Die Angst ist ein ständiger Begleiter von mir. Sie wohnt mietfrei in meinem Gehirn. Als ich klein war, sagte sie mir zur Schlafenszeit, dass ich mit dem Bettzeug an die Wand gelehnt schlafen müsse und mein Körper dem Rest des Zimmers zugewandt sein müsse, damit sich nichts und niemand von hinten an mich heranschleichen könne. Sobald die Sonne unterging, drängte sie mich, alle Lichter im Haus einzuschalten. Es machte das Hinaufsteigen der Kellertreppe zu einem olympischen Ereignis. Wenn ich langsamer wurde, musste ich damit rechnen, dass etwas seine Krallen in mich schlug. In der Dunkelheit lebten Monster, und die schattigen Räume unter den Betten waren wie Treibsand, der mich in eine schreckliche Unterwelt hinabziehen konnte. Decken waren nicht verhandelbar, egal zu welcher Jahreszeit. Auf keinen Fall würde ich einen Arm oder ein Bein aus dem Bett baumeln lassen!
Als ich ein Teenager wurde, steigerte sich meine Angst. Es wurde zur Routine, unter meinem Auto nach einem Serienmörder zu suchen. Die ganze Nacht aufzubleiben, um Freddy Krueger aus meinen Träumen zu vertreiben, war Pflicht. Und dann stolperte ich bei einer Pyjamaparty über den Film „Der Exorzist“, und mein Schrecken nahm eine dämonische Wendung. Natürlich fügte meine evangelikale Erziehung diesem Feuer noch einiges an Brennstoff hinzu. Ich schlief monatelang mit einer Bibel unter dem Kopfkissen und bereute jeden Sonntag vor dem Altar alle Sünden, die ich möglicherweise begangen hatte, denn ich war mir sicher, dass ich andernfalls der Gefahr einer Besessenheit ausgesetzt war. Auch um Ouija-Bretter machte ich einen großen Bogen – und tue es immer noch.
Jetzt, wo ich erwachsen bin, schlafe ich nicht mehr mit dem Bettzeug an der Wand oder mit einer Bibel unter dem Kopfkissen. Aber ich kämpfe immer noch mit der Angst. Es ist nur eine realistischere Angst. (Es sei denn, es handelt sich um Zombies, dann ist alles möglich.) Jetzt fürchte ich mich davor, dass jemand mitten in der Nacht in mein Haus einbricht oder dass ich mit meinem Auto ins Wasser fahre und nicht mehr entkommen kann, bevor ich ertrinke. Diese Ängste sind Gott sei Dank nicht lähmend, aber das liegt daran, dass ich das Geheimnis gefunden habe, wie ich sie zu meinem Vorteil nutzen kann.
Der Trick besteht darin, meinen Schrecken durch die Bücher, die ich schreibe, zu verarbeiten. Sie sind der sicherste Ort, den ich mir vorstellen kann, um die schrecklichen „Was-wäre-wenn“-Szenarien meines Gehirns zu erforschen, ohne zu riskieren, dass mir tatsächlich etwas passiert. Sie ermöglichen es mir, das Meistern gefährlicher Situationen zu üben. Zugegeben, es ist eine gefühlte Kontrolle über eine oft unkontrollierbare Welt, aber es mindert die Angst, die ich empfinde, wenn sich meine Fantasie auf Worst-Case-Szenarien zu konzentrieren beginnt.
In meinem letzten Buch, Flight 171, habe ich mich mit dem Gefühl der Panik beschäftigt, das ich bei Start und Landung immer habe. Es ist dieser schreckliche Moment, wenn das Flugzeug so schnell über die Landebahn rast, dass der Pilot das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren, und die Kabinenwände so stark zittern, dass sie auseinanderbrechen könnten. Ich habe auch im Geiste die Visionen durchgesiebt, die ich hatte, als mein Flugzeug in der Luft explodierte, wie bei einem realen Final Destination-Vorfall. Indem ich mich durch einen Worst-Case-Szenario-Flug schrieb, habe ich diese Angst verarbeitet und ausgelöscht.
Um die ganze Geschichte noch beängstigender zu machen, habe ich dann eine uralte dämonische Kreatur eingebaut, die derzeit den Körper einer kranken alten Dame in Besitz nimmt. Dieses Monster muss die Kontrolle über einen neuen, jüngeren Körper übernehmen, um zu überleben. Es zwingt also die Hauptfigur Devon und ihre Freunde, den neuen Wirtskörper aus ihrer Gruppe zu wählen, oder das Flugzeug wird abstürzen. Ich weiß, dass ich gesagt habe, dass ich nicht mehr mit einer Bibel schlafe und dass ich die ganze Sache mit der dämonischen Besessenheit hinter mir gelassen habe, nachdem ich erwachsen geworden bin, aber ich will ganz offen sein: Spirituelle Angst ist schwer zu überwinden. Flight171 hat mir geholfen, ein wenig mehr Fortschritte zu machen.
Und dann war da noch die Pandemie. Als ich den Flight 171 entwarf, war COVID ständig in den Nachrichten präsent. Unser Land war mit einer Seuche konfrontiert, die in erschreckendem Ausmaß Menschenleben forderte. Und immer wieder gab es Demonstranten, die ihr Recht einforderten, keine Maske zu tragen. Wir befanden uns an einem moralischen Scheideweg. COVID war die reale Version meines Monsters aus der Luft, das auf jede erdenkliche Weise zu überleben versuchte. Und die Menschen entschieden aktiv, wessen Leben ihnen am wichtigsten war – welche Opfer sie in Kauf nahmen. Indem ich die fiktiven Passagiere von Flight 171 so reagieren ließ, wie es die Menschen um mich herum im wirklichen Leben taten – indem sie entschieden, welches Leben ihrer Freunde enden sollte – konnte ich die Brutalität der Gesellschaft, die den Wert des Einzelnen kalt abwägt und misst, durcharbeiten. Die Angst, der Kummer und die Sorge, die ich darüber empfand, wie wir als moderne Gesellschaft damit umgehen, sind in dieses Buch eingeflochten. Indem ich mich meinen Ängsten im Buch stellte, gelang es mir, im wirklichen Leben erfolgreicher mit ihnen umzugehen.
Das heißt aber nicht, dass ich nicht manchmal darüber fantasiere, wie es wäre, diese Ängste gar nicht zu haben. Ich könnte mein Schreiben mit helleren, positiveren Dingen füllen. Einen Liebesroman oder einen gemütlichen Krimi schreiben. Ich könnte hemmungslos schlafen, ohne Rücksicht auf die Decke. Ich könnte vergessen, hinter den Duschvorhang zu schauen, wenn ich ein Bad betrete. Ich könnte allein in einem dunklen Raum stehen. Oh, an welche Orte ich gehen würde, wie Dr. Seuss einmal sagte. (Theodor Seuss Geisel ist der Erfinder des „Grinch“ — Übersetzer).
