Zur Nacht – ich mag an einer bestimmten Stelle der Nacht Müdigkeit empfinden – aktiviert sich das Nachtgehirn, das sich ganz und gar von dem des Tages unterscheidet. Vielleicht tritt es gerade durch die Erschlaffung der körperlichen Funktion hervor. Ich ging auf und ab vor meiner Bücherwand; gehe ich nahe an sie heran, sind es viele, trete ich etwas zurück, bemerke ich vor allem das Fehlen jener Bücher, die noch nicht da sind. Dieses Fehlen fällt mir auf, weil noch Wand zu erkennen ist. Ich habe Mühe, die Nacht zu verschlafen – ein Traum ist ja nicht garantiert. Eine Nacht ohne Traum wäre allerdings vertan, also muss der Ersatz, der sichere Ersatz, die Lektüre sein. Nicht das lineare Zeilenfolgen, sondern das Fliegen durch auffällige Bände, die sich anbieten durch ihr leichtes Vorstehen, das Durchbrechen der sauberen Linie.
Wer schreibt, liest. Das eine bedingt das andere: eine Binsenweisheit. Nur ist es nicht immer so, dass man das schreibt, was man liest. Der Leseprozess selbst ist ein Schreibprozess, zumindest dann, wenn man lesen kann. Was sich wie Provokation anhört, ist gar nicht so unerhört, denn beim Lesen entsteht ein Gedankenraum im Leser, der vom Autor gar nicht intendiert war, von dem er nie Kenntnis haben wird, denn der Autor wird nie Leser seines Buches sein, sondern immer nur der anderen. Der Autor ist also vom Lesen ausgenommen, auch wenn es sich bei dieser Blockade nur um seine Bücher handelt. Der Schreiber öffnet einen Gedankenraum, den er vom Lesen kennt, und dann taucht er seine Feder ein und zeichnet aufs Papier, was er beim reinen Lesen ohne seine Hand erkennt. Jeder spürt die Gefahr, die beim Schreiben vom ersten Augenblick da ist. Die meisten ignorieren sie, andere lassen sich von dieser Gefahr treiben. Diese Lebensgefahr wird sie zur Meisterschaft bringen.
Ich weiß nicht, ob es hier begann. Denke ich darüber nach, gibt es weder einen Anfang noch ein Ende, nur die sichere Entropie.
Jeder Spuk ist, für sich genommen, ein Manifest der Aufzeichnung gewaltiger Gefühlsregungen, die im Augenblick des äußersten Schreckens eine unauslöschliche Spur hinterlassen. Aber auch die Zeugnisse, die nicht der Tragödie oder dem Grauen entspringen, sind noch vorhanden. Sie sind nur nicht dazu gedacht, wahrgenommen zu werden, damit die schwarzen Blüten selbst besser zur Geltung kommen. Doch diese Spielart der Ewigkeit ist nichts im Vergleich zu jenen Vorkommnissen, die keine andere Neigung zu haben scheinen, als die Tore ins Chaos zu bilden – hinaus und hinein. Diese Tore haben eine ähnliche Funktion wie das Filtersystem, das unser Bewusstsein vom Unterbewusstsein trennt. Es ist eine Sache, über die Möglichkeiten der Materie zu sprechen, aber es ist etwas völlig anderes, über die Möglichkeiten des ganzen Universums zu sinnieren. Möglichkeiten, die nirgendwo anders hinführen als in den Wahnsinn.
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Unter meinem Bild verschwimmt die Farbe. Ich habe dir von dem Bild erzählt, aus dem polimentvergoldeten Rahmen gelaufen, der nicht mehr fasst, was in ihm vor Kurzem noch hin und her geschwappt ist: Ein flüssiges Landschaftsbild, stets neu geschaffen, von der Erinnerung vergrault, aber auch bewahrt. Ich bin der Pinsel, der den locus amoenus nicht vom locus terribilis zu unterscheiden weiß; von Fingern aufgerappelt fahre ich über die Mittelgebirgszüge, füge Stufen und Gefälle ein, hinterlasse Lücken. Ich bin ein Pinsel aus Lehm. Im Schatten der Naturgewalten: Ein Antlitz ganz ohne Mund, hingeschmissen von Händen aus Staub, gezimmert aus Knochen, ohne ein Dach, auf das es regnen könnte. An den Wänden meines Hauses: Bildmetaphern ohne Mund. Doch die Mauern wurden einst von ihrem Geist geküsst. Nie hat ein Maler sie gemalt, nie hat ein Tänzer sie umschlungen, nie hat man sie bei Tag gesehn, nur dieser Mond schlug ihren Schatten auf ein flüssiges Gemälde.
