Das Haus am Meer

Die Tatzen zitterten über den Sand, bevor das blaue Meer folgte und die Abdrücke wieder verschlang. Nur das Flackern einer jahrtausendalten Geschichte, die sich so lange wiederholt, bis der Strand abgeschliffen ist. Doch vorher muss der Brunnen werden. In Wirklichkeit zieht sich nämlich das Meer zurück und hinterlässt nur seine Schattenwelten.

Sehr früh schon huschte sie in Kleidern aus dem Haus, gefolgt von der dünnen Luft, die sich über Nacht in ihrer Kammer aufgetürmt hatte ohne entweichen zu können. Natürlich wusste sie auch diesmal nicht, wo sie graben sollte, ein Traum aber hatte ihr gesagt, die Tiefe warte bereits auf das Eisen des Spatens.

Das Meer rauschte unbekümmert ihres angestrengten Gebarens vor und zurück. Nichts deutete auf eine kommende Wüste hin, doch sie hatte sie bereits im Salz geschmeckt. Einen Tag mehr, einen anderen weniger. Vor und zurück. Einen Brunnen vor dem Meer zu bauen schien die einzige Lösung zu sein, also hieb sie so fest sie konnte in den Sand, aber schon waren die Tatzen über der ersten kleinen Kuhle und ebneten alles wieder ein. Wenn sie doch nur wüsste, wo sie graben sollte.

Noch bevor sich die Sonne sehen ließ, eilte sie zurück ins Haus, denn wer immer sie im Tageslicht gesehen hätte, würde sie eingefangen haben wollen. Drinnen saß sie still, aber nicht regungslos. Niemand kam vorbei und neimand klopfte an die Tür.

Sie war durch einen einsamen Wald gehetzt und verfing sich mit ihren wehenden Haaren so oft an den plötzlich auftauchenden Ästen, dass sie fürchten musste, bald keine mehr zu besitzen, aber zumindest blieb ihr Gefieder intakt. Sie lief im Kreis, aber das wusste sie bereits, bevor sie eine Begegnung mit einem ihrer ausgerissenen Haarbüschel hatte. Es war noch ein weiter Weg bis zum Meer.

Das Haus stand leer als sie es fand, zumindest war es seit Langem unbewohnt. Aber auch das stimmte nicht, denn es hatte auf sie gewartet, was für sie leicht zu erkennen war, als sie die Schwelle übertrat. Sicher hätte es sich gewehrt, wenn es mit ihr nicht einverstanden gewesen wäre. Es hätte sie vermutlich gar nicht eingelassen, denn die Waffen eines Hauses waren vielfältiger Natur, reichten von simplen Alpträumen bis zur gefährlichen Präsenz aufgebotener Geister, die aus der Erde nach oben gerufen wurden oder aus den Wänden traten, um die Art von Verwirrung zu stiften, die dann zu einem Unfall führen konnte.

Was sie aber sah, war Staub, von dem sie glaubte, das er ebenso alt war wie sie selbst. Er bedeckte zentimeterdick den Boden, tanzte vor den Fenstern im einfallenden Sonnenlicht und legte sich auf die zurückgebliebene Einrichtung, die aussah, als wäre sie älter als das Haus. An den Wänden klebten Salzablagerungen, aber das Meer hatte hier keinen Anspruch geltend machen können. Die Trockenheit war keines natürlichen Ursprungs.

Vielleicht wollte das Haus nicht, dass sie einen Brunnen grub, aber genau das würde sie tun, dafür war sie hergekommen. Es behagte ihr nicht, den Staub zu beseitigen und deshalb ließ sie sich Zeit, hörte auf das Ächzen und Stöhnen der Konstruktion, auf ein Zeichen des Missfallens, aber es gab nichts dergleichen. Allerdings war sie nicht verwundert darüber, keine Wasserleitung im ganzen Haus zu finden. Selbst der Abtritt oben unter dem Dach war eine trockene Röhre.

Das Haus verabscheute das Meer und das Meer zog sich zurück. Nur manchmal kamen die Tatzen zum Vorschein, wollten einen Körper aus den Wellen ziehen, der auf das Haus zugekrochen käme, aber noch gelang ihm das nicht.

