Der Weg nach Raha: 8 Adam und der Reisende

Jemand (ich kenne ihn nicht) kam mit einer grauen Tasche unter der rechten Achsel an, stand stumm wartend unter dem Wellblechdach der Wartefront am Bahnsteig.

Stellen Sie sich einen Mann vor, der einen schwarzen gebürsteten Anzug trägt, die Hose geschnürt mit einem baskischen Gürtel, einen Hut (unbekanntes Fabrikat) auf dem länglichen Schädel, ebenfalls schwarz, darunter, im Schatten, ein mehlweißes Gesicht; die Augen liegen sehr tief, zudem vom Schattenschlag des Huts verhangen, ansonsten ganz und gar eine bürgerliche Gestalt, die elefantengraue Tasche jedoch eine unbegreifliche Wahl.

Weiterlesen

Der Tag, an dem die Nacht nicht mehr verging

Die Kunde, dass Bobby in Beate reingepinkelt hat, macht an diesem Tag den Star der Ereignisse aus. Alle sind sich einig, dass sie jetzt sterben wird, denn die Tabus verwandeln sich bekanntermaßen in Gift, Gift verwandelt sich immer in entsetzliche Natur. Ein Schwebezustand zwischen Ekel und Bewunderung macht die Runde, dem die Legendenbildung folgt, die aus dem Körper lallt, schäumend wie ein halbstark gärender Krätzer. Vor dem Alkohol haben sie mehr Respekt, denn den tragen sie in ihrem jungen Blut nach Hause. Er wird der Verräter sein, der promillige Judas; und nicht die verästelten Zungen, mit denen sie sich gegenseitig an Stellen belecken, die schon sehr nahe dem Gift, die das Tabu (schon wenn man es denkt) brechen.

Weiterlesen

Wolf aus Erz: 4 Er hatte die Welt verlassen

Erneut stieg Adam in seinen Kaninchenbau hinab. Dazu brauchte es nicht viel. Einfach den Blick auf ein Farbpigment gerichtet, und schon sah er sich und seinen Bruder zurück in ihre Betten schlüpfen, obwohl das gar nicht zur Dramaturgie der Fotografie gehörte. Noch war nichts geschehen, Helmut noch nicht gefressen worden. Nur der Wolf war schon da. Er forderte durch seine Existenz, ab jetzt aufmerksam zu sein, denn bald würde alles aus den Fugen geraten. Adam war verblüfft, wie frei er sich bewegen konnte. Er schlich an Lumpi vorbei – das war eigentlich ausgeschlossen. Wie ein Seismograph reagierte der nämlich auf jede kleine Veränderung. Der Kettenhund bemerkte ihn nicht und schlummerte mit der Schnauze auf seinen schwärenden, vom Kot verklebten Pfoten. Er winselte leise im Schlaf. Adam dachte darüber nach, ob er ihn befreien sollte, sozusagen als Test, ob er wirklich in der Vergangenheit vorhanden war. Er spürte sich gleichzeitig da oben auf der Couch sitzen (von einem Kaninchenbau aus gesehen, musste es oben sein) und hier neben dem elendig aussehenden Hund stehen. Er hob eine Hand vor sein Gesicht, um sie zu betrachten, hatte das Gefühl, den Arm zu heben, aber vergeblich. Er war unsichtbar, nur ein Gedanke, der durch längst vergangene Erinnerungen strolchte. Sein Körper saß in diesem Hotelzimmer und starrte ein Bild an, das sein Vater einst geschossen hatte. Trotzdem dachte Adam darüber nach, warum er nicht fror und keinen Schnee sah, wo doch das Bild ein Weihnachtsbankett zeigte. Oder irrte er sich? Befand er sich in der falschen Zeit, oder konnte er gar gehen, wohin er wollte?