Aber dann denke ich an all die wunderbar schrecklichen Geschichten, für die ich weder das Bedürfnis noch die Phantasie hätte, sie zu erzählen, und mein Herz sinkt. Horror- und Thriller-Romane sind meine Leidenschaft. Ich bin süchtig nach dem Tempo und der Spannung, nach den unzähligen moralischen Zweifeln, die Situationen auf Leben und Tod hervorrufen. Sie sind das intellektuelle Äquivalent einer Achterbahn, mit der ich immer wieder fahren möchte.
Außerdem erinnert mich die Angst daran, was es bedeutet, ganz präsent zu sein. Das Leben ist manchmal gefährlich. Das Überleben ist nie garantiert. Dieses Wissen im Hinterkopf zu behalten, fordert mich heraus, das Beste aus jedem Tag zu machen und mein Leben nicht als selbstverständlich zu betrachten. Meine Angst ist Brennstoff und Feuer zugleich. Das Schreiben von Geschichten über sie ist für mich ein Weg, beides in Einklang zu bringen. Die Angst nährt mich, aber wenn ich sie nicht an einen sicheren Ort bringe – wie die Grenzen eines Romans – besteht immer die Gefahr, dass sie mich verzehrt.
Es gibt eine Legende über das schaurige Pariser Théâtre du Grand Guignol, die von der nicht zimperlichen, makabren Natur seiner Horrorstücke und blutigen Spezialeffekte zeugt. Einem Artikel der New York Times aus dem Jahr 1957 zufolge war es durchaus üblich, dass Zuschauer während der Aufführungen vor Schreck in Ohnmacht fielen (in der Vorkriegszeit waren es durchschnittlich zwei pro Abend). Als bei einer Aufführung ein Mann, der sich ein Gruselstück ansah, in Ohnmacht fiel, wurde der Hausarzt geholt. Es konnte jedoch kein Arzt gefunden werden. Als der bewusstlose Mann wieder zu sich kam, entschuldigten sich die Theatermitarbeiter dafür, dass sie ihren Hausarzt nicht auftreiben konnten. Der Mann erklärte müde: „Ich bin der Arzt“.
Das Grand Guignol, das von 1897 bis 1962 in Betrieb war, war eine Theaterinstitution, die eine Reihe von kurzen, provokativen Stücken aufführte: zwei bösartige, brutale Horrorspektakel mit blutigen Verstümmelungen und Morden und dann zwei extrem alberne komische Shows. Der Wechsel zwischen Horror und Komödie wurde als „douche écossaise“ (heiße und kalte Dusche) bezeichnet. Die beiden Formate arbeiteten Hand in Hand: Sie zogen das Publikum in ihren Bann und wuschen es dann sozusagen ab. Aber das Grand Guignol ist eigentlich nur wegen seiner Horrorkomponente in Erinnerung geblieben: verkleidete, blutige und fast unerbittliche Gewalt. Es setzte auf die Art von extremen Schlächtereien, die das Publikum zutiefst schockierten und es dazu brachten, ohnmächtig zu werden, zu schreien oder in Panik zu verfallen und gegenüber den Umstehenden darauf zu bestehen, dass die Ereignisse auf der Bühne tatsächlich real waren. Trotz seiner offensichtlichen künstlichen Grenzen strebte das Grand Guignol nach einem überzeugenden Spektakel: Dolche, die in den Körper von Schauspielern auf der Bühne gestoßen wurden, schienen tatsächlich auf der anderen Seite wieder herauszukommen, und Blut spritzte unkontrolliert heraus. Flüssiges Blut wurde in verschiedenen Schattierungen gemischt, ein kräftigeres Rot für frische Wunden und eine braunere Farbe für eingetrocknete Flecken.
Das Théâtre du Grand Guignol wurde trotz seiner Begeisterung für den Horror nicht als Veranstaltungsort für diese Art von Unterhaltung gegründet. Im April 1897 von Oscar Méténier, dem Gesellschafter des Théâtre Libre, im Pariser Stadtteil Pigalle gegründet, verfolgte das Grand Guignol zunächst naturalistische Ziele. Das bedeutet nicht, dass die Stücke, die Méténier für sein neues Theater auswählte, nicht als schockierend oder sensationslüstern galten. Méténier, der vor seiner Karriere als Schriftsteller und Theaterimpresario ein ehemaliger Polizeisekretär war, war vielmehr daran interessiert, das, was er bei seiner Arbeit erlebt hatte, mit Nachdruck hervorzuheben: die Not der Arbeiterklasse und die realen Kämpfe des Pariser Kleinbürgertums – und er stellte dieses düstere Leiden so lebendig wie möglich auf der Bühne dar, oft unter Anprangerung durch die Kritiker. Das Théâtre Libre war ein Privattheater und daher frei von Zensur, aber laut dem Wissenschaftler Daniel Gerould wurde Météniers Stück La Famille andernorts nicht öffentlich aufgeführt.
Vor dem Grand Guignol produzierte und schrieb er Stücke dieser Art für das Théâtre Libre und experimentierte mit kreativen Entscheidungen, die das Publikum verblüffen und gleichzeitig das System scharf kritisieren sollten. Sein 1889 im Théâtre Libre aufgeführtes Stück La Casserole (Der Taubenhocker) war „eine gewalttätige Geschichte von Verrat und Mord unter Prostituierten und Zuhältern in einem billigen Tanzlokal“. Das Publikum war riesig, auch wenn der Schausteller André Antoine davor warnte, dass Zuschauer mit schwacher Konstitution das Theater verlassen sollten, bevor La Casserole begann. Die Show war ein kommerzieller Erfolg. Méténier hatte bereits ein Jahrzehnt vor der Eröffnung des Théâtre de Grand Guignol Erfolg damit, populären Naturalismus in schockierendes Spektakel zu verwandeln.
Als das Théâtre de Grand Guignol eröffnet wurde, wich es nicht von den zahlreichen Präzedenzfällen seines Vorgängers ab. Bei der Premiere am 13. April 1897 wurden acht kurze Stücke gespielt, darunter eine Bühnenadaption von Guy de Maupassants Mademoiselle Fifi, eine Geschichte über den Alltag in einem Bordell während des Deutsch-Französischen Krieges, und La Brême, die Geschichte eines Mädchens, das sich seiner Schwester als Prostituierte anschließt, um das finanzielle Auskommen ihrer Eltern zu sichern. Zur Zeit der Gründung des Théâtre de Grand Guignol hatte der Naturalismus aufgehört, eine intellektuelle und künstlerische Randbewegung zu sein, und war stattdessen zu einer regelrechten Modeerscheinung geworden. Gerould schreibt über diesen Wandel:
„Viele seiner Motive und Techniken sickerten in die populären Künste und das allgemeine Bewusstsein ein. Zu Beginn der 1890er Jahre erlangten die Themen des einfachen Lebens in der Grafik des Plakats und der Lithografie sowie in der Verschmelzung von Musik und Poesie im Lied große Popularität.“
Als Méténier das Théâtre de Grand Guignol leitete, produzierte er neue Werke in diesem sensationell naturalistischen Stil, spielte aber auch beliebte Klassiker des Théâtre Libre. Aus bis heute ungeklärten Gründen übertrug Méténier die Leitung des Théâtre de Grand Guignol an einem Mann namens Max Maurey, der es bald aus dem Schatten des Théâtre Libre herausführte und einem neuen Genre zuwandte: dem Horror.
