) ins Spiel, denn „Ida“ bedeutet „Weg ohne Wiederkehr“. Piglia lässt Renzi hier in den Keller der Paranoia hinabsteigen, denn natürlich ist er zunächst verdächtig und lernt die Gemeinsamkeiten der argentinischen Junta und der amerikanischen Ermittler kennen. Viele der herausragenden lateinamerikanischen Bücher bieten diesen doppelten Boden einer ungewissen Realität. Das ist natürlich eine Anspielung auf den magischen Realismus. Aber in Wirklichkeit ist das Kafkaeske allgegenwärtig. Hier in Gestalt des Dekans D’Amato, der als großer Melville-Kenner einen lebenden weißen Hai im Keller hält. Oder die Vorstellung, dass Finnegans Wake gerne von Philosophen und Mathematikern gelesen wird. Mathematiker seien affektierte, gelangweilte Menschen, deren Kreativität meist vor dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr versiegt. Die meiste Zeit vertreiben sie sich mit Joyce.

Der Unabomber

Es ist etwas merkwürdig, dass die teuerste und aufwendigste Verbrecherjagd in der Geschichte der USA heute etwas in Vergessenheit geraten ist. Gemeint ist der Fall Ted Kaczynski, einem der genialsten Mathematiker seiner Zeit. Verwiesen sei hier auf die Dokumentation von Lutz Dammbeck.

Das Besondere an Piglias Buch (der Bombenleger heißt bei ihm „Munk“) ist aber nicht das Weben dieser Geschichte, sondern die Sprengkraft der Literatur, die wohl nur deshalb unterschätzt wird, weil sie von den meisten Menschen entweder als Mainstream-Unterhaltung oder als intellektuelles Konstrukt vergangener Tage interpretiert wird, vielleicht gerade weil kaum noch wahrgenommen wird, dass die Sprache das Einzige ist, was uns wirklich vom Tier unterscheidet. Im Guten wie im Schlechten ist der Mensch und seine Umwelt nur das Konstrukt seiner Sprache; wo seine Sprache endet, endet sein Horizont.

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Stephen King Re-Read: Shining

Wenige Bücher zelebrieren derart die Innenschau wie The Shining. Die Situation war folgende: Ein dem Alkohol zugetaner Lehrer, der eine Familie zu versorgen hat, schreibt sich also zunächst in eine finanzielle Sicherheit hinein, um dann über einen dem Alkohol zugetanen Lehrer zu schreiben, der eine Familie zu versorgen hat und daran scheitert, sein Talent sinnvoll einzusetzen und in der Folge seine Familie umbringen will.

Inspiriert von einem Alptraum, den Stephen King während eines kurzen Aufenthalts im Stanley Hotel in Colorado hatte, das am nächsten Tag seine Pforten für die Saison schließen sollte, ist The Shining sein erstes Buch, das er aus einer finanziellen Stabilität heraus auf den Weg brachte. Die Folgeauflagen von Carrie und Brennen muss Salem waren beschlossene Sache, die Taschenbücher verkauften sich gut, ein Vertrag mit Doubleday über weitere Bücher war unterschrieben, und er konnte es sich nun leisten, mit seiner Familie nach Boulder zu gehen. Stephen King war also bereit. Und was tat er? Er öffnete sich gänzlich und blutete förmlich über alle Seiten, die er schrieb.

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Stephen King Re-Read: Cujo

Obwohl die internationalen Cover hier auch nicht immer solide waren, schoss Heyne – wie man den Verlag eben kennt – wieder einmal den Vogel ab.

Das Buch, das King nach Firestarter angehen sollte, bekam den Namen Cujo, und es handelte nicht von Gespenstern oder übernatürlichen Machenschaften. Ähnlich wie damals, als er nach Colorado zog, um Shining und Das letzte Gefecht zu schreiben, war er auf der Suche nach Inspiration. Im Herbst 1977 besuchte er zu diesem Zweck England und schrieb dort einen experimentellen Thriller, der bis heute seines gleichen sucht. Und obwohl er in einem Interview sagte, dass er verrückt würde, wenn er ständig über Maine schriebe, siedelte er Cujo in Maine an, in einem Sommer, der äußerst heiß daher kam.