Das College / Ruth Ware

Das College Thriller

Ruth Ware ist bekannt für ihre großartigen Psychothriller, die an illustren Schauplätzen spielen, die von einem rustikalen französischen Ski-Chalet bis zu einem dekadenten Kreuzfahrtschiff reichen. Ihr Roman The It Girl mag sich daher ein wenig wie eine Abweichung von ihrer gewohnten Form anfühlen. Der Schauplatz ist weniger luxuriös – er spielt (wie der deutsche Titel bereits suggeriert) in den Studentenwohnheimen der Universität Oxford und in den Straßen des heutigen Edinburgh – und obwohl die Geschichte voller gewohnter Spannung ist, ist das Opfer in dieser Geschichte mehr als ein Jahrzehnt vor den Ereignissen gestorben und das Leben ist weitergegangen.

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Roberto Bolaño: Die wilden Detektive

Roberto Bolaño ist einer jener Autoren, die ihren berechtigten Ruhm erst posthum erlebten (wie in solchen Fällen üblich, nicht mehr persönlich). Tatsächlich handelte es sich um einen Erfolg von dramatischen Ausmaßen. Nur sechs Wochen vor seinem Tod, im Alter von fünfzig Jahren, wurde er von einer Gruppe seiner Kollegen auf einer Konferenz in Sevilla als einflussreichster Schriftsteller seiner Generation gefeiert.

Es dauerte nicht lang, da wurde „Die wilden Detektive“ auf die Liste der größten spanischsprachigen Romane der letzten 50 Jahre auf Platz 3 gesetzt. Sein letztes Werk „2666“ landete gleich dahinter.

Vielleicht wäre ihm ein gewisser Erfolg bereits während seines Lebens sicher gewesen, wenn er nicht alles dafür getan hätte, sich Feinde zu machen. Er verachtete das literarische Establishment und attackierte sogar die Nobelpreisträger Gabriel García Márquez und Octavio Paz mit Vehemenz und Gift. Isabel Allende prangerte er als Kitschautorin an. Sie erinnerte sich an Bolaño als „äußerst unangenehm“ und erklärte, dass der Tod ihn „nicht zu einem schöneren Menschen macht“.

Wer nicht mit den Feinheiten der lateinamerikanischen Literaturpolitik vertraut ist, wird wahrscheinlich viele Hinweise in diesem Roman übersehen oder erst gar nicht verstehen. Es gibt eine Fülle gut getarnter, aber expliziter Aussagen zu mehr als 100 lateinamerikanischen Schriftstellern, und einige (wie Paz) tauchen sogar als Figuren in der Erzählung auf.

In dieser Geschichte spielt Bolaño (alias Belano) neben seinem Dichterkollegen und Landsmann Ulises Lima eine zentrale Rolle. Wir sehen die beiden Männer zu Beginn ihrer zwanziger Jahre einem Kreis von jugendlichen Dichtern vorstehen. Im Laufe von zwei Monaten Ende 1975 trinken alle zu viel, glauben, Teil einer „Bande“ zu sein, nehmen Drogen, haben Sex (ausnahmslos „die ganze Nacht“ oder „bis zum Morgengrauen“), machen sich über die etablierten Schriftsteller der Stadt lustig, stehlen Bücher und inszenieren am Silvesterabend die Flucht vor einem wütenden Zuhälter. Der Kreis besteht zumeist aus armen oder emotional geschädigten Jugendlichen, die außerhalb des Universitätssystems operieren, und Lima und Bolaño in seinem Zentrum werden als quasi legendäre Figuren verehrt. Dieses Porträt ist also ein hochromantisches. Dieser anfängliche Überschwang jedoch ist nur die Verkleidung der Traurigkeit und wird später zu einer Quelle der Tragödie.

Dabei singt der Roman mit einem enormen Chor kanonischer Stimmen. Die Auseinandersetzung mit der Literatur ist oft direkt, und eine schwindelerregende Liste von Dichtern wird präsentiert, auf die nun Hass oder Lob niederregnen. Der Name von Ulises beschwört sowohl Joyce als auch Homer herauf, und in der Tat wird in dem Roman viel hin und her spaziert. Belano verbeugt sich vor niemandem, daher gibt es statt einer einzigen Odyssee drei, eine für jeden Abschnitt. Im ersten Abschnitt handelt es sich um Mexiko-Stadt 1975, im zweiten um die Welt insgesamt in den folgenden zwei Jahrzehnten und im dritten um die Sonora-Wüste. Hier knüpft die Erzählung wieder am ersten Teil an, der im Januar 1976 endete. Aber im Gegensatz zu Odysseus und seiner Odyssee gibt es am Ende dieser Reisen keine Versöhnung. Jedes Mal beginnen die Figuren einfach eine neue Runde von Wanderungen in einem anderen Maßstab. Bolaño gibt jedoch trotz der den Roman beherrschenden Unzufriedenheit nie seine formalen Kühnheit auf. Der ausgedehnte Mittelteil wird auf verschiedene Weise von zahlreichen Erzählern vorgetragen, von denen jeder einen merkwürdigen, komplizierenden Splitter über das prismatische Leben von Belano und Lima ausbreitet.