Der Horror am Théâtre de Grand Guignol war jedoch immer noch in einer naturalistischen Tradition verwurzelt. Der Naturalismus von Méténier war zwar besonders skandalös, hatte aber auch ein soziologisches Ziel, nämlich die wahren Heucheleien des kapitalistischen Lebens darzustellen und das Elend der Arbeiterklasse zu betonen. Maureys Version des Théâtre de Grand Guignol verwendet die Handlungen von Météniers Stücken als Formeln, denen andere schockierende, blutige Aspekte hinzugefügt werden können. Durch Maurey wurden die realistischen Ambitionen des Théâtre weiter mit dem Bestreben vereint, für sein enthusiastisches und bis dato unerschütterliches Publikum populär und innovativ zu bleiben.
Unter Maurey entwickelte sich das Théâtre de Grand Guignol zum Théâtre Libre, das sich in seinem Aufführungsstil vom Melodram inspirieren ließ, auch wenn die Handlungen der verschiedenen Stücke weiterhin die Ausbeutung unschuldiger Menschen aus der Arbeiterklasse zeigten.
Die Wissenschaftler Richard J. Hand und Michael Wilson weisen in ihrer Geschichte des Théâtre darauf hin, dass „Naturalismus“ und „Melodrama“ zwar zweifellos auf ähnlichem Quellenmaterial beruhen, aber dennoch sehr unterschiedlich sind. „Während das Melodrama Stücke mit sentimentaler und predigender Moral in einer Welt produzierte, in der die Gerechten, die unter Elend und Armut litten, im Himmel belohnt wurden“, erklären sie, „war der Naturalismus eine viel radikalere Doktrin, in der die bürgerliche Gesellschaft für die Verrohung der Menschheit verantwortlich gemacht wurde.“ Die Einbeziehung des Melodrams ermöglicht die Betonung einer naturalistischen Geschichte (z. B. mit realistischen Schauplätzen, die auf die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie hinweisen), während gleichzeitig der stark repräsentative Charakter des Dramas betont wird.
Das Melodrama selbst hatte seine Blütezeit Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts, aber die Bewahrung vieler Elemente des Grand-Guignol-Theaters ist möglicherweise ein Beweis für ein lang anhaltendes innenpolitisches Unbehagen. Auch der Aufstieg des englischen Melodrams wurde zum Teil durch die tatsächliche Korruption des Bürgertums beeinflusst. Vielleicht spiegelte die Aufnahme des Melodrams in den Zeitgeist des naturalistischen Theaters Frankreichs Geschichte des Verrats durch seine höheren Mächte wider, aber auch eine Geschichte, in der öffentliche Brutalität einst eine Form der Unterhaltung war. Schneider schreibt in seinem Artikel von 1957:
„Während der Französischen Revolution waren die Zuschauer in Scharen gekommen, um die Guillotine in Aktion zu sehen. Aber seitdem hatten sie kaum noch Gelegenheit, sich zu amüsieren. Das Grand Guignol nutzte ihre Frustration geschickt aus. ‚Die Folter ist seit König Ludwig XVI. verboten‘, sagt eine Figur in einem Grand-Guignol-Klassiker. ‚Zu dumm!‘, lautet die Antwort.“
So sehr diese melodramatische Wendung auch nachdenklich stimmen mag, das Melodrama braucht Übertreibung, um erfolgreich zu sein. Diese Stücke mögen Anklagen gegen die unterdrückerischen sozio-politischen Regimes gewesen sein, aber ihre Übertreibung bei der Darstellung dieser Unterdrückung mag beruhigend gewirkt haben; egal wie schlimm oder schrecklich die Dinge sind, sie sind genau so schlimm wie das, was auf der Bühne zu sehen ist. Und, wow, sie waren wirklich schlimm.
Das vielleicht berühmteste Grand-Guignol-Stück ist Le Laboratoire des Hallucinations von de Lorde, das die Geschichte eines Arztes erzählt, der erfährt, dass seine Frau ein Verhältnis mit einem seiner Patienten hat, woraufhin er sich rächt, indem er sadistische Gehirnoperationen an diesem Patienten durchführt – bis er den Patienten natürlich in den Wahnsinn treibt und dieser sich wehrt, indem er dem Arzt einen Meißel in den Schädel rammt. Eine prothetische kahle Kopfhaut, erklären Hand und Wilson, sei das Geheimnis. Nachdem der Arzt den Schädel seines Patienten geknackt hatte, konnte er seine Kopfhaut überzeugend zurückziehen, um die Vivisektion durchzuführen.
Überzeugende Spezialeffekte und fesselnde Bühnengewalt waren die Markenzeichen des Théâtre de Grand Guignol. „… in den guten alten Zeiten war es in der Tat selten“, schreibt P.E. Schneider 1957 in der New York Times, am Ende der schrecklichen Zeit des Grand Guignol:
„Es war selten, dass man nicht wenigstens ein paar Leute sah, die wütend und taumelnd zum nächsten Ausgang eilten. Als einmal eine Frau, die gerade abgestochen worden war, auf die Bühne zurückkam und eine leere, blutende Augenhöhle zeigte, fielen sechs Leute auf einmal in Ohnmacht.“
Der Mann hinter dem Blut war Paul Ratineau, der Inspizient, der im Laufe der Jahre auch in vielen Produktionen mitspielte, das Make-up und die Spezialeffekte entwarf und die Beleuchtung und die Toneffekte steuerte.
Das Théâtre de Grand Guignol war bestrebt, die Gewalt so realistisch wie möglich darzustellen: „Das Theater hat ein Geheimrezept für Blut; wenn das Zeug abkühlt, gerinnt es und bildet Schorf“, heißt es in einem Artikel des Time Magazine von 1947.
„Abgetrennte Köpfe knallten regelmäßig auf die Grand-Guignol-Bretter, Kleindarsteller wurden in Säure gekocht, und einer Figur wurde regelmäßig das Gesicht auf einen glühenden Ofen gedrückt, wo es köstlich brutzelte“,
heißt es in einem anderen Times-Artikel, der vom Abriss des Theaters im Jahr 1962 handelt.
„…Erstklassige Eingeweide wurden aus roten Gummischläuchen und blutgetränkten Schwämmen hergestellt. Handpumpen spritzten das Blut durch einen Hohlraum in die Löffel, die den Opfern die Augen ausstachen. Das Blut war wirklich geronnen, und das gab es in neun verschiedenen Farben.“
Als das Theater schließlich geschlossen wurde, gehörte diese Requisite Charles Nonon. Er hatte alle Blutsorten täglich selbst gemischt.
