Possenspiele

Schlagwort: Literatur (Seite 3 von 79)

Betibú / Claudia Piñeiro

Weiterlesen

Charon, der Fährmann

Charon entsteigt dem Urchaos, das den Olympiern vorausging. Als Sohn von Erebus und Nyx, Gespenstern, die Dunkelheit und Nacht symbolisieren, verkörpert Charon eine interessante Mischung aus Hingabe und Distanz. Er befördert die Seelen ohne Urteil oder Gnade und hält sich ausschließlich an die ewige Tradition, die sein Obolus als Gegenleistung für die Überfahrt verlangt.

In den Geschichten, die im Laufe der Jahrhunderte auf den behelfsmäßigen Webstühlen der Dichter und Erzähler gesponnen wurden, schimmerte die Beschwörung des Charon nur dunkel in den Tiefen der Vermutungen und Epen. Erst in den Werken von Pindar und Euripides taucht er wieder auf und leitet die Diskussionen über Moral, Sterblichkeit und die Dunkelheit, die nach dem Tod im Reich der Lebenden herrscht. Sein allgemein anerkannter Beitrag zur Literatur ist ausdrücklich von visueller Strenge geprägt – ein abschreckender Wächter, der am Ufer des Styx steht. Im Zeitalter der sokratischen Dialoge und der platonischen Philosophien ist dieser gespenstische Bootsmann ganz in den intellektuellen Bereich gerudert und stärker mit den Ritualen des Todes und des Abschieds verbunden.

In der antiken griechischen Mythologie regt kaum eine Gestalt die Phantasie so an wie Charon, der Fährmann der Unterwelt. Dunkel, geheimnisvoll und mächtig – Charons Rolle in der griechischen Mythologie war gefürchtet und verehrt zugleich. Für die Seelen der Toten war er der letzte Wegweiser auf der Reise ins Jenseits, eine rätselhafte Gestalt, die zwischen den Welten der Lebenden und der Toten existierte.

Charon ist eine der Symbolfiguren, eine geisterhafte Gestalt, deren Aufgabe es ist, die Seelen der Verstorbenen über die Flüsse zu bringen, die die Unterwelt begrenzen. Die alten Griechen glaubten, dass sich das Reich der Toten jenseits mehrerer Flüsse befand, insbesondere jenseits der Flüsse Styx und Acheron. Der Fährmann hatte die Aufgabe, die Toten aus dem Land der Lebenden über diese Flüsse in die Unterwelt zu geleiten.

Der Sage nach wurde Charon oft als alter, hagerer und streng dreinblickender Mann dargestellt. Seine bloße Anwesenheit löste Furcht und Ehrfurcht aus. Frühe Darstellungen auf griechischen Tongefäßen und Fresken zeigen ihn als düstere, zerlumpte Gestalt, oft mit struppigem Bart, hohlen Augen und wettergegerbtem Gesichtsausdruck. Im Laufe der Zeit wurde sein Aussehen ikonisch – er trug eine lange Stange, um sein Boot zu steuern, und wurde manchmal mit einem Kapuzenmantel dargestellt, was seine unheimliche Aura noch verstärkte.

Die Reise in die Unterwelt war in der griechischen Mythologie ein feierlicher und wesentlicher Teil der Reise einer verstorbenen Seele. Nach dem Tod wurden die Seelen zum Flussufer begleitet, wo Charon mit seinem Boot wartete. Charon nahm jedoch niemanden einfach mit, sondern verlangte für seine Dienste einen Obolus, eine Münze, die dem Verstorbenen in den Mund oder auf die Augen gelegt wurde.

Diejenigen, deren Leichnam nicht ordnungsgemäß bestattet wurde oder die den Obolus nicht erhielten, mussten auf der Erde umherirren, unfähig, die Unterwelt zu betreten, und dazu verdammt, in einem Zustand der Vorhölle zu existieren. Diese Zahlungspflicht spiegelt den Glauben der alten Griechen an die Ehre und den Respekt vor den Toten wider und ist auch ein praktischer Grund für die Platzierung der Münze bei den Bestattungsriten.

Charon symbolisierte mehr als nur einen Fährmann – er stand für den unvermeidlichen Übergang vom Leben zum Tod und verkörperte die Endgültigkeit und das Mysterium des Todes. Die Griechen betrachteten ihn nicht als grausam oder böse, sondern als eine Figur, die eine dunkle, aber notwendige Aufgabe erfüllte. Indem die Seele Charon bezahlte und den Fluss überquerte, vollzog sie einen lebenswichtigen Übergangsritus ins Jenseits, der den geordneten, rituellen Umgang der Griechen mit dem Konzept des Todes widerspiegelt.