Die Spiele mit dem Text sind fröhlicher Natur, auch wenn die Figuren es nicht sind. Ein großspuriger, Latein zitierender Anwalt erzählt von Belanos Abstieg in einen phantastisch tiefen Abgrund, an dessen Ende sich der Teufel angeblich aufhält, und Bolaño lässt seinen Erzähler jedem Dichter der Antike einen Gruß zukommen. An anderer Stelle erinnert ein albernes Schwertduell an Borges‘ Geschichte von Träumen und Duellen in „Der Süden“. Manchmal ist der Text tief verschlüsselt. Hunderte von Seiten vergehen zwischen der Beschreibung einer Figur und den eigentlichen Ereignissen des Romans. Und obwohl Julio Cortázar nur einmal direkt erwähnt wird, trägt sein Klassiker Rayuela, der von kluger Jugend, einem tragischen Tod, textlichen Rätseln und der Unmöglichkeit des Lebens handelt, massiv die Züge eines Vorbilds für Bolaños Werk. 

Der Elvegust

Das Aufblitzen der Scheinwerfer eines sich nähernder Knudson-Taunus fräst für kurze Zeit einen gespenstischen Schein in die Nacht. Die Häuser entlang der Schlossstraße wirken wie übriggebliebene Kulissen aus Alain Resnais ›Letztes Jahr in Marienbad‹, wo die Komposition stets wichtiger ist als die Aktion, die Sinneseindrücke persönlicher als die Interpretation. Ansaugen, Verdichten, Arbeiten, Ausstoßen. Ein Schattenregister.

Gitternetz der Beobachtung: Verschwunden ist das, was die Pupille nicht streift, ein ungesehener Winkel, möglicherweise ein Scheunentor, ein Stein unter der Brücke, ein Grashalm im Wasser neben dem eigenen Gesicht.

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Die 5 seltsamsten Bücher der Welt

Bücher sind heute hauptsächlich reine Nutzgegenstände. Bibliophile Menschen gibt es nur noch wenige, vor allem, weil man sich „echte“ Bücher kaum leisten kann. Zwar bezeichnen sich viele Sammler nach wie vor als bibliophil, sie sind es aber nicht, sie horten im Grunde eben nur „Nutzgegenstände“. Die Kunst, Bücher herzustellen ist dennoch nicht ganz verschwunden, aber hier geht es eben nicht um das, was den modernen Leser ausmacht. Unweigerlich kommt neben der Seltenheit eines kostbaren Exemplars irgendwann die Frage auf – so man sie denn stellen mag – was denn die merkwürdigsten Bücher sind, die jemals hergestellt wurden. Und erst dann befinden wir uns im Gefilde der Bibliophilie. Selbstverständlich gibt es eine Menge bizarrer Bücher, gerade im Bereich des Okkulten. Die aber sind nicht wirklich rätselhaft, auch wenn sich vieles darin dem Verständnis entzieht. Ich habe einmal 5 Bücher aufgelistet, über die man sich tatsächlich den Kopf zerbricht.

Das Voynich-Manuskript

Voynich

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Das Flackern der Argandlampe

Fast wäre ich es gewesen, der es versäumte, dich reich zu illuminieren. Vom Tal zur Höhe ist es nicht einmal halb so weit wie gedacht, die Abkürzung ist nur ein vorübergehender Schwindel. Das Anrecht mit den Fingern im Nacken zu graben, hat der Sturm. Schwarz ist die Wolke, schwarz das Licht.

Man kann diese Hände – die aus dem Mauerwerk ragen – nur schütteln, seh‘n kann man sie nicht.

