Der Böhmwind – Erster Teil

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Die nackten Ufer des Strandes

An den nackten Ufern, festgestampfter Sand und nass, stehe ich und rufe dich: Komm!
Du willst ankern, aber nirgendwo ist das Land fest genug, nirgendwo ist die Zeit stabil, eine Lücke, wo wir stehen. Fische erhüpfen sich kristallene Insekten, die Wasseroberfläche kocht. Ein Huhn ohne Kopf, vom Hunger der Menschen gerichtet, flappt gegen die Sonne, eine Mücke im Licht. Der Wille ist ein letztes Aufbäumen, der Kopf auf dem Hackstock döst. Ein Huhn, ein Ikarus, ein Sonnenstrahl. Der Kopf liegt auf dem Hackstock und döst, aber sein Körper flattert nach Süden, fällt über einer Holzwippe zu Boden. Sie zieht ihre karierten Strümpfe über ihre weiße Haut, trägt nichts mehr außer ihrem Flaum, der sich im Wind, der das Huhn noch einige Meter durch die Lüfte wirft, aufrichtet. Angelruten stecken fest in der Erde. Komm! Mit dem Blut werden wir uns reinigen von der Reise, die hier endet. Ich halte die Axt, die uns stützen wird.

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Vom Verschwinden

Das Verschwinden um uns herum ist bizarr. Es beginnt mit Kleinigkeiten: ein Café wird aufgegeben, die Adresse eines Freundes stimmt nicht mehr, oder die Erinnerung verblasst und reiht sich ein in die Prozession toter Clowns, die von der anderen Seite winken. Sie tun das nur in einer Stadt mit Fluss, wo sich das Rechts vom Links trennt, oder das Nord vom Süd. Gemeinhin nennt man das Verschwinden auch Veränderung. Die Worte sind jedoch nicht dasselbe; die Veränderung kann ohne Verschwinden auskommen, auch wenn trotzdem ein bestimmter Teil nicht mehr vorhanden ist, das Verschwinden aber hat etwas Geisterhaftes in seiner veränderten Form und bedeutet einen völligen Verlust. Ich kenne das Verschwinden sehr gut, es widerfährt mir in so vielen Gesichtern.

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Die Strophen der Glocke

Das Dorf war voller Figuren, die sich aus dem Schatten wölbten.
Damals konnte ich sie nicht sehen, erst sehr viele Jahre später
fiel es mir wieder ein. Es fiel mir zum ersten Mal ein, als ich
eine gedankliche Reise unternahm, um zu sehen, ob sich
meine Erinnerung schon verändert hat. Es war also immer
etwas da draußen, der Sommer stets nur eine Erwartung.

Einst ein Läuten, gar nicht fern vom Standort
des großen Klangspektrums; ein Ritter könnte klirren, aber
er könnte nicht seinen Kopf abnehmen
wie der Hesse im schläfrigen Dorf, dem der Lehrer die Leviten las –
oder etwas anderes las, das die Strafe bedingt. Ein
Landstrich der Feen, menschenschlächterisches Nichtmenschengeschlecht,
blutsäuferische Bluttäufer, rotgestrickt und ohne Ort.

Wir haben unsere Sicheln abgeschliffen, ein warnendes Syndrom,
um die Glocke zu begleiten durch den Lehm.
Ein festsitzender Strunk wird uns die Ausrede sein,
verzögert anzulangen. Die Schattengesichter federn
ihre fragilen Züge durch eine Reihe unüberlegter Handlungen.

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Die Gefilde Roms

Numa Pompilius, der sich mit der Nymphe Egeria verbuhlt hatte, studierte nicht wenig die Weisheiten der Assyrer. Er besaß von ihnen nun die Kunst der Erzeugung und Lenkung des Blitzes. Aber bereits sein Nachfolger im alten Rom, Tulius, lenkte den Blitz so schlecht, daß er von ihm erschlagen wurde und somit das Geheimnis verlorenging. Wenn es heute über mich hinweg donnert, dann zögere ich nun nicht mehr, der Karte zu folgen, die sich durch das Blitzgewitter erkennen lassen wird. Dahin habe ich mich gebracht, und all die angehäuften Schriften waren nur mehr Klatsch gegen die echten Grimoiren, Bücher, die so unscheinbar waren, daß man sich nicht einmal ihres Autors versicherte, sie nicht einmal in die Hand nahm; in so einem schlechten Zustand fanden sie sich. Um als Zauberbücher auch wirklich erkannt werden zu können, müßten sie jedoch auch mit ihrer Fertigung prahlen, man muß ihnen gleich ansehen, daß einen der Geist darin völlig erschlägt, man muß dem Buch ansehen, daß man es nicht begreifen wird, die ausschwitzende Aura muß das Gelüst nach Jahrhunderten entfachen, in die hinein wir uns dann breitbeinig zu stellen wagen, um zu rufen : »Kommet, ihr Weltgeschichtler! Streunt an mir vorbei! zwickt mich in mein fettes Hinterteil, ich will denn auch meinen Arsch aus der Träumerei erwachen sehen! – hier wird jetzt in die Geschichte hinein geschissen, geradewegs hinein in Napoleons Schlachten kacken wir! – in die Gefilde Roms hinein!«