England war jedoch nicht das, was King erwartet hatte. Seine ganze Familie hatte dort keine gute Zeit, und er selbst brachte kein Wort zu Papier. Er fühlte sich ausgebrannt und uninspiriert. Das Haus, in dem sie lebten, war nicht warm zu bekommen, und so brachen sie ihren Aufenthalt, der ein ganzes Jahr dauern sollte, ab und kehrten nach bereits drei Monaten nach Hause zurück. Allerdings hatte King das entscheidende Detail zu Cujo in England erhalten. Dort nämlich las er einen Artikel in der Zeitung, der davon handelte, wie ein Kind in Portland von einem Bernhardiner getötet wurde. King war schon immer ein Meister darin gewesen, die Dinge miteinander zu verknüpfen, und so dachte er an seinen Motorradausflug, den er im Jahr davor unternommen hatte, als sein Motorrad im Nirgendwo plötzlich stehen blieb. Ihm gelang es gerade noch, das Bike zu einem Mechaniker in der Nähe zu bewegen, bevor es endgültig den Geist aufgab. Von der anderen Straßenseite hörte er ein unheimliches Knurren und sah einen riesigen Bernhardiner, der sich gerade bereit machte, ihn anzugreifen. Der Hund gab nur nach, weil der Mechaniker zu ihm hinüberschlenderte und ihm einen Schlag mit dem Steckschlüssel gegen die Hüfte verpasste.

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Stephen King: The Outsider

Stephen King ist nicht der erste Schriftsteller, der ein Buch Namens „The Outsider“ geschrieben hat. Bevor wir das akzeptieren, müssen wir uns leider wieder einmal über die schlechte Übersetzungsqualität des Heyne-Verlags unterhalten. Es wäre einfach gewesen, den Titel im Original zu belassen, stattdessen zeigt man, dass man mit Sprache nun wirklich nicht mehr umgehen kann. Da wird dann aus „The Outsider“ „Der Outsider“, und jedem Leser, der noch ein bisschen was von Grammatik hält, dreht sich der Magen um. Die Idealform wäre „Der Außenseiter“ oder sogar „Der Fremde“ gewesen. Nun, nicht nur ideal, sondern RICHTIG. Auf die vielen Übersetzungsfehler im Roman gehe ich jetzt gar nicht ein.

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Stephen King: Später

Originalcover von Hard Case Crime
Originalcover von Hard Case Crime

„Später“ ist mittlerweile der dritte Roman, den Stephen King für den Spezial-Verlag Hard Case Crime geschrieben hat. Dieser Verlag lässt den Stil der Pulp-Taschenbücher der 40er und 50er Jahre erneut aufleben und ist im Grunde spezialisiert auf Hardboiled-Krimis, die zu dieser Zeit hoch im Kurs standen, hat sich also zur Aufgabe gemacht, die Lebendigkeit, die Spannung und den Nervenkitzel des goldenen Zeitalters der Taschenbücher wiederzubeleben.

Es versteht sich von selbst, dass die dort erscheinenden Bücher ein phantastisches Coverartwork haben, bei uns ist davon natürlich nichts zu sehen.

Tatsächlich handelt es sich um einen Kriminalroman, aber mit übernatürlichem Einschlag.

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Arthur Machen: Der große Gott Pan

Arthur Machen

Arthur Machen veröffentlichte eine erste Version von Der große Gott Pan im Jahre 1890 im Magazin The Whirlwind; später schrieb er die Geschichte um und erweiterte sie, bis sie 1894 dann, zusammen mit der thematisch sehr ähnlich gelagerten Geschichte Das innerste Licht,  als Buch erschien. Es ist eine faszinierende Arbeit, die ihre beängstigende Stimmung hauptsächlich durch indirekte Hinweise speist. Von heute aus gesehen, entdeckt man eine sehr „viktorianische“ Einstellung gegenüber Frauen. Zur Zeit ihres Erscheinens löste die Geschichte durch die angedeutete Sexualität einen regelrechten Skandal aus.