Vier Jahre nach La Dernière Torture schrieb der Mitautor des Grand Guignol, André de Lorde, ein Handbuch für Schauspieler, in dem er den effektiven Spielstil erklärte:
De Lorde war eine der wichtigsten Figuren des Théâtre de Grand Guignol: der berühmteste und produktivste Autor des Theaters (er schrieb zu Lebzeiten über 150 Werke). Seine Werke, die als „La Prince de la Terreur“ bezeichnet werden, wurden von 1900-1950 am Theater aufgeführt und sind in ihrem Schreibstil zwischen Naturalismus und Melodram angesiedelt. De Lorde schrieb sein Schauspielhandbuch als Empfehlung für den allgemeinen Berufsstand und nicht speziell für das Théâtre de Grand Guignol.
Doch oft ging es bei der Schauspielerei um die schnelle Anwendung von Taschenspielertricks. In dem Stück Le Baiser de la Nuit beispielsweise muss ein Mann, Henri, eine Frau, Jeanne, verstümmeln, indem er ihr Vitriol ins Gesicht schüttet. Sie kämpfen, Jeanne im Würgegriff von Henri, beide mit dem Gesicht zum Publikum. Damit Jeanne einige Augenblicke, nachdem Henri ihr Säure ins Gesicht geschüttet hat, wirklich verwundet aussieht, musste die Schauspielerin, die die Rolle spielte, bei ihren eigenen Spezialeffekten sehr zurückhaltend sein. Hand und Wilson stellen eine Hypothese auf, wie dies erreicht werden konnte:
„Die Lösung, die wir gefunden haben, besteht darin, den Fokus der Aufmerksamkeit von Jeanne auf Henri zu verlagern, unmittelbar nachdem er ihr die Säure ins Gesicht geschüttet hat. Die „Säure“ war in Wirklichkeit Bühnenblut, das für den Fall verwendet wurde, dass jemand einen kurzen Blick erhaschen konnte, bevor Jeanne ihr Gesicht mit den Händen bedeckte und sich qualvoll auf dem Boden wälzte. In der Zwischenzeit rückte Henri in den Mittelpunkt des Geschehens, der in seinem Rachefeldzug immer manischer wurde und die Aufmerksamkeit auf sich zog. Dies bot Jeanne die Gelegenheit, unter dem Vorhang, der die Chaiselongue bedeckte, nach einer Schale zu greifen, in der sich eine Mischung aus Himbeermarmelade, Bühnenblut und Vaseline befand, die sie sich ins Gesicht schmieren konnte, bevor sie sich schließlich auf dem Höhepunkt des Stücks dem Publikum präsentierte.“
Die Realitätsnähe der Spezialeffekte im Théâtre de Grand Guignol war besonders auffällig, weil das Theater selbst so klein war. Die Bühne war sieben mal sieben Meter groß, und es gab 250 Sitzplätze im Haus. Diese beengten Verhältnisse ermöglichten es dem Publikum nicht nur, die realistischen Effekte besser zu sehen, sondern verstärkten auch die Bindung zwischen dem Geschehen auf der Bühne und den Zuschauern in zweierlei Hinsicht. Erstens konnten die Zuschauer nicht vergessen, dass sie sich tatsächlich im Publikum befanden. In einem überfüllten, beengten Theater, in dem Menschen schreien, lachen, oder keuchen und natürlich in Ohnmacht fallen oder wiederbelebt werden, ist es nicht leicht, sich zu isolieren. Zweitens trug die Nähe dazu bei, das Gemeinschaftsgefühl zu fördern – sie erinnerte daran, dass die Show für dieses Publikum inszeniert wurde. Viele Zuschauer waren Stammgäste; der Wissenschaftler Mel Gordon bezeichnet sie und ihre Gemeinschaft als „Guignoliers“.
So sehr sich Guignoliers und Neulinge gleichermaßen vor den Schreckensspektakeln ekelten, so sehr war im Grand Guignol immer klar, dass alles, was geschah, eigentlich ungefährlich war. In den Horror- und Komödienstücken ging es oft um die gleichen Themen: Untreue und Eifersucht. Auch die Komödie konnte gewalttätig werden und bot viele der gleichen Figuren wie die Schreckensstücke – zum Beispiel teuflische Ärzte und törichte Liebhaber -, allerdings in einer eher possenhaften Form. Durch die Verkleinerung derselben Archetypen, die das Publikum Minuten zuvor schockiert und erschreckt hatten (oder es in wenigen Minuten erschrecken würden), wird diesen Figuren das Gift entzogen.
Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass viele der gleichen Schauspieler von Horrorstück zu Komödienstück wiederverwendet wurden (die sich zwischen den Episoden herausgeputzt oder geschminkt haben). Außerdem waren die Schauspieler von Abend zu Abend bekannt, während einige von ihnen Berühmtheitsstatus erlangten. Die Schauspielerin (Paula) Maxa trat in den 65 Jahren des Bestehens des Theaters am häufigsten auf. Laut Schneider:
„Kein einziger Zentimeter ihres Körpers wurde verschont. Sie starb mehr als 10.000 Mal auf etwa sechzig verschiedene Arten und wurde mehr als 3.000 Mal vergewaltigt“. Auch ihre Hilfeschreie wurden zu Klischees. Mel Gordon stellt fest, dass sie „983 Mal ‚Hilfe!‘, 1263 ‚Mörder!, und 1804 Mal ‚Vergewaltigung! rief.“
Und dann gab es natürlich noch die Vorhangrufe – Figuren, die tot oder verstümmelt waren, standen nun auf und verbeugten sich, als ob nichts Schlimmes passiert wäre. Schneider schreibt: „Als eines Abends der verunglückte Rennfahrer aufstand, um sich zu verbeugen, rief eine nette Dame im Publikum: ‚Oh, er lebt! Was für eine Schande!'“.
Vergessen Sie Tinkerbell – die Feen der Folklore vergangener Jahrhunderte waren nicht mit denen in den heutigen Geschichten zu vergleichen.
Wenn die meisten Menschen an Feen denken, stellen sie sich vielleicht die glitzernde Tinkerbell aus Peter Pan oder die anderen herzerwärmenden und niedlichen Feen und Feengottmütter vor, die in vielen Disney-Filmen und Zeichentrickfilmen für Kinder vorkommen. Doch diese Kreaturen haben einen viel dunkleren Ursprung – und glichen früher eher untoten, blutsaugenden Vampiren.
In „The Secret Commonwealth of Elves, Fauns and Fairies“ (1682) vertrat der Volkskundler Robert Kirk die Ansicht, Feen seien „die Toten“ oder „eine Zwischennatur zwischen Mensch und Engel“. Diese Assoziation ist in keltischen Überlieferungen besonders ausgeprägt. Lady Jane Wilde verbreitete 1887 folgenden irischen Glauben:
Feen sind die gefallenen Engel, die von Gott, dem Herrn, wegen ihres sündigen Stolzes aus dem Himmel geworfen wurden … und der Teufel gibt ihnen Wissen und Macht und schickt sie auf die Erde, wo sie viel Böses tun.