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Die Kußkelbertate

Wenn’s uns mit dem Kuss so ergeht, als wär’s zunächst ein Gruß von Innigkeit, sind wir vom Schlemmerwort ›Lecktschmandt› nicht mehr weit entfernt. Die Kußkelbertate ist nicht weit von der Hintertür entfernt und uns soll jetzt gar nichts anderes jucken als den Kuss auch auf die Liebe zu verweisen – mit deren Intension wächst auch die Bezeichnung des Kusses selbst.

Der Gruß von Innigkeit fliegt meist nur durch die Luft oder wird angedeutet, der Kuss der Verehrung wird uns erst die Brücke basteln, die bereits das Lustgefüge gewähren lässt, also bereits den Wechsel zwischen Gruß und lippender Inbesitznahme für das eigene Empfinden meint.

Bossen, Guschl, Tunsch, und Schmatz sind nur einige seiner sonderbaren Namen, und wo immer wir auch den Gruß des Kusses finden mögen, soll nicht das darin ausgedrückte Besiegeln von Frieden und Freundschaft uns für den Moment interessieren, sondern das Schlemmen des anderen, geliebten Parts. Da wird es nicht wunderlich sein, wenn selbst das höhere »Leck mich« doch eigentlich den Kuss bezeugt, denn ob man einen Arsch nun leckt oder küsst, macht der Frivolität keinen Umstand.

In Wahrheit geht das Küssen an der richtigen Stelle bereits notwendig in ein forderndes Schlecken über, das nun auf Speisʼ und Trank – du bist mir also Speisʼ und Trank – verweist, auf das Vernaschen. So wird deutlich, dass jemand von der Lust und von der Liebe zu leben vermag, er nascht vom dargebotenen Leib der Inbrunst, der Brunft; von der Aura des oder der Geliebten wird er sich be=essen.

So wie ebenfalls der Thanatos dem Eros nicht weit, so ist es auch das Essen aus dem Munde. Die orale Befriedigung des Kindes ist auch die Befriedigung des neuen Zustands der Liebe.
»Gott, wie bin ich beschmetterlingt!« (– statt ›beflügelt‹.)

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Esset nicht davon

Vom christlichen Satan über den islamischen Iblis und den hinduistischen Ravana bis hin zum zoroastrischen Angra Mainyu taucht die Idee eines singulären Wesens, dass das Böse repräsentiert, als kulturelle Allgegenwart immer wieder in den Annalen der Menschheit auf. Eine gegnerische Kraft, die sich im Kontext bestimmter Traditionen und Gesellschaften auf einzigartige Weise als Archetyp manifestiert.

Elizabeth Knapp starrt hinaus in die Dunkelheit, die nie so dunkel sein wird wie der Schatten des Codex Gigas, ein kollosales Ding von 75 Kilogramm, das in nur einer Nacht auf 160 Tierhäuten geschrieben wurde, das sie freilich überhaupt nicht kennt. Welche Magd hätte auch einen derart klugen Kopf besessen, hinter die Fassade der Furcht zu schauen. Es mag sein, dass die gefallenen Engel noch alles fest in ihren Krallen hatten und dass es dem Benediktinermönch Herman nur deshalb gelang, eingemauert im Kloster Podlaschitz den Teufel anzurufen. Gerufen hat wohl noch jeder, aber kam der Schwefelfürst denn auch? Hier wird es so gewesen sein müssen, denn die einheitliche Kalligraphie des Manuskripts, die sich durch den gesamten umfangreichen Inhalt zieht – darunter die gesamte lateinische Vulgata, medizinische Abhandlungen und magische Formeln -, lässt die Zeit von nur einer Nacht selbst für eine außergewöhnliche menschliche Willensanstrengung im Unmöglichen zurück. Was bedeutet es aber, etwas Unmögliches zu schaffen, wenn es doch unmöglich ist?

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