Morena erschien mir von unserer ersten Begegnung an als eine überirdische Schönheit, und es darf nicht verwundern, dass sie, die auf einen uralten Stammbaum zurückblicken konnte, im besten Alter für eine Frau, noch nicht geehelicht wurde. Merkwürdig waren die Geschichten, die man sich über ihre Schönheit erzählte, und erste ernstgemeinte Avancen kamen wohl aus Furcht nicht zustande, denn man wusste in den sie umgebenden Kreisen sehr wohl, dass man sich immer auch den Ahnen zu stellen hatte, die das Geschlecht einst groß gemacht. Wehe dem, der sich nicht als würdig erweisen sollte, der zögert, wenn es gilt, nach vorne zu stoßen, oder der, andersherum, voller Übermut eine ganze Bresche allein zu füllen versucht. Ich war weder von der einen noch von der anderen Sorte und wurde wohl von ihr angehört, weil ich weder stürmte und drängte, noch die übliche Furcht vor ihrer Aura zeigte. In ihrer Nähe wurde ich stets von einer Kraft erfasst, die mir ermöglichte, philosophische Höhen zu erklimmen und etwa über Jakob Böhme, der bei diesen Gesellschaften zu dieser Zeit gern diskutiert wurde, zu parlieren, als wäre ich je ein Studiosus gewesen und hätte die Aurora nicht nur gelesen, sondern verstanden. Morena bedachte mich dann mit Blicken, die mich aufforderten, nur weiter so kühn von der alchimistisch-poetischen Machart zu sprechen und gerade den Gedanken vom Widerspruch als ein notwendiges Moment weiter zu verfolgen. So sprach ich oft vor ihr und ahnte nicht, dass ich gerade das, wovor sich die meisten fürchteten, heraufbeschwor.
Auf dem aus der Wand gewölbten Spiegel stand die Rechtfertigung gegenüber meines Verdachts, den ich vielleicht erst etwas später hätte äußern sollen.
»Ich habe nie …« Dabei war dieser Gedanke nie ausgesprochen worden, meine hängende Mundpartie hätte sich gar nicht um die vorgesehenen Worte wölben können. Also schwieg ich.
Ich hatte sie im Raubvogelgehege stehen lassen, konnte mich nicht dazu entschließen, auf sie zuzugehen, beobachtete sie dabei, wie sie einen verbrannten Engel küsste. Aber das war es nicht, was mich veranlasste, ihr zuzusehen und mich dabei hinter einem gefiederten Baum zu verstecken. Meine Augen wären ihr dabei vielleicht nicht willkommen, und wenn nicht meine Augen, dann vielleicht ihr Blick.
Es waren ihre bandagierten Arme, die mich neugierig machten (den Engel erkannte ich, um die Wahrheit zu sagen, auch erst viel später), und nicht zuletzt ihr Atemgerät, das ihr aus dem Gesicht ragte wie eine Radarfalle. Da kannte ich sie noch nicht.
Später traf ich sie noch einmal, sie fiel mir durch ihr verräterisches Kleid auf. Ihre Maske hatte sie nicht mehr bei sich und auch ihre Arme waren ohne Wunden, die eine Verhüllung erforderlich gemacht hätten. Nur ihr Kleid und die Brandflecken darauf. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Teller mit in Öl zerlassenen, kleinen Fischen – Sprotten, um es genau zu sagen. Der Ausgang war nicht weit, aber man wurde stets durch ein Schnellrestaurant geschleust, bevor man nach draußen kam. Die Tür öffnete sich erst, wenn man etwas verzehrt hatte (oder wenn man etwas zu Verzehrendes gekauft hatte; ob man es dann liegen ließ oder in den Papierkorb warf – es war pures Kalkül, dass es nur einen Papierkorb gab, so wurde an das moralische Empfinden appelliert – blieb der eigenen Strategie überlassen).
Ich sprach sie natürlich nicht an, aber ich schlenderte hinüber zu ihrem Tisch und grapschte nach jener Brust, die auf meiner Seite lag. Hätte sie die Maske noch getragen, hätte ich es nicht gewagt.
Ihr Teller zerbarst auf dem kargen Boden und die Fische schlitterten über die Fließen, als hätten sie es eilig, wieder zurück ins Meer zu finden. Aber sie fanden es nicht, verteilten nur das Öl und blieben liegen, wo sie waren.
Ich kann nicht genau sagen, was dann geschah. Erst jetzt erinnere ich mich an die krümeligen Reste ihrer Wimpern, die sie im Waschbecken hinterließ, an eine gesalzene Seezunge im Kühlschrank. Ich schaue mir ihre Handschrift auf dem Spiegel noch einmal an: »Ich habe nie …« Was wollte ich sie fragen?
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