Weiterlesen

Wolf auf Erz: 2 The Golden Trumpet

Adam betrachtet angestrengt das Foto in seiner Hand, das mit einer Instamatic, die nur zwei Belichtungseinstellungen kannte, aufgenommen wurde. Die Farben darauf wirkten rau und surreal – die Gesichter seiner Familie nicht weniger. Wie Geister blickten sie in die Kamera. Rückt zusammen, sonst bekomme ich euch nicht alle drauf! Geister, die sie damals noch nicht waren. Er hatte schon andere Bilder aus dieser Zeit gesehen, aber der Verdacht, dass es diese Vergangenheit überhaupt nie gegeben hatte, war dadurch nicht verflogen. Ganz im Gegenteil. Er konnte sich bedenkenlos Schwarzweißbilder ansehen, die seinen Vater beim Kartenspielen mit seinen Brüdern zeigten. Dabei bekam er nie dieses Gefühl eines verrückten Traumes. Fotografien bewiesen niemals die Gegenwart ihrer Objekte, war es nicht so? Es könnte also gut sein, dass er hier etwas in Händen hielt, das es nur in seiner Phantasie gab. Es war ja nicht so, dass er diesen Zustand nicht zur Genüge kannte. Hier wurde seine Erinnerung mit den abgebildeten Formen konfrontiert. Die Wartebank des Todes; schließlich waren alle in genau der Reihenfolge gestorben, in der sie an diesem festlich gedeckten Tisch saßen. Meine Güte, dachte er, wann war das? 1975, 76? Der Anlass war ein Weihnachtsfest, daran konnte er sich erinnern. Die Reste des fetten braunen Bratens standen noch in Anrichten auf dem Tisch herum, der, übersät mit Bierhumpen und Sektkelchen, die weiße Tischdecke kaum durchscheinen ließ. Adam wusste noch ganz genau, wie dieser Braten geschmeckt hatte. Das hatte sich ihm für alle Zeiten eingeprägt, und es war so ziemlich das Einzige, das er aus seiner Vergangenheit noch bei sich trug. Immer wenn er später den Braten selbst zubereitete, den Carisma – an diesem Tag mit Sebastiana gemeinsam wie in einer Alchemistenküche vorbereitete –, kam das einem Ritual gleich, das nahezu religiöse Züge annahm. Dabei hatte er das Rezept nie wirklich gekannt. Er erinnerte sich lediglich an den Geschmack, diesen satten, waldig-fleischigen und deftig-süßen Geschmack. Die Geister tanzten nicht nur auf seiner Zunge herum, sie spukten durch seinen ganzen Körper und beeinträchtigten seine Wahrnehmung, angesteckt von Gefühlen, die gar nicht die seinen waren.

Weiterlesen

Der Hungerleider am Straßenrand: 3 Ödmarken der Dunkelheit

Die Städte sind Wunden, eine ist so gut wie die andere. Sie bluten nicht, sie verwesen. Niemand ist imstande, sich vor den Fängern zu schützen. Der Geruch ist unbeschreiblich.

Aus den Trümmern herauslugen: rechts eine Anhäufung aus Staub, sieht aus wie Vogelsand, darin winden sich noch Mauerreste, die Straße ist nur eine zerhackte, schwärende Schlange, vor langem schon gestorben. Sie stutzt, verzögert den Schritt, sieht ihn aber nicht im Schatten des Mauerwerks stehen.

Weiterlesen

Ein Hungerleider am Straßenrand: 2 Die Nasen blutiger Häuser

Es detonieren Bomben, aber nicht hier. Mächtige Rauchwolken treten aus dem Tal, von oben schön zu sehen. Tinte trifft auf Wasser, nur umgekehrt. Das Cydonia-Gesicht wühlt sich aus dem Dunst heraus, bläht die Flügel, verendet in einem Golfschläger.

Die Milch: frisch und fett, euterwarm. Beinahe hätte der Wanderer sich erbrochen, beugte sich schon, die linke Hand in der Nähe des Magens tastend, in seiner Kehle schon Luft und Gas und Speichel, sowie ein wohliges Rülpsen. Dabei dachte er an den Turm, der zum Himmel stank, dachte an Raha.

Weiterlesen

Ein Hungerleider am Straßenrand: 1 Zahnlose Minka

Er kam über die pittoreske, aber unnütze Steinbrücke, die mit zinnenähnlichen und auskragenden Absätzen verziert war und die sich seit vielen Jahrzehnten nur noch über Gneisbrocken, Schiefer und Unkraut beugte. Sein angestrebtes Ziel war der Hof, der aus dem wolkigen Dickicht reckte, und der von seinem Standort aus gesehen ganz genauso verlassen wie alle anderen Höfe in dieser sinnlosen Zeit wirkte. Die abgestorbenen Brisen fanden keine intakte Höhlung mehr vor, die den windigen, feuchten und veränderlichen Tönen als Tanzplatz diente.

Weiterlesen

Der Weg nach Raha: 7 Evaluation

»Schau, wenn wir uns hier hinstellen, können wir den Zügen nachsehen!« Er träumt mit offenen Augen, erwartet kaum das sehnsüchtige Verlangen nach der Ferne, das reisende Objekte in ihm auslösen.

»Ich dürfte überhaupt nicht hier sein mit dir!« Sie spielt mit dem Zeigefinger in ihren Locken, ringelt sie auf, sieht verlegen drein, betrachtet ihre Schuhe, betrachtet seine Schuhe, seine Knie.

Weiterlesen

Wir bezahlen den Wein natürlich

Der Empfang, dem man dem Triumphator bereitet, währt kurz, Io Triumphe, Thriambos, gesiegt hast du, Bacchus! Wolf zwitschert auf einem Grashalm ›Mull of Kintyre‹, die anderen sehen lieber zu, dass sie weg kommen: da brandet bereits der Ärger mit einer Schürze bekleidet heran, naht in Form einer Donnerwolke. Bloß zurück, zurück zu den Strohbundhäusern!

Adam verteilt die Flaschen, der schwarze Asphalt gibt ihren derben Tritten Geschwindigkeit.

»Wir bezahlen den Wein natürlich!«

Weiterlesen