Zitterhexchen

Sie läuft auf Sand, auf Scherben, plantscht in Kettenrinnen, überquert Schienen und Gräber, schläft bei den unruhigen Toten in einer Leichenkutsche (als es einmal gar zu arg regnet). Die Seelensauger, die aus den Wänden kommen, diese merkwürdigen Orte, Oasen der Dunkelheit und Kälte, fackelndes Geschwür. Unvermittelt tauchen sie in der Landschaft auf, rauben dieser alles von ihrer irdischen Schönheit.

Dorothea, nahe an der Tür: »Sie ist in der Kammer, aber ich werde sie jetzt nicht wecken!«

Da ist sie längst schon über alle Berglein, träumt aber immerzu von ihrer engen, düsteren Behausung. Sie weisen darauf hin, die Kettenspuren, die Radstandspuren, dass hier einmal ein Mensch lag, von Sinnen zwar, außer sich, verplant in einem ›Van de Graaf Generator‹, die Blumen aufgeschmolzen, bunte Tümpel preisend (nur von einer sengenden Sonne umgeben knüpft ein Punkt an den nächsten, stiert aus roten Augen hervor).

Das Neon bleibt Neon, selbst wenn es sein Licht emittiert hat. Sie überquert die Jagdgründe der Insekten, in ihren nassen Kleidern sieht sie sich schließlich ähnlicher als jemals in ihrem finsteren Leben, aus zahlreichen Rinnen fließt baldige Flut, im Zorn spricht sie Namen, die sie nicht kennt : Scharlachmunt, Susemilck, Rupsac Manderscheid, Füllengast, Karin Halbfotz, Crumbhals, Eppele Guguck, Gretel Ars; das Gespei wilder Worte verfängt sich – zart schmelzende Schokolade – zwischen ihren hübschen Zahnlücken. Flucht ist eine Tugend, und die Nacht fragt nicht, wohin sie flieht. Nur Wolken folgen ihr hinaus in ein törichtes Bild. An die Kammer erinnert sie sich schallend, hinter den Laternen steht ihr Geist Spalier, beobachtet sie aus Facettenaugen, geblendet von ihrer eigenen Furcht. Niemand hält sie auf, die Spalten nicht, die zwischen zwei Fluren abrupt alle Masken fallenlassen, zum Teil gehören sie ihr, die jetzt erschöpft aus dem Fensterrahmen äugt, ein blinder Passagier. Aber wen hätte sie fragen sollen?

Auf dem Weg zu katatonischer Starre von Vorkommnissen begleitet, die ihr die Schau stahlen, trat sie in den vor ihr liegenden Traum, unbekannt, von welchen Wegen, Sehnsüchten, Pflastersteinen (vornehmlich Grus) erschaffen, ungenau in seiner euklidischen Darstellung, freskenbetont und einsam. Sie, die sich stets in ihrer Mitte wusste, fand hinaus, fand die Stimme wieder, die sie dazu ermuntert hatte, durch die Wand zu entschwinden. Hören wir hinein, ablauschend die Erinnerung, aber kein Wort, weil Worte versagen, kein Schild, weil Schilde versagen, und der Hof, der schöne verfallene Hof lag hinter ihr. Schlief sie in Wellen, erwachte als ein Ding, oft in Taschen oder anderorts verlegt, ein Gegenstand von Kälte, blassem Fieber. Eine Welt oder eine andere. Die Motoren drücken strenge Muster aus. Sie hört davon in den Ecken einer gewissen Grabesstille, flüsternde Tote, spinngewobene Kleidung, Humus aus Dosen, Grabstätten der einen Fantasie. Alle Male auf ihrer Haut verheißen ihre Rückkehr, eine Begegnung mit dem Wanderer wird unvermeidlich sein; sie lügt ihn an, was ihre Tätigkeit betrifft, denn sie ist nicht die, für die er sie hält. Eine hübsche Trophäe wäre sein Kopf, seine ausgebeinte Schulter, sein trockengelegter Tränenkanal, statt dessen gießt sie ihm ein, bereits mit Händen, die keine Zeichen mehr geben können, die Nähte ungewachst und spröde geworden. Alle Rätsel fließen in ihrer Brust, alle Fragen in seiner.