Lady Jane Wilde
Auf den ersten Blick scheint die heutige unschuldige Vorstellung vom Märchenland so weit entfernt zu sein wie das schattenhafte Reichen der Toten, und doch gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Trotz Zauberstäben und Glitzer haben Feen eine dunkle Geschichte und überraschend gotische Züge. Warum haben wir die Angst vor Feen verloren, und warum werden sie mit der Kindheit in Verbindung gebracht?
Wie Feen ihren Biss verloren
Als J.M. Barries „Peter Pan“ in den frühen 1900er Jahren erschien, herrschte in der damaligen Gesellschaft der Glaube vor, dass Feen in einer schattenhaften Geisterwelt lebten. Fasziniert von Engeln, Geistern und Vampiren, sahen die Viktorianer (und später die Edwardianer) in den Feen zunehmend die Seelen der Toten. Der Erste Weltkrieg und der Verlust vieler geliebter Menschen vertrieb die Feen nicht, sondern verstärkte den Glauben an Luftgeister und okkulte Methoden der Kommunikation mit ihnen.
Mit dem großen Erfolg von Peter Pan und der prominenten „Feen“-Figur Tinkerbell verloren die Wesen jedoch schließlich ihre Bösartigkeit und wurden auf Kinderzimmer beschränkt.
Barrie setzte den Ursprung der Feen bekanntlich mit Kindern gleich:
Als das erste Baby lachte… zerbrach sein Lachen in tausend Stücke… das war der Anfang der Feen.
Aus „Peter Pan“
Das ist weit entfernt von den bösen Feen und ihren dunklen Geschichten in der Folklore. In diesen Geschichten rauben sie Kinder, treiben Menschen in den Wahnsinn, vernichten Vieh und Ernten – und trinken Menschenblut. Barrie war sich ihrer dunklen Seite natürlich bewusst. Trotz Feenstaub und Glamour ist Tinkerbell gefährlich und rachsüchtig wie jede tödliche Fee. An einer Stelle der Geschichte droht sie sogar, Wendy zu töten.
Peter Pan oder Der Junge, der nicht erwachsen werden wollte wurde Weihnachten 1904 auf der Bühne uraufgeführt. Inspiriert wurde es von den Feen, die in populären Shows wie Seymour Hicks‘ Bluebell in Fairyland auftraten. Peter Pan wurde 1953 von Disney heiliggesprochen und die sentimentale Zelluloid-Fee war geboren. Die niedlichen, jugendlichen Feen des heutigen Kinderfernsehens sind ein Ergebnis dieser Disneyfizierung.
Bluthungrige Dämonen
In der Folklore sind Feen jedoch oft eine dämonische oder untote Macht, vor der die Menschen Schutz suchen müssen. Das hat auch die Volkskundlerin Katharine Briggs festgestellt. In ihrem Lexikon der Feen schreibt sie:
Menschen, die nachts allein unterwegs waren, vor allem an von Feen heimgesuchten Orten, hatten viele Möglichkeiten, sich zu schützen. Das konnte durch heilige Symbole wie das Kreuzzeichen oder das Tragen eines Kreuzes geschehen, insbesondere eines eisernen Kreuzes, durch Gebete oder das Singen von Hymnen, durch Weihwasser, und das Tragen und Streuen von Kirchhofkies auf dem Weg. Auch Brot und Salz waren wirksam, und beide galten als heilige Symbole, das eine für das Leben, das andere für die Ewigkeit.
Wörterbuch der Feen
Außerdem hat das Feenland einen Hunger nach Menschenblut. Dies bringt die Feen mit den rachsüchtigen Toten und den Vampiren in Verbindung. In frühen Berichten werden Vampire als Körper von Toten definiert, die von bösen Geistern beseelt sind, die nachts aus ihren Gräbern steigen, um das Blut der Lebenden zu trinken und sie dadurch zu vernichten – so heißt es in einem Eintrag im Oxford English Dictionary von 1734.
In Diane Purkiss‘ Troublesome Things: a history of fairies and fairy stories (Geschichte der Feen) findet sich eine schottische Hochlandlegende, die empfiehlt, nachts Wasser ins Haus zu bringen, damit die Feen ihren Durst nicht mit Menschenblut stillen können. Sehr alten Feen wird nachgesagt, dass sie, ähnlich wie Vampire, ohne frisches Blut runzlig werden und vertrocknen.
Die Baobhan Sith sind vampirische schottische Feen. Diese wunderschönen grünen Banshees haben Hufe anstelle von Füßen, sie tanzen mit ihren männlichen Opfern, erschöpfen sie und reißen sie dann in Stücke. Wie viele Feen können auch sie mit Eisen getötet werden.
Dearg-Due sind irische vampirische Feen oder „Red Blood Suckers“. Es wird angenommen, dass sie Sheridan Le Fanus VampirgeschichteCarmilla (1871) beeinflusst haben.
Halloween soll eine Zeit sein, in der der Schleier zwischen unserer Welt und der Welt der Schatten sehr dünn ist. In dieser Zeit häufen sich die Geschichten von Begegnungen zwischen Menschen und Feen. Wenn Sie also dieses Halloween auf der Suche nach geflügelten Freunden sind, eine Warnung an alle Neugierigen: Sie sind vielleicht nicht so süß, wie Sie denken.
Seien Sie vorsichtig und betreten Sie niemals einen Feenring. Diese Kreise aus Pilzen sollen von im Kreis tanzenden Feen erschaffen worden sein. Der Volksmund sagt, dass man unsichtbar wird, wenn man einen solchen Pilzkreis betritt, und dass man so lange tanzen muss, bis man vor Erschöpfung stirbt. Eine gesunde Furcht vor Feen ist also immer ratsam.
Bist du ein Mensch oder bist du ein Maus-Detektiv? In den Zeichentrickfilmen der Walt-Disney-Studios (in denen ein solcher „Maus-Detektiv“ vorkommt) kann man sich für Letzteres qualifizieren, indem man besonders loyal, freundlich oder unermüdlich ist. Aber vor allem muss man laut Disney besonders mutig sein, um ein Maus-Detektiv zu sein. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass Disney-Filme seit langem für die positivsten Darstellungen der Schädlingsgemeinschaft im 20. Jahrhundert verantwortlich sind, von den Maskottchen Micky und Minnie Maus über die winzigen Helfer in Cinderella bis hin zu den triumphierenden Helden in Die Retter in Down Under und dem sternäugigen Rattenchef in Ratatouille. Alle diese Figuren, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eint der Gedanke, dass Mäusen das gelingt, was Menschen nicht können; was ihnen an Größe fehlt, machen sie durch ihr Herz wieder wett.