Der modernen Kultur, Literatur und Kunst hat Charon einen unauslöschlichen Stempel aufgedrückt. Von Dantes Inferno bis zu den Gedichten von John Keats hat das Bild des grimmigen Fährmanns und seiner gespenstischen Reise über den Fluss das Publikum immer wieder in seinen Bann gezogen. Häufig thematisiert er den Übergang, die Unausweichlichkeit und das Konzept, den „Preis“ für Handlungen zu zahlen, insbesondere im Tod.

Der von ihm geforderte Obolus könnte eine Art Bezahlung symbolisieren, nicht nur für die sichere Überfahrt, sondern vielleicht auch für den Verzicht auf das zurückgelassene Leben. Seine Rolle hat die Darstellung des Todes in verschiedenen Religionen beeinflusst, oft als dunkle, aber wesentliche Funktion, die ein Gleichgewicht zwischen der Sterblichkeit und dem Leben nach dem Tod herstellt.

In der Welt der antiken Mythologie gibt es nur wenige Figuren, die so einprägsam und bedeutsam sind wie der Fährmann. Er erinnert uns an den Wert von Ritualen, an den Respekt vor den Toten und an das ewige Geheimnis des Jenseits. Er inspiriert Geschichten und symbolisiert die dunkle Reise, die jeder irgendwann antreten muss.

So düster sein Bild auch sein mag, Charon verkörpert auch den natürlichen Kreislauf und die Unausweichlichkeit von Leben und Tod. Der Tod ist eine Reise, sagen die Griechen, und jede Reise braucht einen Führer. In diesem Sinne ist Charon mehr als nur ein Fährmann – er ist der Hüter des Übergangs zwischen den Welten, auf ewig gebunden an sein Ruder und seine unendliche Aufgabe auf den Flüssen der Unterwelt.

Malet / Tardi – 120, Rue de la Gare

„120, Rue de la Gare“ ist ein Roman von Léo Malet aus dem Jahr 1943. Hier stellt uns der Autor seine Figur Nestor Burma vor, die aus dem Wunsch entstand, einen hartgesottenen Detektiv nach amerikanischem Vorbild mit einem Hauch englischer Detektivgeschichten zu schaffen. Malet hatte nämlich unter dem englischen Pseudonym Frank Harding mit amerikanischen Figuren und Schauplätzen in den USA zu schreiben begonnen, bevor er auf die Idee kam, einen französischen Roman zu schreiben, der in Frankreich spielt und in dem französische Figuren auftreten.

Burma Gesamtausgabe
In der Gesamtausgabe

Nestor Burmas kritische, ironische und mit Sarkasmus gespickte Äußerungen über Institutionen, Profiteure, Wohlhabende und die gesamte französische Gesellschaft der zweiten Nachkriegszeit decken sich zwar mit den säuerlichen, zynischen und desillusionierten Aussagen der großen Ermittler des amerikanischen Noir-Krimis. Burma ist jedoch nicht einfach ein französisierter Klon seiner Vorbilder(etwa von Sam Spade). Es ließ sich nicht vermeiden, dass viel von Malets eigener Persönlichkeit in die Figur Burmas einfloss (seine Unabhängigkeit, sein freies Reden, seine finanziellen Schwierigkeiten und seine Pfeife).

Aus diesem Grund nimmt „Nestor Burma einen privilegierten Platz in Léo Malets Werk ein: Was Malet selbst erlebt hat, hat er auf seinen Helden übertragen; was er selbst nicht erleben konnte oder wagte, hat er ihm ebenfalls zugestanden, wodurch die Figur zu seinem wahren Doppelgänger wurde. Obwohl er die Figur unsympathisch machen wollte, gibt Malet zu, dass ihm das nicht gelungen ist:

„Da ich, ohne es zu wollen, ein wenig von mir selbst einbringen musste, erschien er trotzdem sympathischer, als ich gedacht hätte.“

Es dauerte übrigens eine Weile, bis sich der Krimi seines innovativen Charakters bewusst wurde. Während der Besatzungszeit wurde das aus den USA importierte Genre im besetzten Frankreich zur Persona non grata. So wie der angelsächsische Film die Kinos nicht mehr füllte, verschwanden die amerikanischen Romane einfach aus den Schaufenstern der Buchhandlungen. Die deutsche Zensur griff durch und beendete die Sehnsucht nach den Ländern jenseits von Kanal und Atlantik. Aber die Leser, die diese Art von populärer Literatur gierig verfolgten, waren nicht mit dem Krieg verschwunden. Sie verlangten stillschweigend nach den Stereotypen des Genres: tropfnasse Trenchcoats mit Umlegekragen, dunkle Gesichter unter zerknitterten Stetsons, Zigaretten, Kaugummi und Femmes fatales in Seidenstrümpfen, Whisky on the rocks, Handfeuerwaffen, schweinische Charaktere und Heldentum in Ich-Form, Slang, sarkastischer und desillusionierter Humor … Action und Drama im Überfluss.