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Stephen King Re-Read: Christine

Als Kind der 50er Jahre haben Autos Stephen King schon immer fasziniert. Da ist Billy Nolans 61er Biscayne in Carrie, Jack Torrance‘ Volkswagen in Shining, die lebendigen Trucks in Rhea M, der Pinto/Hotbox in Cujo, der Killer-Kombi in Raststätte 81, der außerirdische Buick Roadmaster in From a Buick 8 und der Autounfall, der die Handlung von Misery (Sie) in Gang setzt. Autos gehören neben Jeans, Rock’n’Roll und Akne zu Kings amerikanischer Palette, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis King ein Auto zum Hauptthema eines Romans machen würde. Doch als das Buch erschien, war es nicht das, was man erwartet hatte. Es war ungewöhnlich, und sogar die Qualität überraschte. Holprig, schlampig und aufgeblasen – so lautete die Kritik.

Die Idee zu Christine entstand 1978, als King eines Tages nach Hause ging und an seinen langsam den Geist aufgebenden Pinto dachte, der auch den ersten Funken für Cujo lieferte. Aber 1978 lieferte sein Pinto keine inspirierten Romane, sondern nur Kurzgeschichten. “Wäre es nicht lustig”, erinnert sich King, “wenn die kleinen Zahlen auf dem Kilometerzähler rückwärts laufen würden, und wenn sie rückwärts laufen würden, würde sich das Auto dann verjüngen? Das wäre eine interessante Kurzgeschichte.” Dann kamen die 80er Jahre.

Christine
Christine, der Plymouth im Film

Vielleicht lag es daran, dass die achtziger Jahre eine Zeit des Überflusses waren, vielleicht lag es daran, dass King täglich Unmengen von Kokain schnupfte und literweise Bier trank, vielleicht lag es aber auch daran, dass immer weniger Redakteure diesem Goldesel sagen konnten, was er herausnehmen sollte, denn schon bald war seine kleine Autoidee größer als eine Kurzgeschichte, größer als eine Novelle, größer sogar als seine anderen Romane. Nach The Stand (Das letzte Gefecht) war Christine damals der umfangreichste.

Das 1983 erschienene Buch verkaufte sich im ersten Jahr sehr gut, und King erhielt eine Menge Geld. Zuvor hatte er einen Vorschuss von der New American Library für seine Bücher angenommen, aber der Zahlungsplan stellte ihn nicht zufrieden. Bei den meisten Verlagsverträgen in Amerika erhalten die Autoren ein Viertel ihres Vorschusses bei Vertragsabschluss, ein Viertel bei Annahme des Manuskripts, ein Viertel bei Veröffentlichung und ein Viertel nach der Veröffentlichung. Erst nach Auszahlung dieser Vorschüsse schuldet der Verlag dem Autor Tantiemen. Kings Bücher verkauften sich jedoch so schnell, dass die Tantiemen fällig wurden, bevor der letzte Vorschuss gezahlt war, aber seine Verleger waren nicht verpflichtet, ihm den überdimensionalen Tantiemenscheck zu geben, bevor sie ihm den kleineren Vorschuss gezahlt hatten. Für Christine schlug King eine neue Vereinbarung vor: Er akzeptierte einen Vorschuss von einem Dollar, verlangte dafür aber einen größeren Anteil an den Tantiemen. In dem Moment, in dem ein Exemplar verkauft wurde, verdiente er also seine Tantiemen. Es ist selten, dass ein Autor solche Bedingungen diktieren kann, und es ist ein Zeichen seiner Macht, dass man sich schnell einigte.

Das Buch ist nicht nur ungewöhnlich, weil es in Pittsburgh statt in Maine spielt, oder wegen der neuen Vertragsbedingungen, sondern auch, weil es das erste Buch ist, das King in einem völlig betrunkenen Blackout geschrieben hat. Und hier setzen die Kritiker an, die sagen, dass es sich tatsächlich wie das Werk eines Betrunkenen anfühlt: voller Wiederholungen, aufgebläht, unbeholfen und unausgegoren sei es das eitle Werk eines unaufhaltsamen Autors.