Also : wieder Nacht; wieder Schlaf … und immer so fort. Die Träume, die ich mir nicht merken kann, lasse ich mir wiederholen. Es bringt hingegen nichts, sich den Tag zu merken, das ist mehr was für die Kleinen, deren Tage randvoll sind mit Ungereimtheiten der eigenen Existenz. Dieser Überfluss, der in die Gräben rinnt, dieser fett sprudelnde Oneirokritikon (wenn so ein Fluss hieße, heißt das); und irgendwo ist immer Licht. Die gebeugten, die gebückten Szenen, würdelos angeflimmert. Ich erinnere mich nicht, ich müsste raten. (Wie du weißt, will ich nicht wirklich wandern, nur ferngehen ist mein Ziel).

Er lehnte sich zurück und nahm die Brille ab, die sich in Zeiten periodischer Weltbrände dem Urozean anschloss.

Er antwortete ihr in Druckschrift, dann entzündet er ein Räucherstäbchen, die Fresken auch. Durch die Bohlen der Kabine hörte er die Matrosen brüllen. Der Tag ging im nächsten Salon zu Ende, Spiegel an der Bar und Kronleuchter, schmiedeeiserne Türklopfer und Symphonien auf Notenpapier.

Der Alte legte eine Leiter an die östliche Wand der Kammer, jeweils eine Handbreit mit hellem Sand gefüllt, flach auf den Bauch. Es gab allerdings noch eine andere Möglichkeit, die Zwischenzeit sinnvoll zu nutzen, doch das war alles Nebensache geworden.

Kleine pastellfarbene Fasane verfingen sich im Zaun, der über die Felder zackte, über die Talsohle fegte, blassblau die Mäntel der Statuen, deren Blässe die Gesichter immer weiter bearbeitete; so warteten sie darauf, wieder erweckt zu werden.

Ada, oder Das Verlangen / Vladimir Nabokov

1959 arbeitete Nabokov an mehreren Projekten gleichzeitig: „The Texture of Time“ und „Letters from Terra“. 1965 war er der Meinung, dass die beiden Ideen, die er verfolgte, miteinander kompatibel seien und machte daraus Ada, oder das Verlangen. Der Roman erschien 1969 und wurde zunächst mit gemischten Gefühlen rezipiert, bis die New York Times konstatierte, dass sich dieses Werk neben den größten Arbeiten von Kafka, Proust und Joyce einreiht.

Wie jedes gute Buch ist Ada eine Herausforderung. Hier gibt es keine lineare Geschichte, ganz im Gegenteil mäandert sie, unterbrochen von Brüchen in der Zeitlinie und Anmerkungen über das Konzept der Zeit an sich, und entfaltet so seine phantastische Größe.

Das Buch erscheint in der Hauptsache als die Memoiren von Van Veen, einem erfolgreichen und verwöhnten Aristokraten, der hier seine Erziehung auf dem Familenbesitz, seine langjährige Liebesbeziehung mit seiner Schwester Ada, die Liebe der anderen Schwester Lucette, die er nicht erwidert, und andere Angelegenheiten und Intrigen der Familie auf dem Planeten Antiterra, eine Variante unserer Erde, beschreibt.

Nach vielen Verzögerungen, bleiben er und Ada für immer zusammen und leben fast ein halbes Jahrhundert in inzestuöser Glückseligkeit.

Nabokov prangerte oft den sozialen und psychologischen Realismus an und reicherte seine Bücher mit Verfremdungseffekten und Distanzierungsvorrichtungen an – was ihn zu einem der größten Schriftsteller aller Zeiten machte. Hier aber warf man ihm interessanter Weise vor, den Realismus völlig abzuschaffen.

In schelmischer und magisch fließender Prosa geschrieben, ist Nabokovs längster, reichhaltigster Roman eine Liebesgeschichte, aber auch ein Märchen, eine historische Parodie, eine erotische Satire, eine Erforschung des Zeitkontinuums und eines der herausragendsten Werke der Phantastik, vermutlich das schönste, mitreißendste, außerweltlichste Buch in englischer Sprache.