Aber bedeutet es mehr, ein Maus-Detektiv zu sein, als einfach nur eine Maus zu sein? Das fragt Disneys heute beliebter Film von 1986, Basil, der große Mäusedetektiv, der trotz guter Kritiken an den Kinokassen nur mäßig erfolgreich war. Der titelgebende Detektiv des Films ist Basil aus der Baker Street, ein munteres Mausgenie, das in einer winzigen Wohnung unter der Wohnung des echten Holmes in der Baker Street 221 in London um 1897 lebt. Es lohnt sich zu wiederholen, dass Basil nicht einfach nur ein Abbild von Sherlock Holmes in einem mit Mäusen neu geschaffenen Universum ist; er ist das Maus-Gegenstück zu einem koexistierenden menschlichen Holmes. Jeder Mensch hat hier ein Maus-Gegenstück. Dr. Watson hat die dicke, lustige Maus Dr. Dawson. Holmes‘ Vermieterin, Mrs. Hudson, hat ihr Pendant in der Maus Mrs. Judson. Und es gibt sogar eine Mausversion von Königin Victoria, die unter dem Buckingham Palace lebt.
Der Film, der auf den Basil of Baker Street-Romanen von Eve Titus basiert, legt also ein witziges erzählerische Bild im Bild nahe: die Annahme, dass es ein winziges, mauszentriertes Paralleluniversum gibt, das gleichzeitig mit unserer Welt existiert. Wenn die Logik des Films im wirklichen Leben vorherrschen würde, säße ich, während ich diese Zeilen schreibe, draußen auf einer Holzbank, und eine winzige Mausversion von mir würde unter dieser Bank sitzen, mit einem Stück Papier und einem sehr kleinen Bleistift in der Hand, und vor sich hin kritzeln.
Mir gefällt, dass Basil, der große Mäusedetektiv nicht einfach eine Nacherzählung von Sherlock Holmes ist, bei der Mäuse die Menschen ersetzen. Das Beharren auf einem menschlichen Holmes und einem Maus-Holmes bedeutet, dass der menschliche Holmes zwar in der Lage ist, schwierige Verbrechen zu lösen, Basil sich dafür aber noch mehr anstrengen muss (auch wenn er dieselben logischen Schlussfolgerungen zieht), weil er nur einen Bruchteil von Holmes‘ Größe hat und nur einen Bruchteil seiner Kraft besitzt: Er ist eine Maus in einer Menschenwelt. Wie alle Mäuse in den Disney-Filmen muss er sich seinen Weg durch eine Welt voller Objekte bahnen, die zu groß für ihn sind, und Kreaturen, die nur darauf warten, auf ihn zu treten oder ihn zu fressen. Basil aus der Baker Street muss sich viel mehr anstrengen als seine menschliche Version, da Holmes den Komfort hat, in einer Welt zu leben, die für seinesgleichen geschaffen wurde, Basil aber nicht.
Ich finde, dass dies ein besonders überzeugender Schachzug ist, vor allem im Pantheon der Sherlock-Holmes-Adaptionen und -Ableger; was auch immer wir sonst mit Holmes verbinden (umfassende Schlauheit, beeindruckende deduktive Fähigkeiten, umfassendes wissenschaftliches und anthropologisches Wissen usw.), ich finde nicht, dass wir ihn oft mit Anstrengung assoziieren. Zumindest sehen wir sie nicht. In der Tat scheint der Reiz von Sherlock Holmes gerade in seiner Mühelosigkeit zu liegen.
Der von Jon Musker, Ron Clements, Burny Mattinson und Dave Michener inszenierte Film Basil, der große Mäusedetektiv ist eine Geschichte, in der es um die Auseinandersetzung mit Größenordnungen geht. Was im Film folgt, ist buchstäblich Basils schwierigster Fall und seine größte Anstrengung. Basil ist kein Sesseldetektiv, und der echte Holmes ist es auch nicht, aber Basils Abenteuer – sein bisher anspruchsvollstes – führt ihn in Höhen und Tiefen, die für den Holmes, den wir kennen, eher unvorhersehbar sind. Ja, Holmes ringt mit Moriarty am Rande der Reichenbachfälle in der Schweiz (wobei er die Kampfsportart „Bartitsu“, die zum Teil aus Jiu-Jitsu und zum Teil aus Boxen besteht, anwendet, um Moriarty über die Klippe zu schleudern) und jagt den Hund der Baskervilles durch die Moore von Devonshire, aber Basil flickt einen behelfsmäßigen Heißluftballon zusammen und fliegt damit auf die Spitze des Big Ben, was wahnsinnig hoch ist, selbst wenn man keine Maus ist.
Basils Entwicklung ist durch diese Art von großer Verschiebung gekennzeichnet: Er kommt am Ende des Films buchstäblich und gefühlsmäßig sehr weit. Ein kleines schottisches Mäusemädchen namens Olivia Flaversham muss mit ansehen, wie ihr freundlicher Vater, ein Spielzeugmacher, von einer unheimlichen, holzbeinigen Fledermaus entführt wird. Verängstigt und allein versucht sie, den berühmten Mausdetektiv Basil aus der Baker Street ausfindig zu machen, als sie von dem freundlichen Dr. David Q. Dawson abgefangen wird, einem zuvorkommenden Kerl und Ex-Army-Chirurgen, der (wie Basil bei ihrem Treffen herausfindet) gerade vom Militärdienst in Afghanistan zurückgekehrt ist.
Als sie im Quartier des Detektivs ankommen, zeigt sich der überdrehte und von seinen Forschungen besessene Basil desinteressiert daran, von diesem Kind angeheuert zu werden… bis ihm klar wird, dass das Verschwinden ihres Vaters mit den Bewegungen seines größten Feindes Rattenzahn zusammenhängt – einer riesigen, eleganten Ratte, die einen umbringt, wenn man sie anspricht. Er wird von einem älteren Vincent Price in teuflischer, seidiger Perfektion gesprochen. Sobald Basil erfährt, dass Rattenzahn hinter dem Verschwinden von Olivias Vater steckt, tritt er in Aktion und nimmt Dawson und Olivia mit auf die Reise. Am Ende hat er sowohl für die kleine Olivia als auch für Dawson eine Schwäche entwickelt, umarmt das Mädchen liebevoll und fragt den guten Doktor schüchtern, ob er in Zukunft sein Partner werden will.
Eines der großen Vergnügen von Basil, der große Mäusedetektiv ist seine überraschende Realitätsnähe: In diesem mausgroßen Doppeluniversum macht es Spaß, kleine Anspielungen auf den Holmes-Kanon zu entdecken. Da gibt es die offensichtlichen Verbindungen (Basils Vorliebe für Verkleidungen und das Geigenspiel) und die amüsanten Anspielungen (Basils eigener Name erinnert an den großen Basil Rathbone, der in den 1930er und 40er Jahren Sherlock Holmes spielte, sowie an einen der Decknamen des literarischen Holmes; in Arthur Conan Doyles „Der schwarze Peter“ erfahren wir, dass Holmes auch „Basil“ heißt). Es gibt fast wörtliche Zitate, z. B. wenn Basil Dawsons Karriere identifiziert (was Holmes im Eröffnungsroman „Eine Studie in Scharlachrot“ tut). Noch reizvoller ist, dass wir, wenn wir Holmes im Obergeschoss mit Watson sprechen hören, tatsächlich Basil Rathbones Stimme hören; obwohl der Film nach Rathbones Tod gedreht wurde, wird ein Teil des Dialogs aus einer Jahrzehnte zuvor aufgezeichneten Produktion von „The Red-Headed League“ übernommen). — Das geht leider in der deutschen Synchron unter . — Der Übers.