Ihre Haut leuchtet perlweiß, rötlich, schwarz wie Opal und schillerndes Orange, sie scheint über den Scheitelpunkt des höchsten Sterns hinaus zu schweben, trunken von Eingebungen. Noch ist sie nicht angekommen, hängt fest zwischen Wünschen der Nacht und des Tages, ein erstarrendes Zitterhexchen, aus stiller Kindheit unschuldiger Hut gejagt, so dass ihr der Mythos selbst nicht mehr die Wahrheit vorenthalten konnte. Jetzt wohin? Am Hange schleicht sie, krank und matt, das Warnungsflüstern, krankhaftes Funkeln im verwirrten Haar, als käme nun alles auf sie zurück, was sie je gelebt: viele verbrannte Lebensläufe.

Die Augen stumpfen ab, gelegentlich erreicht der Blick die Wimpern. Woher du wohl gekommen bist, den ganzen weiten Weg allein, und ob du wohl nicht gesehen hast, wie alles hin zur Asche rennt, und ob du dich gewundert hast, wie du überhaupt hierher gekommen sein kannst, wo hast du die Grenze überschritten?

Hinter ihrem Rücken ragt eine Maschine auf ins Unermessliche.

Vielleicht war es ihr erstaunlicher Werdegang, begonnen mit einem in der Welt sein auf Stachelkissen, gewaschen mit Brackwasser, vielleicht waren ihre großen Nüstern schuld, Dinge namentlich zu erschnüffeln, ein Trüffelmädchen mit einer Neigung zum Hässlichen, denn darin standen ihr die Augen offen, erblickten dort Grenzposten in gilben Uniformen auf- und abpatrouillieren, das Niemandsland bewachen. Ihr gelang es von Zeit zu Zeit einen Fuß auf das verbotene Feld zu setzen, um zu erkunden, was geschehen würde, wenn sie sich nicht an Kompromisse hielt. Es geschah nie etwas, ihr Vorhandensein blieb unbemerkt. Wer achtet schon auf eine Nase, die sich über Grasnaben schiebt?

Im Raubvogelgehege

Auf dem aus der Wand gewölbten Spiegel stand die Rechtfertigung gegenüber meines Verdachts, den ich vielleicht erst etwas später hätte äußern sollen.

»Ich habe nie …« Dabei war dieser Gedanke nie ausgesprochen worden, meine hängende Mundpartie hätte sich gar nicht um die vorgesehenen Worte wölben können. Also schwieg ich.

Ich hatte sie im Raubvogelgehege stehen lassen, konnte mich nicht dazu entschließen, auf sie zuzugehen, beobachtete sie dabei, wie sie einen verbrannten Engel küsste. Aber das war es nicht, was mich veranlasste, ihr zuzusehen und mich dabei hinter einem gefiederten Baum zu verstecken. Meine Augen wären ihr dabei vielleicht nicht willkommen, und wenn nicht meine Augen, dann vielleicht ihr Blick.

Es waren ihre bandagierten Arme, die mich neugierig machten (den Engel erkannte ich, um die Wahrheit zu sagen, auch erst viel später), und nicht zuletzt ihr Atemgerät, das ihr aus dem Gesicht ragte wie eine Radarfalle. Da kannte ich sie noch nicht.

Später traf ich sie noch einmal, sie fiel mir durch ihr verräterisches Kleid auf. Ihre Maske hatte sie nicht mehr bei sich und auch ihre Arme waren ohne Wunden, die eine Verhüllung erforderlich gemacht hätten. Nur ihr Kleid und die Brandflecken darauf. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Teller mit in Öl zerlassenen, kleinen Fischen – Sprotten, um es genau zu sagen. Der Ausgang war nicht weit, aber man wurde stets durch ein Schnellrestaurant geschleust, bevor man nach draußen kam. Die Tür öffnete sich erst, wenn man etwas verzehrt hatte (oder wenn man etwas zu Verzehrendes gekauft hatte; ob man es dann liegen ließ oder in den Papierkorb warf – es war pures Kalkül, dass es nur einen Papierkorb gab, so wurde an das moralische Empfinden appelliert – blieb der eigenen Strategie überlassen).

Ich sprach sie natürlich nicht an, aber ich schlenderte hinüber zu ihrem Tisch und grapschte nach jener Brust, die auf meiner Seite lag. Hätte sie die Maske noch getragen, hätte ich es nicht gewagt.

Ihr Teller zerbarst auf dem kargen Boden und die Fische schlitterten über die Fließen, als hätten sie es eilig, wieder zurück ins Meer zu finden. Aber sie fanden nicht, verteilten nur das Öl und blieben liegen, wo sie waren.