Eine alternative Geschichte

Lange hat man sich darüber gestritten, ob das hier vollendete Science Fiction sei, was vornehmlich am Konzept einer alternativen Geschichte festgemacht worden war. Die meisten Kommentatoren zogen es jedoch vor, den Genrebegriff herunterzuspielen und suchten stattdessen ungeschickt nach Wegen, das Eindringen „trivialer“ Literatur in ein literarisches Meisterwerk zu entschärfen. Der Gipfel der Absurdität wurde dann auch erreicht, indem man erklärte, Nabokov sei ein Autor von „Physics Fiction“. Andere Kritiker bestanden darauf, dass Ada ein Roman über Sprache sei, oder eine Liebesgeschichte, oder ein Puzzle, das sich als Geschichte ausgibt, oder ein Kommentar zur Erschaffung literarischer Werke.

Wir sollten uns stets daran erinnern, dass ein Kunstwerk immer die Schaffung einer neuen Welt ist, so dass wir als Erstes diese neue Welt so gut wie möglich untersuchen und sie als etwas ganz Neues betrachten sollten, ohne offensichtliche Verbindung zu den Welten, die wir bereits kennen.

Nabokov in „Die Kunst des Lesens“

Das Buch beginnt im frühen 19. Jahrhundert, aber die Charaktere beziehen sich immer wieder auf anachronistische Technologien – darunter Flugzeuge und Filme. Dennoch haben sie keinen Strom und halten das strenge Tabu aufrecht, überhaupt davon zu reden. Es ist das Ergebnis einer mehrdeutigen historischen Katastrophe, die als „das L-Desaster“ bezeichnet wird. Seitdem ist die Elektrizität in eine spirituelle Obszönität gewandelt, über die man nicht sprechen kann. Viele der Technologien in Ada werden mit Wasser betrieben – Menschen sprechen durch ein wasserbetriebenes „Dorophon“ miteinander, anstatt ein Telephon zu benutzen, und bekommen Licht von einer plätschernden Lampe.

Der Roman spielt auf einem Planeten, der der Erde geographisch ähnlich ist, aber Antiterra genannt wird. Vieles, was wir als Nordamerika kennen, insbesondere Teile Kanadas, offenbaren einen ausgeprägten russischen Kulturgeschmack – ähnlich dem französischen Einfluss auf die heutige Québécois-Kultur. Die Vereinigten Staaten selbst erstrecken sich bis nach Südamerika. England ist eine Monarchie, die von König Victor regiert wird, und viele Teile der Welt – einschließlich Frankreich und Indien, Südafrika und Skandinavien stehen unter britischer Kontrolle.

Die Menschen auf diesem Planeten haben ein gewisses Bewusstsein für unsere eigene Erde, die sie Terra nennen, und die ihrer Vorstellung von einem Paradies entspricht. Nach dem Tode, so glauben sie, werden sie dorthin gehen. Einige Fanatiker oder Okkultisten haben Träume oder Visionen von Terra, aber ihre Schilderungen werden verspottet. Reden sie zu viel und zu leidenschaftlich von Terra, werden sie sogar als Wahnsinnige bezeichnet.

Dieses phantastische Setting durchwebt Nabokov mit einer grenzüberschreitenden Liebesgeschichte, die sich zwischen Van Veen und seiner Schwester Ada entwickelt hat. Diese Affäre zwischen minderjährigen Geschwistern, die intime Details präsentiert, ist noch weitaus unkonventioneller als selbst Humbert Humberts Beziehung zu Lolita. Zwischen den beiden Romanen liegen elf Jahre. Wir sprechen hier von einer Phase, in der sich die Durchsetzung der Zensur erheblich verändert hat, die noch in den 50er Jahren zu Verhaftungen, Buchverbrennungen und öffentlichem Aufschrei geführt hätte. Aber selbst diese Liebesgeschichte ändert wenig an den Anomalien des alternativen Universums, in dem sie angesiedelt ist und die dem Leser quasi auf jeder Seite vor Augen geführt werden. Denn natürlich hatte Nabokov als Geschichtenerzähler nur ein halbherziges Verhältnis mit der sogenannten Realität. Dennoch durchzieht Nabokovs Interesse für Wissenschaft den Roman.

