Fragment einer Nacht

Durch die Gassen des Todes, durch den Abfall der Zivilisation torkelt er auf der Suche nach seiner Herkunft, einem Ziel, an das er sich klammern kann. Der Druck in seinem Kopf wird ihn töten, aber er weiß nicht einmal, dass sein Gehirn anschwillt. Er muss diese Straße entlang gehen, auch wenn er in regelmäßigen Abständen stürzt und es immer länger dauert, bis er sich wieder aufgerappelt hat. Sein Leben liegt nicht mehr in seiner Hand – in unser aller Hand liegt nie das Leben, sondern nur der Torf abgestorbener Pflanzenteile, die wir einst zur vollen Blüte bringen wollten. Vergeblich. Ein vergebliches Leben holt ihn ein, als er beschließt, sich nicht mehr zu erheben, bis er gefunden wird, um „renounce!“ zu brüllen, weil man ihn bald schon als den berüchtigten Trinker Poe identifizieren wird, den sämtliche Geister verlassen haben, weil sie nicht mehr erwarten können, in seinen makabren Geschichten aufzutauchen. Aber ein Mann, der nur allein von den Schatten gestützt wird, kann nicht auf sie verzichten, ohne zu Grunde zu gehen. Ein Pakt nicht mit Musen, sondern mit den Dämonen seiner eingeflochtenen Ängste vor Verlust und unerträglicher Einsamkeit.

Wie alle Lebenselixiere, ist gerade das Feuerwasser das gefährlichste. Es stärkt den Geist durch flüssig gewordenes Blut, das Leben rast durch die Adern und bringt alle Eindrücke, die der Körper kaum mehr zu archivieren weiß, in magische Aufruhr. Sie werden überdacht und neu zusammengesetzt. Edgar war jedoch kein Trinker, er vertrug überhaupt keine massiven Stimulanzien, was ihn jedoch oft trunken auf seine Umwelt erscheinen ließ, die sich kaum mit seinen Qualen auskannten und sich nicht selten verängstigt von seinen Geschichten zeigten, die eine furchtbare Psychologie offenbarten.

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Die Stille des Todes / Eva García Sáenz de Urturi

Eva García Sáenz de Urturi entführt uns mit „Die Stille des Todes“ in die mystische Atmosphäre der baskischen Stadt Vitoria und in einen komplexen, vielschichtigen Kriminalfall, der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwebt.

Ein Serienmörder kehrt zurück

Vor zwanzig Jahren erschütterte eine grausame Mordserie die sonst so beschauliche Stadt Vitoria. Der brillante Archäologe Tasio Ortiz de Zárate wurde als Hauptverdächtiger verurteilt und sitzt seitdem hinter Gittern. Doch kurz vor seinem ersten Hafturlaub geschieht das Unfassbare: Die Morde gehen weiter. In der alten Kathedrale von Vitoria wird ein junges Paar tot aufgefunden, nackt und mit mysteriösen Bienenstichen in Mund und Rachen. Kurz darauf geschieht ein weiterer Doppelmord in einem mittelalterlichen Gebäude der Stadt.

Der Ermittler: Ein Getriebener auf der Jagd

Inspektor Unai López de Ayala, besser bekannt als „Krake“, ist Experte für Täterprofile und besessen von seiner Arbeit. Für ihn ist dieser Fall nicht nur eine berufliche Herausforderung, sondern auch eine persönliche Obsession, denn eine Tragödie aus seiner Vergangenheit lässt ihn nicht los. Gemeinsam mit seiner Kollegin Estíbaliz Ruiz de Gauna macht er sich auf die Suche nach der Wahrheit. Doch ihre unorthodoxen Methoden stoßen bei ihrer Vorgesetzten Alba Díaz de Salvatierra, die gerade nach Vitoria versetzt wurde, auf Skepsis. Während die Zeit gegen sie arbeitet, wächst die Bedrohung: Wer wird das nächste Opfer sein?