Ich kann nicht genau sagen, was dann geschah. Erst jetzt erinnere ich mich an die krümeligen Reste ihrer Wimpern, die sie im Waschbecken hinterließ, an eine gesalzene Seezunge im Kühlschrank. Ich schaue mir ihre Handschrift auf dem Spiegel noch einmal an: »Ich habe nie …»

Was wollte ich sie fragen?

Leichenfest

Der Briefkasten ohne Namensschild, als wäre er blind, nie jemand eingezogen seitdem. Das schlechte Gefühl des Reisenden, verlassenes Territorium verraten zu haben, die schicksalhafte Nacht (die Kreuzung hell bemondet), je in alle Richtungen trabend, paar Meter, dann wieder zurück zum Knoten, zukuckende Baumfamilien, die kein Auge zutun, ferne Landschaft, vages Schemen.

Wie den Abstieg in die Unterwelt erlebte ich das Verlassen des Gartens, terrassenförmig angelegt von Semiramis, dem Täubchen. Ich pflegte ihr damals jede Knabenerektion zu bringen; Daktari lief im Fernsehen, der Sommer schimmerte augusten mit einer ganzen Batterie an Ersatzsonnen. Ich vernahm das Prasseln ihres Duschmanövers. Ihre Mutter reichte mir Stachel- und Preiselbeeren, nass vom Küchenwasser, knackender Körper unter Jungzähnen; der schielende Leu äugte in die Wohnstube, ich aber kaute artig und dachte nur jede zweite Sekunde an das Schlüsselloch.

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Vor einem Regal der Toten

Ich könnte singen von den unheilvollen und drohenden Dingen, den toten und vergessenen. Doch werde ich je wieder reisen durch den vom Wahnsinn gelb gefärbten Nebel des Vergessens, zu den Gestaden fremder Wirklichkeit? Fände ich überhaupt den Weg zurück, der mir damals so zufällig erschien wie einst Rip van Winkle sich über das Auftauchen einer flämischen Gesellschaft verwunderte? Mir selbst wurden keine Jahrzehnte durch einen sonderbaren Schnaps gestohlen, noch nicht einmal Jahre, aber von den merkwürdigen Festen wie in den Tiefen des verhängnisvollen Venusbergs könnte auch ich berichten. Doch wüsste ich nie zu sagen, was sich daran mit mit meinen halluzinatorischen Träumen mischte, denn eines ist mir klar geworden: Es gibt unterschiedliche Arten des nächtlichen Gespinstes und mindestens eines davon eröffnet uns das Jenseits mit seiner unendlichen Weite. Es ist für mich gar nicht ausgeschlossen, dass, sobald wir unserer so stabiles Sternensystem verlassen würden, wir auch außerhalb unserer fleißigen Schlaftätigkeiten dorthin gelangen könnten, allein deshalb, weil wir unsere Körper nicht behalten dürften und stürben; d.h., es stürbe das, was wir in unserer Welt so sehr benötigen, und wenn wir es verlieren, geistern wir umher, unfähig, weiter zu träumen, weil wir in einem derartigen Zustand schlicht all unsere Erinnerungen für einen Traum halten. So nötig haben wir den Schutzschild der Materie, dass wir um seinen Verlust so sehr bangen wie um nichts anderes. Es mag sein, dass wir die Geister deshalb fürchten. Sie zeigen uns, dass wir auch im Tode nicht entkommen können und endlos weiterspielen müssen. Sie zeigen uns durch ihre finsteren Auftritte, wie wichtig die Wiederholung ist und wie sich eben alles so lange wiederholt, bis das Wort Ewigkeit seine Berechtigung erlangt.

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Tim und Struppi (Die klare Linie)

Hergé mit seiner Schöpfung

Im Pantheon der Comic-Helden gibt es nur wenige, die sich einer so anhaltenden Popularität und eines so großen Einflusses rühmen können wie Tim, der im belgischen Original Tintin heißt.

Aber es ist nicht nur seine kulturelle Bedeutung, die Tintin so langlebig macht. Es ist seine universelle Anziehungskraft. Tims Abenteuer führen ihn um die ganze Welt, von den Tiefen des Amazonas-Regenwaldes bis zu den eisigen Weiten der Arktis. Er ist ein Held, der nationale Grenzen überwindet, und seine Geschichten sind heute noch genauso aktuell wie bei ihrer Erstveröffentlichung vor fast einem Jahrhundert.

