Wolf aus Erz: 1 Todesfels

Sie hörten vom Tod nur flüstern. In ihre Spanbrettbude, die sich den ausladenden Flur erobert hatte, drangen die Geräusche eines Zeitpunkts nur sporadisch ein, mischten sich mit Träumen, die noch vormundan das verwirrende Spiel mit ihrer gegenwärtigen Existenz trieben.

Jedes Wochenende knallte mindestens ein Auto, für alle Insassen stets tödlich, gegen den Stein, auf dem ›Granitwerk Vates‹ stand. Darunter befand sich, ebenfalls gemeißelt, ein Pfeil, der die Richtung vorgab, in der der Steinmetzbetrieb an der Eger zu finden war.

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Mistrabella

Tief hängen die Decken des Hauses, festgestampft wie der Gartenboden, der sich rund um das Haus findet, und auch wie der Gartenboden zeugen Fußspuren von verdreht angelegten Wegen. Teekessel baumeln an Ketten, in ausgehöhlten Hühnerköpfen leuchten Kerzen durch Augen und aufgesperrte Schnäbel, die Wände krummer Lehm. Katzen schleichen um Porzellanaccessoires herum, die auf Regalen und bemalten Schränken einstauben. Esrabella wartet auf Bartholomäus, der seine Träume nicht versteht, der ihnen aber dennoch folgen wird.

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Fährabella

Nacht und Nebel schultern das Firmament, Esrabella wirft sich an den Hauswänden entlang, es ist spät. Sie sagt nicht, wer sie ist, aber offenbar ist sie bereits bekannt, wird durch einen Seiteneingang geschleust und mit einer Robe bedeckt. Sie täuscht sich über die Augenfarbe des Lakaien, ist es Bernstein oder Schwarz?

Aus Steinfugen franst Efeu, verirrt. Nächtlich geschult dringt Regenwasser aus den Schuhsohlen, lacht, petzt verborgene Wege. Diese dunkelnasse Grube weiß sie als ihr eigenes mütterlich-uterines Urmedium. Hier steht sie mit dem Boten des Kastellans, verfänglich und abgeschieden, fensterlos, rückhaltlos, für alle Zeiten nichtgebärend.

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Experimentelle Literatur

Misst man die Resonanz einer Veröffentlichung an den Verkaufszahlen, hat man sich bereits vom Kern der Literatur entfernt, misst man sie an den Rezensionen, begreift man die Distanz zwischen sich und der Welt, wobei eine Besprechung – wie auch immer geartet – im günstigsten Fall eine Mittlerfunktion einnimmt. Das Problem wird immer sein, sein Zielpublikum zu erreichen, darin liegt überhaupt die Schwierigkeit. Meist steht ein Verlag bereits für ein bestimmtes Feld und die Leser wissen das. So ist es leicht zu erklären, warum Autoren sich bereits mit Schubladen im Kopf generieren lassen und man so von Verlagsseite später keine Mühe mehr hat, das korrekte Register zu ziehen. Seit den 60er Jahren – als es noch eine freie Literatur gab – ist dadurch all diese fließende Freiheit vernichtet worden, der miserable Zustand unserer Literaturen wird dadurch verstehbar.

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Der Hungerleider am Straßenrand: 3 Ödmarken der Dunkelheit

Die Städte sind Wunden, eine ist so gut wie die andere. Sie bluten nicht, sie verwesen. Niemand ist imstande, sich vor den Fängern zu schützen. Der Geruch ist unbeschreiblich.

Aus den Trümmern herauslugen: rechts eine Anhäufung aus Staub, sieht aus wie Vogelsand, darin winden sich noch Mauerreste, die Straße ist nur eine zerhackte, schwärende Schlange, vor langem schon gestorben. Sie stutzt, verzögert den Schritt, sieht ihn aber nicht im Schatten des Mauerwerks stehen.

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Ein Hungerleider am Straßenrand: 2 Die Nasen blutiger Häuser

Es detonieren Bomben, aber nicht hier. Mächtige Rauchwolken treten aus dem Tal, von oben schön zu sehen. Tinte trifft auf Wasser, nur umgekehrt. Das Cydonia-Gesicht wühlt sich aus dem Dunst heraus, bläht die Flügel, verendet in einem Golfschläger.

Die Milch: frisch und fett, euterwarm. Beinahe hätte der Wanderer sich erbrochen, beugte sich schon, die linke Hand in der Nähe des Magens tastend, in seiner Kehle schon Luft und Gas und Speichel, sowie ein wohliges Rülpsen. Dabei dachte er an den Turm, der zum Himmel stank, dachte an Raha.

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Bartholomäus: 6 Wie heißt dieses Nest?