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Betibú / Claudia Piñeiro

Ein Mann mit durchtrennter Kehle wird in seinem Haus in einem geschlossenen Viertel (Barrio Cerrado) in Buenos Aires von seiner Haushälterin aufgefunden. Hat er Selbstmord begangen? Wurde er getötet? Und wenn ja, warum? Hat sein Tod etwas mit dem Mord an seiner Frau drei Jahre zuvor zu tun? Das sind die Rätsel, denen Claudia Piñeiro in ihrem Roman Betibú auf den Grund geht. Eine Geschichte, in der sich Realität und Fiktion, Journalismus und Literatur überschneiden.

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Aura / Carlos Fuentes

Carlos Fuentes‘ 1962 erschienene Novelle Aura gilt als eines der repräsentativsten Werke des mexikanischen Schriftstellers und ist ein Grundpfeiler der lateinamerikanischen Erzählkunst des 20. Jahrhunderts. Dieses Meisterwerk literarischer Experimentierfreude und psychologischer Raffinesse bestätigte nicht nur Fuentes‘ Platz als eine der wichtigsten Stimmen seiner Generation, sondern trug auch zur Konsolidierung des sogenannten lateinamerikanischen Booms bei. Diese literarische Bewegung, die die Region zwischen den 1950er und 1970er Jahren prägte, machte Autoren wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa und eben Fuentes weltweit bekannt. Mit Werken wie Aura und Der Tod von Artemio Cruz avancierte Fuentes zu einem zentralen Vertreter dieser Epoche.

Aura von Alejandra Acosta
Aura von Alejandra Acosta
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Cäsar und das mysteriöse Licht

Nur wenige Biografien haben die Geschichtsschreibung so sehr in ihren Bann gezogen wie das Leben des großen Julius Cäsar. Eine der wichtigsten Schlachten in der Karriere des Generals und späteren Diktators war die Schlacht von Pharsalus, in der er einen überwältigenden Sieg über seinen Erzrivalen Pompejus im römischen Bürgerkrieg errang. Viele Historiker übersehen jedoch einen recht merkwürdigen Vorfall, der sich am Morgen der Schlacht ereignete und von dem der Historiker Plutarch berichtet:

„Dann, während der frühen Morgenwache … loderte ein großes Licht über [Caesars] Lager auf, und eine brennende Fackel erhob sich aus diesem Licht und fiel auf Pompejus‘ Lager… „

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Ich bin die Nacht: 12 Hohenner will die Augen

Richard beachtete den vor Nervosität tänzelnden Roland nicht, als er einen einzigen Satz zwischen seinen strichartigen Lippen zerquetschte. »Das warʼs«, sagte er, als wäre eine langfristige Arbeit nun endlich erledigt. Dann stapfte er in seinen gumpelnden Gummistiefel, in die er die Röhren seiner braunen Latzhose gesteckt hatte, auf den Wendenschuch-Baum zu, drehte sich zu den anderen um, die sich nicht rührten und nur beobachteten, wie der Fliegenschwarm um seinen Kopf herum brauste und sich Richard Finner dadurch in den Beelzebock verwandelte. Ein von Schwärmen umgarnter Georges Gurdjieff (die Ähnlichkeit nämlich war nicht zu leugnen). Er befahl Erich, den Doktor zu holen, und das ein bisschen plötzlich, wandte sich dann seinem toten Sohn zu und achtete darauf, nicht auf das Gekröse zu treten. Dann zückte er ein Messer, das er in einer Lederscheide an seinem Gürtel hängen hatte und schnitt das Seil durch. »Und bring auch eine Schubkarre mit!«

Statt vornüber zu kippen, rutsche Helmuts sterbliche Hülle ein Stück am Stamm hinunter und fiel dann zur Seite. Mittlerweile sah die Leiche aus wie eine Strohpuppe, wie sie immer im Mai vor dem Haus verbrannt wurde. Erich rauschte wütend davon, aber er widersprach nicht. Obwohl es nicht seine Angelegenheit war, stand ihm nicht der Sinn danach, eine Diskussion zu entfachen. Nicht in dieser beschissenen Situation, denn es gab da ein Geheimnis zwischen ihm und diesem Teufel, der den Honigpott besaß, aus dem er sich selbst schon bedient hatte. Er wollte nicht riskieren, dass er mit unterging, falls das alles einmal herauskommen sollte. Aber noch weniger wollte er riskieren, nicht mehr davon naschen zu dürfen.