Vom Pfadfinder zu Tim und Struppi

Der Schöpfer von Tim und Struppi war natürlich Hergé. Sein richtiger Name war Georges Remi: Sein Pseudonym leitet sich von der französischen Aussprache seiner Initialen RG in umgekehrter Reihenfolge ab. Er wurde 1907 in Etterbeek geboren und war gerade 21 Jahre alt, als er Tim und Struppi erfand, der am 10. Januar 1929 in Le Petit Vingtième, der wöchentlichen Jugendbeilage der belgischen Tageszeitung Le Vingtième Siècle, debütierte.

Wie viele andere Autoren schien Hergé in seinem jugendlichen, kühnen und weltreisenden Protagonisten die Erfüllung eines Traums zu sehen. Und obwohl er Tim und Struppi in so jungen Jahren auf den Markt brachte, gab es bereits Vorläufer des furchtlosen Abenteurers.

Im Alter von 18 Jahren schuf Hergé den belgischen Pfadfinderführer Totor, der in Texas in verrückte Abenteuer verwickelt wird. Die Serie erschien drei Jahre lang in der Pfadfinderzeitschrift Le Boy Scout Belge.

Totor ist zwar grob gezeichnet, enthält aber Schlüsselelemente, die später für Tim und Struppi bestimmend sein werden. Da ist die Form von Totor, der klare Umriss und das einfache Gesicht. Es gibt einen Wechsel von Untertiteln unter den Panels zu Sprechblasen. Und dann ist da die Figur: Tim verdankt seine Handlungen und seine Einstellung tatsächlich den Pfadfindern. Hergé selbst trat im Alter von 12 Jahren den Pfadfindern bei und nahm an Sommerlagern in Italien, der Schweiz, Österreich und Spanien teil, wo er sogar Hunderte von Kilometern durch die Pyrenäen und Dolomiten wanderte.

Hergé ließ sich von zahlreichen Quellen inspirieren, darunter Abenteuerromane wie Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson und Huckleberry Finn von Mark Twain. Sein Vorstoß in die Welt der Comics wurde jedoch durch das aufkommende Medium Film beflügelt. Von den Zeichentrickfilmen, die Walt Disney zu Beginn der 1920er Jahre erfand, bis hin zum komödiantischen Genie von Pionieren wie Charlie Chaplin und Buster Keaton hinterließ Hollywood einen unauslöschlichen Eindruck auf den jungen belgischen Künstler.

Ligne claire

Hergé arbeitete zunächst als Angestellter, dann als Illustrator bei Le Vingtième Siècle. Diese Zeitung war nicht nur konservativ und katholisch, sondern oft auch faschistisch und antisemitisch. Ihr Herausgeber, der Abbé Norbert Wallez, bewahrte auf seinem Schreibtisch ein signiertes Foto von Benito Mussolini auf, dem Führer der italienischen Faschisten. Als Hergé Tintin auf den Markt bringen wollte, wollte er ihn für sein erstes Abenteuer nach Amerika schicken, wo er in die Fußstapfen von Totor treten sollte, aber Wallez bestand darauf, dass er in die Sowjetunion reisen sollte, wo er die Kommunisten als grausame Gangster entlarven sollte.

Totor

Der Comic, aus dem später das Album Tim und Struppi im Land der Sowjets wurde, war ein sofortiger Erfolg. Die Leser waren begeistert von den Abenteuern, die Hergé mit viel Humor und Charakteren ausstattete – nicht zuletzt mit Tims klugem und treuem Foxterrier.

Sie wurden in einem Stil illustriert, den Hergé als Pionier der „ligne claire“ bezeichnete: einfache, fast gleichmäßig dicke Linien ohne Schattierungen. Seine Technik, ein klares Bild mit robusten, universellen Elementen zu schaffen, verlieh seinen Werken einen unverwechselbaren visuellen Stil und beeinflusste spätere Zeichner wie den Asterix-Zeichner Uderzo und Peyo von den Schlümpfen.

Hergé war auch ein Meister des Tempos und der Erzählstruktur. Er verstand es, die Möglichkeiten des Mediums Comic voll auszuschöpfen, indem er Geschichten schuf, die nahtlos von Panel zu Panel und von Seite zu Seite übergingen. Seine Fähigkeit, komplexe Handlungen und vielschichtige Charaktere zu entwickeln, setzt bis heute Maßstäbe für das Medium.