Unser Protagonist Van Veen ist ein renommierter Wissenschaftler auf den Gebieten der Expertise literarischer Techniken, philosophischer Überlegungen und der Umgestaltung der Konzepte von Raum und Zeit. Veen nimmt den Leser dann auch häufig – abschweifend von der Geschichte seines Liebeslebens – auf Abstecher zu seinen Theorien der physikalischen Realität mit. Das mag sich manchmal so anhören, als würde Nabokov vergessen haben, dass er da einen Roman schreibt, aber er hat eindeutig die Vorarbeiten etwa von Proust und Thomas Mann im Sinn, die ja bereits vor ihm Reflexionen über die Zeit in ihre Romane aufgenommen hatten. Tatsächlich kommt Nabokov darauf auch auf den ersten Seiten zu sprechen. Deren poetische Reflexionen sind allerdings mehr Kunst als Philosophie, während Nabokov in diesen prallen Abschnitten den strengen Ton eines Pedanten annimmt und seine größte Stärke schrulliger Ausdrucksweisen hier gar nicht erst in Erwägung zieht.

Denn wenn er nicht gerade versucht, Einstein zu verbessern, verblüfft Nabokov mit all seinem Können in Sachen Witz, Wortspiel, Sex und Zynismus mit einer an Parodie grenzender Präzision und einem Vokabular voller Anspielungen, die selbst eine ganze Bibliothek voller Lexika herausfordern würde. Wer nicht bereit sein sollte, das Spiel nach Nabokovs Regeln zu spielen, sollte sich ein anderes Buch zur Unterhaltung suchen.

Die Melancholie einer ländlichen Idylle

Die Mädchen sind frühreife, sonnenpolierte Nymphen, ein sanfter Splitter im Granit, der den Härtegrad verdirbt. Durch ihr rätselhaftes Fangen-Spiel wetteifern sie mit den Blumen der Lüfte, den Schmetterlingen; sie fassen sich an den luftdurchfluteten Blütenkleidern, klirrend ihr Lachen, die Zeit verwelkt. Heute sind sie jedermännisch, ihrer früheren Geheimnisse beraubt, doch damals konnte man ihre lunare Stimmung erhaschen. Jede von ihnen eine potentielle Jägerin der Nacht, vor Mitternacht zu Bett getragen, um im Traum zu verpuppen. Der Sommer trägt die Gelüste vorwärts, im Frühling versprochen, im Herbst entspannt genossen. Das erste Regen der Exogamie.

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Hexenkiel

Noch einmal wiederhole ich: Schwärzer als die Textur der Nacht schält sich ein Symbol aus der dunklen Leere.

Die Gesichter der Vergangenheit sind auch am besten dort aufgehoben, aber ich begegne ihnen manchmal auf den Straßen. Es könnte sein, dass sie mich gar nicht bemerken, nicht bemerken, wie ich kurz zusammenfahre. Der Vergangenheit kann man sich nicht offenbaren, eine gefährliche Begegnung ist das, die Zeit lässt nicht zu, dass man sich versöhnt.

Bilder sind nicht wirklich, sie sind nur eine Erscheinungsvariante. Das Szenario wird beherrscht von der Traumsubstanz. Ob ein Ding fest erscheint oder durchlässig ist, ist ganz und gar unerheblich.

Die seltsamen Geschichten des Robert Aickman

Aickman

Robert Aickman ist selbst in seinem Heimatland England ein vergessener Autor. Der 1914 geborene und 1981 an Krebs gestorbene Schriftsteller ist für Peter Straub der “tiefgründigste Verfasser” von Horrorstories des 20. Jahrhunderts. Eine Leserschaft, die ihn über den Kultstatus hinaus brachte, fand er zu seinen Lebzeiten nicht. Der  renommierte britische Verlag Faber & Faber hat das zu Aickmans Hundertsten Geburtstag 2014 geändert und veröffentlichte eine Sammlung seiner lang nicht mehr in Druck befindlichen Erzählungen.

Robert Aickman
Robert Aickman; (c) R. B. Russel

Bei uns brachte der DuMont-Verlag zu Beginn der 1990er Jahre zwei schmale Büchlein mit willkürlich zusammengestellten Geschichten heraus und bis zum heutigen Tag galt es als ziemlich unwahrscheinlich, dass wir mehr von diesem brillanten Autor bekommen. Doch manchmal geschehen tatsächlich Wunder, und so hat sich der Festa-Verlag der Sache angenommen und bringt in 6 Bänden die Werke des englischen Genies heraus.

48 strange stories, wie er seine Geschichten selbst nannte, sind von Robert Aickman bekannt. Für seine “Pages from a Young Girl’s Journal” bekam er 1975 den World Fantasy Award.

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