Malet eliminiert jedoch die englischen und amerikanischen Zutaten seiner Geschichte und konzentriert sich thematisch auf das besetzte Frankreich (der Weg Burmas in „120, Rue de la Gare“ beginnt in einem deutschen Stalag, geht weiter in die Freie Zone in Lyon und endet im besetzten Frankreich in Paris). Weniger angelsächsisch geht nicht.

Edition Moderne

Nestor Burma wird als der berühmte Detektiv vorgestellt, der die Agentur „Fiat Lux“ leitet. Der Leser hat also nicht unbedingt das Gefühl, das erste Abenteuer dieses Helden zu erleben, obwohl dies tatsächlich der Fall ist. Im Stalag lernt Nestor Burma einen seltsamen Mann kennen, der sein Gedächtnis verloren hat. Der Mann wurde während des Krieges mit verbrannten Füßen im Wald gefunden. Seitdem weiß er nicht mehr, wer er ist. Umso erstaunlicher ist es, dass er Burma seine letzten Worte in völliger Klarheit zuruft: „Sag Hélène, 120, Rue de la Gare!

Nach seiner Entlassung aus dem Stammlager will Nestor Burma nach Paris zurückkehren, doch als sein Zug in der Gare de Lyon hält, steht Colomer, ein ehemaliger Mitarbeiter seiner Detektei, auf dem Bahnsteig. Nestor ruft ihm aus dem Zugfenster zu, und Colomer eilt zu Burma, kann aber nur noch „120, Rue de la Gare“ rufen, bevor er erschossen wird, ohne dass man weiß, von wem.

Nestor Burma ist alles andere als ein Idiot. Zwei Menschen, die in ihrem Verhalten und ihrem Lebensort so weit voneinander entfernt sind wie der seltsame Gefangene und sein ehemaliger Partner, die sterben, nachdem sie die Adresse „120, Rue de la Gare“ ausgesprochen haben, das kann kein Zufall sein.

Léo Malet legt uns einen Roman vor, bei dem die Handlung nicht die Hauptqualität darstellt. Die eigentliche Stärke des Buches ist unbestreitbar das Charisma von Nestor Burma, und es ist verständlich, dass der Autor ihn viele Abenteuer erleben lassen wollte. Dennoch darf man im Laufe der Seiten nicht den Faden verlieren, muss sich an die Hinweise halten, die die falschen Fährten bis zur endgültigen Enthüllung nähren, muss sich an die anderen erinnern, an das, was sie tun, sagen oder nicht sagen. Hier spürt man den englischen Kriminalroman, der von den verschachtelten Details der laufenden Ermittlungen lebt. Gute Arbeit beim Aufbau des Puzzles, auch wenn die Zufälle manchmal nicht ganz glaubwürdig sind.

1988 adaptierte Tardi das Werk von Léo Malet in einem meisterhaften Comic von 190 Seiten. Wie nicht anders zu erwarten, lehnt sich seine Sicht des Werkes eng an die des Romans an. Wenn ein Zeichner eine bereits existierende literarische Vorlage auf dem Zeichenbrett hat, versucht er in der Regel, das Szenario, das er umsetzen will, so getreu wie möglich wiederzugeben. Es ist fast eine Frage der Ehre, eine Hommage an denjenigen, der alles geschaffen hat. Der von Malet entlehnte Text ertränkt die Panels in einer unumgänglichen Prosa. Tardi behält jedoch die Kontrolle über das Geschehen, indem er ein angemessenes Schwarzweiß, eine Palette von Grautönen und einen charakteristischen Strich vorgibt, der die Strenge des architektonischen Hintergrunds mit der heiteren Art kontrastiert, in der Gesichter und Mimiken in schnellen Strichen dargestellt werden, sowie mit der Sorgfalt, mit der die architektonische Wiedergabe der Gebäude von Lyon und Paris ausgeführt wird… Der Roman ist das Rohmaterial, aus dem der Zeichner schöpft und das er auf ein Minimum reduziert. Man hat den Eindruck von schwarz-weißen Postkarten der Epoche, in die sich imaginäre Figuren einfügen. Das ist großartig, das bewundert man.

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »

© 2025 Die Veranda

Theme von Anders NorénHoch ↑

error: Content is protected !!