Trotzdem fand er eine Möglichkeit, seine Wut auf sich selbst zu mindern. Er entdeckte Roland, der immer noch hinter diesem Baum vor dem Trampelpfad stand und begierig jedes Detail in sich aufnahm, ging schnaubend auf ihn zu und schlug noch im Gehen mit der Faust ins Gesicht. Die ganzen zwölf Lebensjahre wichen aus Rolands Augen, als seine Nase in einem Feuerball explodierte und er zu Boden ging. »Du kommst mit!«, knirschte er, hielt aber nicht eine Sekunde inne, sondern marschierte den gewundenen Weg hinunter zur kasernenartigen Anlage, in der sie alle lebten. Roland rappelte sich auf und torkelte schniefend hinter seinem Vater her. Durch die Nase atmen war von jetzt an erst einmal vorbei. Gar nicht auszudenken, wenn das mit der Münze …

Etwa zwei Stunden später tauchte Dr. Sebastian Hohenner mit einer Ledertasche auf. Der Hemdkragen schnürte in seinen wuchernden Hals hinein. Er blickte verdrießlich, als er ganz allgemein fragte, was hier eigentlich los sei. Manfred war unten am Feldweg geblieben, um zu verhindern, dass es noch mehr Zeugen gab. »Das waren die Wölfe«, erläuterte ihm Finner das Gemetzel. Hohenner blickte sich erst einmal um, wobei sein Blick an keinem bestimmten Ort verharrte. »Aha!«, sagte er. »Wurden sie gesehen, diese Wölfe?« Darauf antwortete niemand. »Was glauben Sie also, was ich hier mache? Haben Sie die Polizei verständigt?«

Als wieder niemand antwortete, fuhr er fort: »Das habe ich mir gedacht.«

»Wir wollten erst sehen, was Sie dazu sagen.« Richard kratzte sich am Kinn und blickte dann zur Fliegeninvasion hinüber.

Die aus dem Gesicht ragenden Augenbrauen Hohenners sprengten nach oben. »Was haben Sie hier eigentlich veranstaltet? Am Telefon sagte man mir, es hätte einen Unfall gegeben, aber das da drüben sieht mir nicht nach einem Unfall aus. Soll ich es mir wirklich ansehen, was meinen Sie?«

»Vielleicht können Sie ja den Totenschein ausstellen.« Richard begleitete den Arzt, dem sein wütender Blick angeboren schien, zur Esche, an der das Blut jetzt braun und festgebacken war. Der Gestank stand wie unter einer Käseglocke, aber niemand reagierte darauf. Einige Meter vor Helmuts Überresten entfernt blieben die beiden Männer stehen. »Was zum Henker?«

Richard zuckte zusammen. »Das müssen die Wölfe gewesen sein!«, sagte er und wirkte dabei nicht wenig debil.

»Das … scheint mir etwas abwegig, und ich glaube, Sie wissen das auch!«

Im Hintergrund nutzte Roland die Gelegenheit, den Boden abzusuchen. Niemand achtete auf ihn.

»Sehen Sie die Rostblättchen?« Der Arzt ging in die Hocke, zog einen Gummihandschuh aus der Tasche seines Wollsakkos und fuhr mit den Fingern an den Rändern der Bauchwunde herum. Richard sah ihn düster an.

»Wie kommen Sie denn auf Wölfe?«

»Wer sollte so eine Verrücktheit sonst veranstaltet haben?«

»Erstens gibt’s hier keine Wölfe mehr, und schon gar nicht im Sommer, zweitens hantieren Wölfe nicht mit einer Säge herum, und drittens holen sich Wölfe nur etwas, wenn sie Hunger haben. Wer immer das hier getan hat, dem ging es nicht um Nahrungsaufnahme.«

Im Traum ist alles Gegenwart. Jedes Erwachen zieht fürchterliche Konsequenzen nach sich. Die Elemente des Traumes pressen sich zu einem verschwindenden Punkt zusammen, drücken von innen gegen die Augäpfel, bevor sie, von Blutkörperchen aufgegriffen, in den Verdauungstrakt befördert werden, als wolle sich der Körper augenblicklich von aller Illusion befreien, so gering sie auch immer scheinen mag. Es sind nur Bruchteile von Sekunden, die darüber entscheiden, wo und wie man aufwachen wird, langgestreckt oder kauernd. Jede Nacht verändert die Struktur des Denkens.