Haddock, Tim, Struppi

Schon bald wurde Tintin an andere Brennpunkte der Zeit geschickt, von Al Capones Chicago bis zum japanisch besetzten China. Die frühen Alben – Tim und Struppi im Kongo, Tim und Struppi in Amerika und Die Zigarren des Pharao – zeigen Hergés Talent, lebendige, fantasievolle Welten zu erschaffen.

Tim und seine Freunde reisen weit und treffen unterwegs auf verschiedene Kulturen, Sprachen und Sitten. Hergé war bekannt für seine akribischen Recherchen. Wie Jules Verne verließ Hergé nur selten seinen Schreibtisch, aber er machte aus seinem Protagonisten einen Weltenbummler, der Kulturen kennenlernte, die sein Schöpfer nur aus Büchern und Zeitschriften kannte.

Unzählige Stunden verbrachte er mit dem Studium von Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften, um seine Geschichten so realistisch wie möglich zu gestalten. Seine Liebe zum Detail erstreckte sich auf jeden Aspekt seiner Arbeit, von der Kleidung seiner Figuren bis hin zur Architektur der Gebäude, die sie besuchen. So ist zum Beispiel die Rakete, mit der Tim zum Mond fliegt, minutiös gezeichnet. Die vielen Fahrzeuge, die Tintin benutzt – Autos, Flugzeuge, Schiffe, Züge und Panzer – sind exakte Abbilder der damaligen Zeit. Und selbst Szenen wie die Inkas in Gefangene der Sonne stammen aus zuverlässigen Quellen wie der Zeitschrift National Geographic.

Tim verkörpert das Ideal eines jungen Helden: mutig, einfallsreich, mit tadellosen Manieren und immer bereit, für das Richtige einzustehen. Ob er gegen Bösewichte kämpft, Schmuggler überlistet oder einfach nur exotische Länder erkundet, er ist eine Figur, zu der die Leser aufschauen und die sie bewundern können.

Ewig und heilig

Schulz und Schultze

Die Comic-Strips und Alben von Tim und Struppi erschienen über ein halbes Jahrhundert lang, aber Hergé behauptete, dass sein Held immer gerade 18 Jahre alt war. Eigentlich war er Reporter, aber es scheint, als hätte er nie Termine oder Redakteure gehabt. Im ganzen Werk gibt es nur eine einzige Szene, in der er einen Bericht abgibt. Trotzdem wird Tim wegen seiner scheinbar unbegrenzten Reisemöglichkeiten manchmal als Schutzpatron der Journalisten angesehen.

Im Laufe der Alben sammelte Tim Freunde an. Zu seinem Gefolge gehörten der griesgrämige Seemann Kapitän Haddock, der exzentrische Professor Balduin Bienlein , die tollpatschigen Detektiv-Doppelgänger Schulz und Schultze mit ihren Bowlerhüten und die eingebildete Operndiva Bianca Castafiore. Seine Abenteuer wurden immer komplexer, vom Drogenschmuggel über Spionage im Kalten Krieg bis hin zur Raumfahrt. Tim erreichte den Mond 15 Jahre vor Neil Armstrong.

Die Kritiker

Trotz ihrer Popularität sind die Geschichten von Tim und Struppi nicht unumstritten. Einige Kritiker warfen Hergé Rassismus und kulturelle Unsensibilität vor und verwiesen auf Elemente der frühen Geschichten wie die karikierende Darstellung afrikanischer Stammesangehöriger in Tim im Kongo (obwohl dieses Album in Afrika besonders populär ist).

Später wurde Hergé als Kriegskollaborateur verhaftet, weil er weiterhin Karikaturen für die Zeitung Le Soir zeichnete, die während des Zweiten Weltkriegs von den Nazi-Besatzern kontrolliert wurde. Er verbrachte eine Nacht im Gefängnis, aber seine Akte wurde schließlich ohne Anklage geschlossen. Dennoch verfolgten ihn Gerüchte und Anschuldigungen sein Leben lang.