Bartholomäus suchte den Boden um die Telefonzelle herum nach Zigarettenkippen ab. Viele waren es nicht, aber einige von ihnen klaubte er in seinen Brotzeitbeutel, um sie später zu rauchen. Die meisten lagen schon etwas länger, waren nass geworden und wieder trocken – und erneut nass. Eine größere Beute machte er in den Kneipen, von denen es hier gleich drei gab. Aber ließ man man ihn überhaupt rein? Gestand man einem Verirrten zu, die Nachtwächter zu trinken und vielleicht auf dem Klo rumzustehen? Er versuchte es. Tatsächlich schenkte ihm der Wirt des Gasthofs zwei Krüge randvoll.

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Ein Verbrechen in der Nacht

Was immer der Kriminalroman ist – das Unheimliche, das Böse, das Verbrechen, das Rätsel – beherbergt er wohl aller Menschen Los. Was aber, wenn einmal kein Verbrechen geschieht? Dann ist die Fiktion immer noch ein Rätsel, mehr als es das Leben ist. Und vielleicht ist schon mit aller Existenz ein Verbrechen im Gange, nur gelöst werden kann es nicht.

Zur Nacht – ich mag an einer bestimmten Stelle der Nacht Müdigkeit empfinden – aktiviert sich das Nachtgehirn, das sich ganz und gar von dem des Tages unterscheidet. Vielleicht tritt es gerade durch die Erschlaffung der körperlichen Funktion hervor. Ich ging auf und ab vor meiner Bücherwand; gehe ich nahe an sie heran, sind es viele, trete ich etwas zurück, bemerke ich vor allem das Fehlen jener Bücher, die noch nicht da sind. Dieses Fehlen fällt mir auf, weil noch Wand zu erkennen ist. Ich habe Mühe, die Nacht zu verschlafen – ein Traum ist ja nicht garantiert. Eine Nacht ohne Traum währe allerdings vertan, also muss der Ersatz, der sichere Ersatz, die Lektüre sein. Nicht das lineare Zeilenfolgen, sondern das Fliegen durch auffällige Bände, die sich anbieten durch ihr leichtes Vorstehen, das Durchbrechen der sauberen Linie.

Bartholomäus: 4 Dieses Land est Noir

Alvin Gerard war gerade damit beschäftigt, einen Kunststoffbottich, der einmal ein Rührwerk bekommen sollte, mit seiner Ameise zur Weiterverarbeitung durch das Tor in die Betriebshalle zurückzubefördern, als Roland laut rufend aus dem Waldstück gerannt kam. Eigentlich war der Franzose zuständig für den Karosseriebau der Firma Netzsch Kunststoff. Als ein Monteur von Citroen genoss er hier einige Privilegien, fuhr selbst einen Méhari, der in Deutschland wegen der leicht brennbaren Kunststoffkarosserie eigentlich gar nicht zugelassen werden durfte. Hier bei les boches in den montagnes, die sie nach ihren épinettes, den Fichten benannt hatten (obwohl er kaum welche zu sehen bekam), scherte man sich nicht wirklich um sein Auto, das aussah wie ein Spielzeugjeep. Hier war alles etwas anders, sehr anders. Alvin hatte sich daran gewöhnt, er verdiente schließlich eine Menge Geld hier am Arsch des Universums, und wenn er alle zwei Wochen nach Levallois zurückkam, hatte er seinen Freunden eine Menge zu erzählen. Zum Beispiel von einem monsieur du grenier, dem Schwarzen Mann, an den sie hier wirklich glaubten, und den sie Agilmo oder Agil-up-fer nannten. Genau das rief Roland, gefolgt von seinen hechelnden und wesentlich kleineren Spielgefährten, die ihm kaum nachkamen.

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Bartholomäus: 1 Das Porzellanmädchen

Die zahlreichen Teiche dienten weitgehend als Stauteiche für Mühlen und Hammerwerke, die an den Bachläufen wie Perlen an einer Schnur aufgereiht waren.

Er wusste nicht, von wo er kam, konnte nicht einmal sagen, wer er denn eigentlich war. Da gab es diesen Nebel in seinem Kopf, wenn er versuchte nachzudenken. Sah aus, wie jeder andere Nebel auch, milchig, wie eine auf die Erde gestürzte Wolke. Hinter diesem Nebel befand sich seine Erinnerung, das Leben, das er gelebt hatte. Manchmal sah er in diesem weißen Nichts eine Frau stehen. Sie musste uralt sein, aber das erkannte er nicht richtig, weil der Nebel sie so stark umhüllte. Er sah einen schwarzen Rock und darunter nicht minder schwarze Beine. Strumpfhosen. Von mit Altersflecken besprenkelten Armen lappte die Haut herunter, als wäre kein Fleisch mehr darunter, sondern Gelee. Das Gesicht erkannte er nicht, fragte sich aber dennoch, ob er es schon einmal gesehen hatte, ob er sie kannte. Sie rief ihn, sagte etwas zu ihm, das sich wie ›Korm!‹ anhörte. Er wusste, dass es ›Komm!‹ heißen sollte, aber das brauchte man ihm nicht zu sagen. Er ging die ganze Zeit, er tat kaum etwas anderes. Da blieb es nicht aus, dass er irgendwo hinkam.

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