Das Buch selbst ist relativ einfach. Arnie Cunningham ist ein Nerd mit schlechter Haut, aber ein Ass als Mechaniker. Seine Eltern aus der Mittelschicht schämen sich für seine Leidenschaft, an Autos zu arbeiten, und stellen ihn sich stattdessen in einem Schachclub oder als Sportstudenten an einer Eliteuniversität vor. Sein Freund Dennis, der die Geschichte (meistens) erzählt, ist der Star der Footballmannschaft der Schule. Eines Tages entdeckt Arnie Christine, einen verrosteten Plymouth Fury, Baujahr 1958, und kauft ihn, sehr zum Missfallen von Dennis und seinen Eltern. Er restauriert ihn liebevoll, wird immer besessener davon und entfremdet sich gleichzeitig von seinen Eltern, Dennis und sogar seiner Freundin Leigh. Leute, die ihm in die Quere kommen, werden von der fahrerlosen Christine überfahren, wenn Arnie nicht in der Stadt ist, und das Ganze endet damit, dass Dennis einen Lastwagen mietet und Christine zu Klump fährt. Es gibt auch eine Nebenhandlung über Zigarettenschmuggel, die etwa 100 Seiten umfasst, und Dennis verbringt die Mitte des Buches im Krankenhaus.

King selbst beschreibt Christine als “Happy Days gone mad”, aber selbst er gibt zu, dass dies nicht seinen Absichten entsprach. In der Einleitung zu „Vier nach Mitternacht“ schreibt er: „Als die meisten Rezensionen von Christine andeuteten, dass es ein wirklich schreckliches Werk sei, kam ich zu der zögerlichen Überzeugung, dass es wahrscheinlich nicht so gut war, wie ich gehofft hatte (was mich jedoch nicht davon abhielt, die Tantiemen einzustreichen). Das ganze Buch wirkt so gehetzt, als hätte King einen ersten Entwurf voller Fehler, Wiederholungen und Maßlosigkeit vorgelegt, anstatt sich die Zeit zu nehmen, den Text zu überarbeiten.

King hat dafür gesorgt, dass jedes der 51 Kapitel mit einem Rock’n’Roll-Text beginnt. Die Genehmigungen waren so teuer, dass er sie selbst bezahlen musste (15.000 Dollar), und die Copyright-Informationen nehmen drei ganze Seiten im Kleingedruckten ein. Als unverbesserlicher Vielschreiber braucht King ewig, um Christine einzuführen. Als Arnie das Auto kauft, braucht er vier Kapitel, um es in die Werkstatt zu fahren (das aufregendste Ereignis: es hat einen Platten). Nachdem Dennis Arnie in der Werkstatt abgesetzt hat, geht er nach Hause und verbringt ein ganzes Kapitel damit, mit seinem Vater über nichts Besonderes zu plaudern, bevor er ins Bett geht und einen bösen Traum hat (es gibt viele böse Träume in diesem Buch).

Aber es ist nicht nur die Länge, sondern auch die Inkonsistenz in der Charakterisierung. Als Arnie einen heftigen Streit mit seiner Mutter Regina hat, sehen wir die Ereignisse durch Dennis’ Augen. Auf drei Seiten beschreibt Dennis Regina als aristokratisch, dann beschreibt er sie als halb-aristokratisch, dann sagt er, sie sei gar nicht aristokratisch, sondern wie eine Königin in Blue Jeans. Dennis behauptet, Arnies Eltern zu mögen, dann macht er sich über sie lustig und erklärt, er traue Regina nicht, weil sie ihn einmal angeschrien habe und er glaube, sie schaue auf ihn herab, dann erklärt er plötzlich, er sei in sie verliebt (!). Dennis erzählt immer wieder, wie toll seine eigene Mutter ist, aber er hat mindestens drei Gespräche mit seinem Vater, in denen es nur darum geht, sich über ihre Ambitionen, Schriftstellerin zu werden, lustig zu machen.

King hat sich zwar immer für große Beschreibungen entschieden, aber normalerweise verlässt er sich nicht so sehr darauf. Hier scheint es, als könne er sich nicht davon abhalten, in langen Beschreibungen von weichen menschlichen Körpern zu schwelgen, die von Christine in Straßenketchup verwandelt werden. Er begnügt sich nicht mit ein paar Szenen des automobilen Gemetzels, sondern lässt den Geist von Roland LeBay auferstehen, dem bösen alten Mann, der Arnie das Auto verkaufte und dann starb, nur um dann lange Passagen über LeBays fortschreitenden Verfall zu schreiben. Wie King selbst zugibt, ist LeBay ein Niemand, der nur da ist, weil Christine einen Besitzer braucht. “Ich konnte ihn nicht aus dem Buch heraushalten. Sogar nach seinem Tod tauchte er immer wieder auf und wurde hässlicher und hässlicher”. Nach Carrie machte King in Interviews deutlich, dass es Charaktere gibt, die “außer Kontrolle geraten” und zurückgestutzt werden müssen, aber bei Christine gab es für ihn offensichtlich keinen Grund, diszipliniert vorzugehen.