Nachwirkung

Hergé starb 1983, kurz nachdem er mit einem neuen Buch begonnen hatte – Tim und die Alpha-Kunst -, in dem es um eine Verschwörung zwischen moderner Kunst und einem religiösen Kult geht. Es ist unklar, wohin die Handlung geführt hätte, da Hergé nur einige wenige Seiten skizzieren konnte – und er sagte ausdrücklich, dass die Tim und Struppi-Serie mit seinem Tod enden würde.

Heute wehrt sich die Hergé-Stiftung dagegen, Tintin als Comic zu bezeichnen, da es sich ihrer Meinung nach um etwas Kunstvolleres und Originelleres handelt.

Doch auch hundert Jahre später ist die Popularität dieser Comics ungebrochen. Von den 23 abgeschlossenen Bänden, die zwischen 1929 und 1976 erschienen, sollen weltweit mehr als 250 Millionen Exemplare verkauft worden sein (die Hergé-Stiftung weigert sich, genaue Zahlen zu nennen). Auch die Tintin-Industrie ruht sich nicht auf ihren Lorbeeren aus, sondern bereitet sich darauf vor, ihr Angebot für die nächste Generation zu aktualisieren.

Das Jahr der Spukhäuser

Jedes Haus wird heimgesucht. Die Frage ist, wovon?

Sobald man ein Haus betritt, weiß man es. Manche fühlen sich gut an, andere nicht. Und wie ein guter Wein sind ältere Häuser komplexer.

Im Sommer 20xx wurde ich nach Irland geschickt, um als Mitglied der Stonecoast MFA an einem Creative Writing-Programm teilzunehmen. Ich war dankbar für die Chance, herumzureisen und ungeduldig, diese Erfahrung zu machen, muss allerdings gestehen, dass Irland vor meiner Ankunft nicht auf meiner Liste stand. War Wales nicht malerischer? Und von London aus nicht besser zu erreichen?

Doch innerhalb von nur einer Stunde war ich von Dublin besessen. Ich wurde von einem überwältigenden Gefühl verschlungen, ja, von etwas, das dort in der Luft lag. Das Land verband sich mit mir. Ich sollte hier sein. Also überkam mich ein tiefes Bedauern, als ich Dublin am nächste Tag verlassen musste, um nach Galway zu reisen.

Aber das Gefühl kehrte zurück, genauso stark. Galway: das Kopfsteinpflaster, das Meer, die Gardinen, und der klimatisierte Bus. Ja.

Und dann ab nach Dingle, mein Zuhause für eine Woche, leben und arbeiten in einem Gästehaus, an der Seeseite gelegen, mit meinen zehn Studenten und dem Personal. Und das Gefühl wuchs. Da war so ein Ziehen, eine Sehnsucht, und so begann ich damit, mir die Möglichkeit zu durchdenken, wie ich hier leben könnte, wenn meine Tochter erst das College beendet hatte und ich dadurch dann San Diego verlassen könnte. Ich war verblüfft, wie sehr ich Irland liebte. In gewisser Weise hatte ich Irland in mich eingelassen. Und das veränderte mich als Schriftstellerin zutiefst. Es brachte mich soweit, zu akzeptieren, dass meine Zeit begrenzt war, und dass ich das Buch schreiben sollte, das mir wichtig war – das Buch meines Herzens.

So schnell wie mir der Gedanke kam, wusste ich auch gleich, dass das Buch meines Herzens ein Roman über ein Spukhaus sein würde.

Ich wusste allerdings nicht, warum.

Meine Studenten vermuteten, dass meine Entscheidung von den weit verbreiteten irischen Gespenstererzählungen und Legenden beeinflusst war. Das erste Buch, das ich mir in Irland gekauft hatte, war The Asylum, ein neogotischer Roman des Australischen Schriftstellers John Harwood. Ich hielt einen Vortrag über das Unheimliche in der Irischen Literatur, und ich sprach über Kobolde, Selchies und Pookas in Verbindung mit Wechselbälgern und Geistern.

Trotzdem wurde 20xx „mein Jahr der Spukhäuser.“ Ich würde ein Tagebuch über all die Spukhausgeschichten, die ich gelesen hatte, führen, und damit beginnen, meine eigenen Ideen zu skizzieren. Ich erstand ein wunderschönes verschließbares Notizbuch im örtlichen Buchladen in der Green Street und machte mich an die Arbeit. Und natürlich betrieb ich Recherchen.