Aber ebenso wie er mit Ähnlichkeiten spielt, findet Basil, der große Mäusedetektiv seine größte Stärke auch in den Widersprüchen. Was Price‘ charmante, herrlich böse Stimme für Rattenzahn besonders unterhaltsam macht, sind die damit verbundenen Merkmale der sprecherischen Selbstgefälligkeit und seiner Gruselfilmkarriere; Rattenzahn ist ein dreckiger Schädling (ein Monster, wie wir schließlich sehen werden), das entschlossen ist, den Anschein von guter Erziehung und Größe zu erwecken, ein wandelnder Widerspruch, wenn es je einen gab.
Aber die ganze Idee von Basil, der große Mäusedetektiv wird von einem Widerspruch angetrieben: dass eine Maus, eine winzige Maus, erfolgreich sein kann, wenn sie es mit Gefahren zu tun hat, die proportional gesehen viel größer sind als die, denen ein Mensch jemals begegnen würde. Wenn Basil, der große Mäusedetektiv eine These hat, dann unterscheidet sie sich von der der Holmes-Geschichten; in diesem Film geht es darum, hart zu arbeiten, um in den Bereichen erfolgreich zu sein, in denen man nicht von Natur aus zum Erfolg prädestiniert ist. Holmes und Basil mögen gute Chemiker und Ermittler sein, aber Basil hat den größeren Nachteil. Es ist einfach schwieriger, ein Riese zu sein, eine Legende sogar, wenn man der Kleinste ist. Und man muss schon sehr mutig sein, um es zu schaffen.
In der guten alten Zeit waren Krimis einfach Krimis. Sherlock Holmes, der rationalste aller Detektive, warf das Licht der Vernunft auf ein scheinbar teuflisches Phänomen wie den Hund von Baskerville und erhellte die prosaische Wahrheit mit einem abschätzigen „Elementar, mein lieber Watson“. (Ich weiß, ich weiß! Er hat es nie gesagt. Ich will damit nur ausdrücken, dass Holmes immer eine rationale Erklärung fand.)
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendein Klient Nero Wolfe einen angeblichen Fluch angetragen hätte, aber wenn es einer getan hätte, wäre Wolfes Antwort zweifellos „Pfui!“ gewesen. Gespenster und Flüche blieben dem Reich des Schauerromans vorbehalten, Werwölfe und Vampire der Horrorliteratur und Elfen und Zauberer der Fantasy. Die Erben von Agatha Christie und Raymond Chandler wurden streng von den Erben Bram Stokers und Tolkiens getrennt. Heutzutage mischen viele Schriftsteller die Genres in ihren Kesseln und bringen dabei einige überraschend schmackhafte Mischungen hervor. Insbesondere Krimis und paranormale Phänomene lassen sich erstaunlich gut miteinander kombinieren, unabhängig davon, ob die übernatürlichen Elemente auf der Seite der Guten oder der Bösen oder auf beiden Seiten zu finden sind.
Sicherlich gibt es Krimi-Puristen, die behaupten, dass Magie in den Annalen der Detektivarbeit nichts zu suchen hat, dass es Betrug ist, wenn sich der Detektiv bei seinen Ermittlungen auf andere Kräfte als den Verstand verlässt. Puristen hat es in der Welt der Krimis schon immer gegeben. Im Goldenen Zeitalter der Detektivromane waren das die Leute, die jede romantische Verstrickung der Detektive beklagten. Das Rätsel ist alles, riefen sie. Unordentliche menschliche Gefühle stören nur. Im Gegenteil, ohne menschliche Emotionen gäbe es keine Verbrechen und somit auch nichts, worüber Krimiautoren schreiben könnten. Magie ist vielleicht nicht für jede Geschichte unverzichtbar, aber sie kann einem Krimi Elemente der Dramatik, der Überraschung, des Vergnügens und der Fantasie hinzufügen, ohne das Wesen der Handlung oder die Glaubwürdigkeit der Figuren zu beeinträchtigen.
Ein Beispiel, das mir in den Sinn kommt, ist Charlaine Harris‘ Protagonistin – nein, nicht Sookie Stackhouse – ich will eine Diskussion über den Vergleich Bücher / Fernsehserie vermeiden und auch nicht darüber sprechen, ob man Vampire mögen muss oder nicht -, sondern Harper Connelly, deren absolut glaubwürdige Welt genauso funktioniert wie die reale Welt, abgesehen von dieser kleinen Fähigkeit (die Toten zu finden und zu wissen, wie sie gestorben sind), die sie hat, weil sie vom Blitz getroffen wurde. Die Rätsel, mit denen Harper sich auseinandersetzen muss, ergeben sich aus dieser Fähigkeit, aber sie muss immer noch ihren Verstand benutzen, um sie zu lösen. Und die Art und Weise, wie die Menschen um sie herum mit ihr umgehen, wird sehr stark von deren Reaktion auf ihre Fähigkeit beeinflusst. Aber diese Reaktionen, so überzeugt uns Harris‘ geschickte Charakterisierung, sind genau die, die Menschen im wirklichen Leben hätten, wenn sie jemandem mit dieser Fähigkeit im wirklichen Leben begegnen würden.
Ich bin in einem Haushalt von Rationalisten aufgewachsen – meine Eltern waren beide Anwälte – und hatte immer eine heimliche Sehnsucht nach Magie. Ich sehne mich immer noch nach dem schier Unmöglichen, wie zum Beispiel fliegen zu können, was ich, wie die meisten von uns, bereits im Traum erlebt habe. Aber darüber hinaus, in der Kategorie der übersinnlichen Möglichkeiten, an die manche Menschen glauben und andere nicht, sehne ich mich danach, dass die Magie (Telepathie, Akupunktur, Pferdeflüstern, der Tunnel aus Licht, wenn wir sterben) real ist, auch wenn ich in meiner angeborenen Skepsis feststecke. In der Belletristik, sei es als Autor oder als Leser, kann ich mich allerdings daran erfreuen, denn da können einige dieser Träume wahr werden.
Die Erstveröffentlichung in den USA – der Comic schlug ein wie eine Bombe – fand am 14. Februar 2017 statt. Zu uns kam er am 25. Juni 2018 und ist bei Panini Comics erhältlich.