Es ist nicht nur Kings Nachsicht mit seinen eigenen schlechten Neigungen, die Christine untergräbt, es ist die grundlegende Ausführung, die so schlampig ist. King neigt dazu, die Hintergrundgeschichten aller Personen in seinen Büchern zu durchdenken, bis hin zum Postboten in Cujo, der in zwei Szenen auftaucht, die nichts mit der Handlung zu tun haben. Aber als die Produzenten der Filmversion von Christine anriefen, um ihn zu fragen, ob das Auto von Anfang an böse war oder erst später dazu wurde, antwortete er: “Ich weiß es nicht. Ihr könnt machen, was ihr wollt”.

Die schlimmste aller Sünden ist die zusammengesetzte Qualität von Christine. Die ersten und letzten Seiten werden von Dennis in der ersten Person erzählt, aber dann wird er verletzt und verbringt eine lange Zeit im Krankenhaus, so dass die mittleren Seiten in der dritten Person erzählt werden. Es holpert, und King sagt, dass es eine unvollkommene Lösung für ein Schreibproblem war. Er sagt, er sei stecken geblieben, als Dennis verletzt wurde und aus dem Spiel genommen werden musste. Nachdem er verschiedene Lösungen ausprobiert hatte, beschloss er, die Geschichte in der dritten Person zu erzählen. “Das hätte das Buch fast ruiniert”, gab er später zu.

Manche behaupten, King schreibe “literarisches Junkfood”, das snobistisch und abstoßend sei. Aber nichts von dem verzweifelten Hunger nach Akzeptanz in Carrie, der brutalen Selbstbefragung in Shining, dem Experimentieren in Dead Zone, der resignierten Erforschung von Schicksal und Zufall in Cujo oder der gerechten Wut und Trauer in Die Leiche hat irgendetwas mit Junk Food zu tun. Aber bei Christine ist es anders: überdimensioniert, fettig, chaotisch, lässt es den Leser leer und unzufrieden zurück. Es ist eines der wenigen Bücher von Stephen King, das nicht von Anfang an zündet.

Doch nach diesem Wechselbad der Gefühle fing sich King wieder. Es folgte einer seiner absoluten Klassiker: Friedhof der Kuscheltiere.

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W. H. Pugmire: Der dunkle Fremde

Vor einigen Jahren fragte ich Wilum „Hopfrog“ Pugmire per Mail, ob ich einige seiner Geschichten übersetzen dürfe und er antwortete, dass ich gerne alles von ihm übersetzen dürfe, was ich wolle. Gerne hätte er ein Büchlein seiner Geschichten in deutscher Sprache, von der er schwärmte, weil seine Vorfahren aus Deutschland gekommen waren. Allerdings, teilte er mir mit, seien bereits Freunde von ihm damit beschäftigt, ein Buch mit Übersetzungen auf den Weg zu bringen. Heute weiß ich, dass zumindest einer dieser Freunde Eric Hantsch war. Trotzdem gehörte ich zu Pugmires ersten Übersetzern, lange bevor „Der dunkle Fremde“ im Blitz-Verlag erschien, ein schön aufgemachtes klassisches Taschenbuch mit einem Titelbild von Björn Craig, übersetzt von Dr. Frank Roßnagel.

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Charlie Lovett: Das Buch der Fälscher

Das Leben eines Antiquars

Charlie Lovetts Roman „Das Buch der Fälscher“ erzählt eine Geschichte, die Buchliebhaber direkt ansprechen wird. Die fesselnde Handlung ist eine Art geisterhafte Liebesgeschichte, die nicht nur durch die schmerzhaften Neurosen ihres Protagonisten Peter Byerly bereichert wird, eines Mannes, der – als wir ihm begegnen – tief in der Trauer über den Tod seiner Frau Amanda etwa neun Monate zuvor steckt.