Hier ist einiges von dem, was ich über Spukhäuser in Erfahrung bringen konnte:

Der früheste Bericht über ein Spukhaus ist uns aus einem Brief überliefert, geschrieben von Plinius dem Jüngeren (61-ca. 112).  Darin beschreibt er eine Villa in Athen, die von einem männlichen Geist in Ketten drangsaliert wird; die Knochen des Phantoms wurden ausgegraben und in einem ordentlichen Grab beigelegt, von da an ließ sich der Geist nicht mehr blicken. Es gibt auch weitere Geschichten über Spukhäuser in den Erzählungen aus Tausend und einer Nacht.

Die vorromantischen Dichter der „Gräberpoesie“ legten den Grundstein für die gotische und romantische Periode, die uns von Dickens‘ Große Erwartungen bis zu Shirley Jacksons Spuk in Hill House, Stephen Kings Shining, Susan Hills Die Frau in Schwarz, und zu Der Besucher von Sarah Waters führt. Es gibt Hunderte von Romanen über Spukhäuser. Und Kurzgeschichten. Und Filme.

Manche von uns werben um Geister. Wir wollen leben, wo sie sich aufhalten. Die forensische Psychologin und Geisterjägerin Katherine Ramsland schlief in jenen Räumen, wo Lizzy Borden ihre Morde beging, und auch im Fall River House in Massachusetts; die Mitglieder des Haunted Mansion Retreat in Nordkalifornien haben ihre Erfahrungen in einer Reihe von Büchern niedergeschrieben; und Horrorautor und Herausgeber R. J. Cavender bietet Rückzugsmöglichkeiten für Schreibende im Stanley Hotel in Colorado an, wo Stephen King seine ersten Entwürfe zu The Shining verfasste.

Michele Hanks untersuchte das Phänomen des „Geistertourismus“ in Großbritannien in ihrem Buch Haunted Heritage: The Cultural Politics of Ghost Tourism, Populism, and the Past. Es gibt sogenannte Ghostcams, die von allen erdenklichen Spukorten der Welt streamen.

„Schreckensspezialistin“ Dr. Margee Kerr, die als Soziologin zum Personal des Scare House in Pittsburgh gehört, sagt, dass manche Leute Spukorte mögen, weil sie das Ausschütten des Dopamins genießen, das eine Angstreaktion begleitet. Es ist eine wohlkalkulierte Angst: es gibt zwischen 3.500 und 5.000 kommerziell genutzte Spukhäuser, die an Halloween besucht werden, und ebenso unzählige „Höllenhäuser“, die auf dem christlichen Glauben der Verdammnis beruhen, um ihre Gemeindemitglieder vor einer Verirrung zu warnen.

Mir kommt es etwas komisch vor, dass das Buch meines Herzens ein Roman über ein Spukhaus ist, merkwürdiger sogar als mein Gefühl „in Irland sein zu müssen“. Obwohl ich eine Horror-Autorin bin, meide ich die meisten Horrorfilme. Sie sind einfach zu schrecklich. Ich muss sie mir sorgfältig auswählen, oder ich kann sie nicht bis zum Ende sehen (ich bin mehrmals an Paranormal Activity gescheitert, und vor zwei Nächten habe ich Babadook aufgegeben).

Befinde ich mich allein zu Hause, bebe ich förmlich bei dem Gedanken an Szenen aus Die Frau in Schwarz oder Spuk in Hill House. Ich würde lieber durch Glas springen als mich freiwillig einem Spukhotel, Hospital, oder einer Spukfahrt anzuschließen. Ich möchte die Angstreaktion nicht herausfordern.

Aber ich möchte meine Ängste überwinden. Als ich sehr jung war, war ich erfüllt von einer krankhaften Angst vor der Dunkelheit. Ich litt unter schrecklichen Schlafstörungen (natürlich hatte ich nachts das Licht an). Eines nachts, als ich gerade die Treppen meines Hauses hinab ging, bemerkte ich etwas, das hinter mir her kroch, ich wirbelte herum und schrie: „Ich bin dessen Königin!“ In diesem Augenblick wurde eine Horror-Autorin geboren – jemand, der die Monster niederstarrt, wenn er sie schon nicht vertreiben kann. Ist es das, wonach ich in meinem Spukhaus-Roman suche?

Ich glaube, es steckt etwas mehr dahinter. Etwas wie meine unerklärliche Liebe zu Irland.

Aber das Buch wurde geschrieben, und ich schreibe bereits an einem anderen.

Diese zweifache Besessenheit bleibt.