Emil Ferris
Es ist Emil Ferris‘ Erstlingswerk. Ca. zehn Jahre hat sie es mit sich herumgetragen und daran gearbeitet, sogar als sie zeitweise obdachlos war. Über 400 Seiten zählt der mehrfach prämierte (unter anderem Gewinner des Eisner Awards: in drei Kategorien) erste Teil dieses Meisterwerkes. Eines, an dem eine in die USA eingeschleppte infizierte Stechmücke nicht unwesentlich ihren Anteil hatte. Mit dem West-Nil-Virus infiziert, der Ferris von der Hüfte abwärts lähmte, auch der rechte Arm (wie auch ihre Hand) war betroffen, eroberte sie sich zeichnend ihren Körper weitestgehend zurück und machte sogar einen Abschluss im „Kreativen Schreiben“ an der School of the Art Institute of Chicago und erhielt zudem 2010 das Toby Devan Lewis Fellowship in den Bildenden Künsten. Emil Ferris, die wie ihre zehnjährige Protagonistin Karen Reyes selbst in den turbulenten 1960er Jahren aufgewachsen ist und dort heute noch lebt, war in einem früheren Leben Illustratorin und Spielzeugdesignerin für diverse unterschiedliche Kunden. Nach eigener Aussage liebt sie alles, was mit Monstern oder Horror zu tun hat.
Große Arbeit haben auch geleistet: Alessio Ravazzani, der für das Lettering zuständig war, wie auch Torsten Hempelt, der sich um die deutsche Übersetzung gekümmert hat.
Ein wahrlich monströses Kunstwerk!
Dieses üppige Kunstwerk in Form einer großen Kladde in Softcoverversion, an dessen Skizzen, kindlichem Gekritzel, Portraits, Szenenbildern, die teils wie Radierungen wirken, Panels und Gemälden von real existierenden Gemälden ich mich kaum sattsehen konnte, ist zugleich ein mysteriös monströser Psychothriller, ein Familiendrama, ein Geschichtsepos, eine Coming-of-Age-Geschichte, wie auch ein düsterer Krimi. Es ist eine Hommage an die vergangene Ära der Horror-B-Movies, sowie der Pulpmagazine. Liniertes, gelochtes Ringbuch-Schreibpapier, Kugelschreiber, Blei- und Farbstifte waren dabei alles, was Emil Ferris brauchte, um diese düstere aber enorm bezaubernde Geschichte in die Welt zu heben. Alles Utensilien, die den tagebuchartigen Stil noch verstärken. Dabei wird der Comic durch die von Emil Ferris nachgezeichneten Titelbilder der Horrormagazine der 60er Jahre in so etwas wie Kapitel unterteilt. Es ist sprichwörtlich neben dem Gang durch die, wie bereits erwähnt, Zeit- und Kulturgeschichte einer Ära, auch ein Gang durchs Museum. Auch lernen wir die Lebensgewohnheiten und -bedingungen der damaligen ausländischen und armen Arbeiterschicht kennen. Neben den abergläubischen Bräuchen von Karens Mutter kommt auch die griechische Mythologie nicht zu kurz. Die vielen Handlungsstränge, die uns nach und nach eröffnet werden, entwickeln einen enormen Sog. Sprunghaft, uns immer wieder auf Zeitreise schickend, entwickelt Ferris dabei die Geschichte(n) vor unseren Augen, lässt uns aber zugleich verweilen. Dies geschieht zum einen durch die Kraft ihrer Bilder und Details, wie z.B. die kleinen versehentlichen Schmierereien und erkennbaren Eselsohren, oder durch kleine gemalte Notizen, die wir finden können, zum anderen, durch ihre Erzählart, in Szenischem in die Tiefe (in die Seele der kleinen Protagonistin) zu gehen, wie z.B. während der Besuche im Museum, wenn Karen in die Gemälde klettert, oder ein andermal, wenn sie sich im Auge ihrer Mutter auf einer kleinen Insel wiederfindet.
Karen Reyes
Karen Reyes, deren Vater Mexikaner ist und deren Mutter zu einem Teil von irischen Siedlern aus den Appalachen abstammt und zum anderen von amerikanischen Indianern, ist eine Außenseiterin, die nunmehr gemeinsam mit ihrer kranken Mutter und ihrem Bruder Deeze – ein Frauenschwarm und Künstler – in einer kleinen Wohnung in einem turbulenten Chicago lebt, das bald von der Ermordung Martin Luther Kings in politische Unruhen gestürzt wird. Karen hat es in der Welt nicht leicht, von ihren Mitschülern gehänselt, behauptet sie sich als Werwölfin, Zeichnerin und Detektivin. Dabei untersucht sie nicht nur den Mord (der Hauptstrang) an ihrer verrückten Nachbarin und Freundin Anka Silverberg, einer Holocaustüberlebenden. Sie gräbt auch immer tiefer in ihrer eigenen Lebensgeschichte, wie auch in der ihrer weiteren Nachbarn, die alle, wie auch ihre eigene Familie, irgendwie in den Mordfall verstrickt zu sein scheinen. Währenddessen entdeckt sie ihr Geschlecht, ihre Liebe für andere Mädchen. Dabei lernt sie unter anderem Sandy und Franklin kennen, zwei Kinder, die nicht weniger kurios und seltsam sind wie sie es ist. Sie nimmt die beiden unter anderem mit ins Museum, wo sie auf ihre „zuverlässigen“ Freunde (die Figuren in den Bildern) trifft, die sie ansonsten oft mit ihrem Bruder besucht, der ihr die Bildende Kunst schon als kleines Kind näher gebracht hat.
Emil Ferris, die besonders von Künstlern wie Goya, aber auch von anderen, den Pulpmagazinen, Horror-Movies beeinflusst wurde, bekam von ihrer Großmutter die illustrierten Dickens-Romane von Colliers, voll mit Stahlstichen. Als Kind ihrer Zeit und in Anbetracht ihrer eigenen familiären Biografie und Sicht auf die Welt der Menschen hat sie sich mit der Werwölfin Karen Reyes auch ein wenig selbst verewigt.
Expressionistisch und surrealistisch
Einen ungeheuren Sog entwickelt dieses üppige, farbstrotzende Kunstwerk, das ich kaum aus den Händen legen konnte, und das ich, obwohl ich es bereits gelesen habe, immer wieder zur Hand nehme, um darin zu blättern und erneut zu lesen. So stark sind die Bilder, so fein und bedacht ist die Sprache. Nichs ist zuviel, alles ist wesentlich. Man kann sich bis ins kleinste Detail, sei es nun wichtig oder nur beiläufig, verlieren. Die Gesichtsausdrücke sind hierbei besonders stark. Es ist ein düsteres Wunderland, in dem selbst ein kleiner, kurz auftauchender weißer Haushase seinen eigenen witzigen Kopf hat. Die gesamte Figurenentwicklung ist grandios, es sind allesamt extreme Charaktere, die uns in ihren Bann ziehen, unter deren Oberfläche, obwohl sie aussehen wie von sich selbst gezeichnete Karikaturen, dunkle und spannende Geschichten wabern. „Am liebsten mag ich Monster“ ist surrealistisch, expressionistisch und extrem atmosphärisch. Eine absolut dichte, bezaubernde und nicht selten sehr poetische Erzählung.