Der Protagonist ist ein Antiquar und fühlt sich mit Büchern wohler als mit Menschen. Wenn er mit den Sondersammlungen der Ridgefield University arbeitet, befindet er sich in dieser Welt der seltenen Bücher in allerbester Gesellschaft. Dort lernt er das knifflige Handwerk der Buchrestauration und auch einiges über das Fälschen von Büchern. Nach dem Tod seiner geliebten Frau führt er noch mehr das Leben eines Einsiedlers in England. Beim Versuch, sein Leben zurückzugewinnen, stößt er auf ein jahrhundertealtes Aquarell-Porträt in einem Buch über Shakespeare-Fälschungen, das seiner Frau Amanda verblüffend ähnlich sieht. Als Byerly nach dem Künstler des Gemäldes sucht, stolpert er über ein Buch, das – wenn es echt wäre – nicht weniger als ein literarisches Erdbeben auslösen könnte – den “Pandosto”, jenem Buch von Robert Greene, in dem sich eine der wenigen Zeugnisse, die wir von William Shakespeare haben, finden und das dem großen Dramatiker als Vorlage seines “Wintermärchens” diente. Dieser Fund könnte den ewigen Streit zwischen Stratfordianern (jene, die glauben, der ungebildete Shakespeare habe diese Werke wirklich alle selbst geschrieben) und Oxfordianern (jene, die glauben, ein anderer hätte diese Werke geschrieben und Shakespeare wäre nur ein “Strohmann” gewesen) für immer begraben, so es denn echt wäre, denn Shakespeare hat es mit unzähligen Randnotizen versehen, als er sein eigenes Stück daraus machte. Byerly versucht also zwanghaft, die Authetizität des Buches zu klären. Wie es aber bei einer Rätselgeschichte so ist, ist nichts wie es zunächst scheint.

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Stephen King Re-Read: Der Turm

Englische Taschenbuch-Ausgabe

Eine Pilgerreise, die mit der Aufgabe eines einzelnen Mannes begann, mehrere Welten vor Chaos und Zerstörung zu bewahren, entwickelt sich zu einer Geschichte von epischem Ausmaß und zog seine Leser mit seinem fantastischen Zauber in seinen Bann. Und diejenigen, die Roland, Eddie, Susannah, Jake und Oy seither treu begleitet haben, werden für ihre Treue reich belohnt, auch wenn es natürlich kritische Stimmen gibt, die vieles an diesen sieben Büchern nicht mochten und das Ende eher weniger verstanden haben. Es ist wie so oft eine Frage der Erwartungshaltung. King bietet Lesefutter für die unterschiedlichsten Kreise. Man kann ihn oberflächlich lesen und man kann ihn unter literaturwissenschaftlichen Bedingungen lesen. Man kann ihn philosophisch lesen oder als Chronisten des amerikanischen Lebens. Jeder Leser hat seinen eigenen King.

Mit „Der Wind durchs Schlüsselloch“, von Heyne einfach mit „Wind“ überschrieben, wird es noch einen kleinen Nachschlag geben, der allerdings für unsere Heldengruppe nicht relevant sein wird. Ich nutze die Gelegenheit, noch einmal Revue passieren zu lassen, wofür der dunkle Turm steht, ohne tatsächlich viel auf den Inhalt einzugehen, Spoiler zu diesem Buch wird es also hier nicht geben.

Stephen King begann 1970 mit dem Schreiben dieser Reihe, als er noch ein unglaublich ehrgeiziger Schriftsteller war. Während er noch die Universität von Maine besuchte, schrieb er die ersten Kapitel des ersten Buches. Das Projekt kam allerdings nicht so schnell voran, da zwischen einigen Büchern 6 Jahre Abstand lagen. 1999, kurz nach seinem beinahe tödlichen Unfall, widmete King seine ganze Aufmerksamkeit der Vollendung der sich lange hinziehenden Serie. Er vollendete die letzten drei Bücher der Reihe sehr schnell. Diese Romane sind von wahrer erzählerischer Magie erfüllt, fesselnd und immer wieder überraschend. Aber sie sind ein guter Abschluss dieser großen Geschichte, von der King glaubte, dass er sie nie beenden könnte.

Die Hauptquelle für all diese Romane war das Gedicht „Childe Roland to the Dark Tower Came“ von Robert Browning. Dieses Gedicht lieferte das zentrale, wiederkehrende Thema Kings und seiner Figur Roland Deschain von Gilead. J.R.R. Tolkien, L. Frank Baum, Clifford D. Simak und die Werke von Filmemachern wie John Sturges, Akira Kurosawa und Sergio Leone waren weitere Quellen, die King verwendete. Leones Dollar-Trilogie diente als Vorlage für Roland und das brutale, schöne Land, durch das er reiste.

„Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste, und der Revolvermann folgte ihm“,

so eröffnete er die Reise Rolands. Roland ist der letzte Revolverheld in einer schnell zerfallenden Welt. Er ist auf dem Weg zum gleichnamigen Turm, der sich an einem Ort befindet, an dem eine unendliche Anzahl von Parallelwelten miteinander verbunden sind, und der Turm steht in der Mitte von ihnen. Der Turm wird von einer Reihe sich kreuzender Balken zusammengehalten. Außerdem wird er vom scharlachroten König angegriffen, der plant, den Turm niederzureißen und in dem darauf folgenden Wahnsinn zu herrschen. Rolands Ziel ist es, den Turm zu retten und in den Raum an der Spitze des Turms zu gelangen. In diesem Raum wartet ein unbekanntes Schicksal auf ihn.

Roland versucht in den ersten Büchern ein Trio mögliicher Gefährten aus drei verschiedenen Versionen Amerikas an sich zu binden.

Eddie Dean ist die erste Figur, wenn man einmal von Jake absieht, der bereits in „Schwarz“ auftaucht, mit dem es allerdings eine besondere Bewandtnis hat. Eddie ist ein Heroinsüchtiger, der nur noch wenig Hoffnung hat und auf seine letzte Chance wartet. Odetta Holmes ist die zweite Figur, eine Frau, die im Rollstuhl sitzt. Sie ist eine Bürgerrechtsaktivistin, die mehrere Persönlichkeiten in sich vereint. Später wird sie sich Susannah nennen. Jake Chambers ist die erste und die dritte Figur des Romans. Er ist ein 11-jähriger Junge, der gerade von den Toten zurückgekehrt ist, um sich Roland als Revolvermann anzuschließen. Diese Figuren bilden den Kern der heiligen Gemeinschaft, die Roland auf seiner langen Reise begleiten.

King erklärte später, diese Buchreihe sei seine „Übergeschichte“, der Mittelpunkt seines Schaffens, die seine gesamte Karriere, faktisch alle Romane und Kurzgeschichten, umfasst. Im gesamten Epos um den dunklen Turm geht es um Geschichten, um die Macht der Erzählung, die unser individuelles Leben formt und prägt. Es geht auch um die Dinge, die uns menschlich machen: Liebe, Verlust, Trauer, Ehre, Mut und Hoffnung.

„Auf einer noch tieferen Ebene ist es eine Meditation über die erlösende Möglichkeit einer zweiten Chance, ein Thema, das King sehr gut kennt. Indem er dieses gewaltige Projekt zum Abschluss brachte, hat er seinen Lesern die Treue gehalten und seine eigene zweite Chance bestmöglich genutzt. Der Dunkle Turm ist ein humanes, visionäres Epos und ein wahres Magnum Opus. Es wird noch sehr lange in Erinnerung bleiben“,

so Bill Sheehan von der Washington Post.

Tatsächlich verwebt King seine eigene Lebensgeschichte immer mehr mit der Geschichte von Roland und seiner Ersatzfamilie von Revolverhelden und deutet in diesem letzten Teil spielerisch und verführerisch an, dass es vielleicht nicht der Autor ist, der die Geschichte vorantreibt, sondern eher die fiktiven Figuren, die den Autor kontrollieren.

Diese philosophische Erkundung des freien Willens und des Schicksals mag diejenigen überraschen, die King bisher nur als produktiven Schriftsteller von übersinnlichen Märchen gesehen haben, und das sind merkwürdigerweise noch immer eine Menge. Aber ein genauerer Blick auf die brillante Komplexität seiner Welt sollte klären, warum dieser Bestsellerautor längst schon für seinen Beitrag zum zeitgenössischen Literaturkanon anerkannt wird. Mit dem Abschluss dieser Geschichte im Jahre 2004, die eigentlich das letzte veröffentliche Werk seiner Karriere werden sollte, hat King zweifellos einen weiteren Gipfel seines Könnens erreicht. Und was die Frage angeht, wer oder was sich auf der Spitze des Turms befindet… Die vielen Leser, die es unbedingt wissen wollen, müssen am Anfang beginnen und sich nach oben arbeiten.