Die möglicherweise bekannteste Daguerreotypie von Edgar Poe ist die Ultima Thule genannte vom 9. November 1848, entstanden vier Tage nach seinem Selbstmordversuch. Dieses Portrait wurde nach einem Zitat aus Poe’s Gedicht Traumland (orig. ›Dream-Land‹) so bezeichnet, weil man in ihm einen Ausdruck trotziger Verzweiflung am Rande des Todes gesehen haben will. Für die meisten Poe-Liebhaber ist dies das Bildnis, das am ehesten zum Charakter seines Werkes zu passen scheint.
Baudelaire bescheinigt dem Bildnis, dass Poe dort ein recht französisches Aussehen an den Tag lege, in Wahrheit war der Dichter vom Alkohol gezeichnet. Das ursprünglich recht feminine Gesicht weißt tiefe Furchen auf, die Augenpartien zeichnen sich unsymmetrisch ab.
Doch nun geschieht etwas Merkwürdiges in einem Leben voller Merkwürdigkeiten. Am 13. November, also vier Tage später, sieht Poe bereits wesentlich erholter aus. Zu sehen auf dem Whitman-Daguerreotypie bezeichneten Portrait.
1849 wirkt Poe dann beinahe wieder hergestellt. Er sieht gesund aus, steckt voller Pläne für die Zukunft, beabsichtigt sich sogar neu zu verheiraten — und stirbt in Baltimore unter mysteriösen Umständen, unter deren Sternen sich sein ganzes düster-tragisches Leben entfaltet hatte.
Poe war, als ich ihm begegnete, etwas älter als ich. Er befand sich wohl, wenn auch die Schatten einer schweren Melancholie die tiefen Augen wie Vorhänge einrahmten. Es faszinierte mich nicht wenig, zu beobachten, wie er nahezu täglich sein Aussehen änderte, ohne jedoch seine charismatische Persönlichkeit einzubüßen. Für uns beide war die Zeit ein Instrument der Willkür, weswegen wir uns nicht an sie zu halten brauchten. Von ihm lernte ich zwei bedeutende Dinge, die er mir, jetzt, wo er auf niemanden mehr Rücksicht zu nehmen hatte, anvertraute. Das eine war das richtige Trinken des Absinth. Er bemängelte, dass es sich in der heutigen Zeit allenthalben nur noch um ein Naschen handeln konnte. Er aber, der Künstler des Rausches, gab sich nicht mit den einfachen Genüssen ab. Er scheute sich zu keiner Zeit, in das Innerste eines jeden Tempels vorzudringen, auch wenn das bedeutete, die Kontrolle zu verlieren.
Das andere war das Konzept, sich durch die Geisteskraft immer tiefer in sich selbst hineinzubewegen. Er sprach in diesem Zusammenhang nicht selten von einem Labyrinth mit dem Minotaurus in der Mitte. Das gab er mir als Grund an, warum er niemals einen Roman geschrieben habe, auch wenn er, wie er zugab, oft daran denken musste.
„Die meisten Romane“, sagte er, „sind wie der Faden der Ariadne. Zum einen scheinen sich die Dichter auf sicherem Boden bewegen zu wollen, um den Weg in jedem Fall wieder zurückzufinden. Zum anderen hängt selbst alles an diesem Faden und jeder könnte ihm folgen, wie viel Verwicklungen und Abzweigungen es auch immer geben mag.“
Er selbst wolle jedoch jeden einzelnen Schritt so ausleuchten, dass man sich auf diesen Faden nicht erst konzentrieren müsse, sondern vielmehr den Ort und dessen Atmosphäre im Auge behalten könne. Neben dem Gedicht gäbe es nur eine einzige Vollendung innerhalb der Poesie. Und das wäre die kurze Erzählung. Diese allerdings nahm er in die Pflicht, das Arabeske und das Groteske so herauszustellen, dass sie dem Spiel einer flackernden Kerze ähnelte, deren Licht über die Wände des Labyrinths irrlichtert.
„Es geht nichts über die Strategie einer analytischen Logik“, sagte er. „Nur so geschrieben kommt die Erzählung einer Komposition gleich.“
„Die Erzählungen der Ratiocination nehmen – obwohl Sie doch jeder mit Ihrem Namen in Verbindung bringt, dann wohl doch den geringsten Teil Ihres Oeuvres ein. Im Gegenteil strapazieren Sie die Logik dort gehörig!“, sagte ich, schon etwas trunken ob der späten Stunde.
„Was zerschmettert uns mehr als das Hinscheiden einer geliebten Frau? Was wäre poetischer als der Tod eines blassen Schwans, so dass unser Geist die wildesten – wohlgemerkt tief purpurnen – Blüten treibt?
Ist die Komposition mit einem ästhetischen Gemäuer verknüpft, das wie im Zusammenspiel von Grundton, Terz und Quinte nur auf ein Ziel zusteuern kann: den Wahnsinn, aus Schmerz und tiefer Verzweiflung geboren, dann ist sie nichts anderes als der Kontrapunkt. Denn der Wahnsinn und die Dekadenz, aus der die Empfindungen sprießen, die wir jenseits von allem vermuten, sind gerade der Gipfel einer analytischen Logik, die sich darin gleich wieder selbst karikiert. Denn dass die Liebe über den Tod hinaus akut bleibt, ist keine Zutat der reinen schwärmenden Phantasie, sie ist das Monströse unserer eigentlichen Einsamkeit.“
Mr. Poe war oft sehr schwer betrunken, was man ihm nicht eindeutig ansah. In diesen Momenten trieben seine Dämonen ihm Blüten auf die Wangen und seine Augen zeugten von erhöhter Nervosität. Die Qual der Besessenheit indes wusste er nur zu mildern, indem er die Feder zur Hand nahm, was er aber nur vermochte, sobald die Wirkung des Alkohols im Abklingen begriffen war. Es galt ihm, den richtigen Moment zu erkennen, denn sobald der Zenit des Rausches überschritten war, kam sehr schnell der Kater über ihn, den er nur mit Opium zu lindern vermochte.
Wie alle Lebenselixiere, ist gerade das Feuerwasser das gefährlichste. Es stärkt den Geist durch flüssig gewordenes Blut, das Leben rast durch die Adern und bringt alle Eindrücke, die der Körper kaum mehr zu archivieren weiß, in magische Aufruhr. Sie werden überdacht und neu zusammengesetzt.
Was also der Körper dort am Grabe von ihrem Geist empfing, hat weder das Auge bemerkt, noch vermochte das Gefühl durch die Kleidung zu dringen, so dass ich hätte seufzen mögen: „Virginia ist’s dort im Windhauch.“ Und doch: es blieb dem bisschen Leben nichts anderes, als nur sie allein wahrzunehmen. Vielleicht war die Erinnerung zuletzt gar nicht im Hirn zu verorten, sondern außerhalb von uns.