»Gut, von mir aus, aber die Bisse … «

»Stammen von menschlichen Zähnen. Und die Zunge …« Hohenner fingerte in der Mundhöhle herum, gefüllt mit gestocktem Blut, als wäre Helmut an Schokoladenpudding erstickt. »Die hat jemand abgeschnitten und vermutlich mitgenommen, oder haben Sie irgendwo eine Zunge gefunden?« Hohenner erhob sich, wedelte ein paar Fliegen aus seinem Gesicht, und sagte laut, dass es auch Ludwig mitbekommen konnte: »Meine Herren, das hier ist ein Tatort. Ich kann hier keinen Totenschein ausstellen. Der junge Mann wurde ermordet. Will mir jemand erklären, was diese Seile zu bedeuten haben?«

Es stank nach Senf, Mosterd, Moutarde, Mustard, den man in Dijon nicht mit Essig sondern mit unreifen Trauben bespritzt, den pubertären Reben, die aufgrund ihres Quotienten die Aufnahmekriterien zum Wein nicht erfüllen können.

Richard tat sich schwer damit, von einem alten Ritual zu sprechen, von dem er selbst nicht genug wusste, das sich aber im Laufe der Zeit als praktisch erwiesen hatte, auch wenn man es kaum mehr nutzte. Die Zeiten der Moderne rückten immer näher und würden bald eine tote Erde hinterlassen haben, die niemand mehr düngt. »Das hier ist unser Sühnebaum, Hohenner! Hier regeln wir unsere häuslichen Angelegenheiten.«

Der Arzt starrte Richard verblüfft an. »Aber das sind keine häuslichen Angelegenheiten mehr!Damit haben Sie jetzt ein Problem, bei dem ich Sie nicht unterstützen kann. Ich kenne derartige Geschichten natürlich. Wir sind hier sehr weit vom Schuss, wie wir alle wissen. In Hebanz hat vor Kurzem eine Mutter ihren Sohn mit der Zunge an der Tischplatte festgenagelt, weil der sich nachts aus dem Haus schlich, um Zigaretten zu rauchen, die er ihr gestohlen hatte. Ich habe ihn verarztet. Schwamm drüber. Aber das hier ist etwas völlig anderes. Das ist Ihnen doch klar?«

»Wenn Sie es nicht ausplaudern …« Der Satz war kaum zu hören, so leise kam er aus Richards Mund. Manch gefährlicher Ton bahnt sich sanft seinen Weg.

»Was?«

Richard fuchtelte in einer hilflosen Geste mit den Händen in der Luft herum, als wolle er ein Bild dort malen. »Sie sind hier, weil wir dachten, Sie würden sich um die Angelegenheit kümmern, und zwar ohne dass wir hier bei Stahlnetz landen. Einen Totenschein wollen wir von Ihnen, in dem steht, dass mein Sohn von Wölfen angefallen wurde.«

Hohenner sah ihn an, als hätte er völlig den Verstand verloren. Dann sagte er gefasst: »Selbst wenn es so wäre, wie Sie es wollen, müssten wir die Polizei verständigen. Bei jedem Todesfall übrigens, der einige Zweifel aufwirft. Herrgott, wissen Sie das denn nicht?« Dann warf er seine grimmigen Blicke auf Ludwig. »Und Sie? Sie wissen das auch nicht?«

»Wir werden die Sache regeln. Aber wir müssen es auf unsere Weise tun«, sagte Ludwig.

»Und was war mit dem Sturm 1971!« Richard verschluckte sich fast an diesem nahezu brutal herausgespuckten Satz. »Ramelow und dieser andere Kerl?«

Der Arzt sah überrascht von einem zum anderen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die beiden Fälle etwas miteinander zu tun haben.«

»Laut Frankenpost haben Sie damals gesagt, es handle sich um die Bissspuren eines Wolfes.«

Hohenner seufzte, Luft ging durch seinen Körper. »Ich habe damals gesagt, es handle sich um ein Tier mit einer enormen Bisskraft, und das …« Er deutete hinter sich, »war verdammt noch mal kein Wolf.«

»Sie wissen, wie viele Menschen in den letzten Jahren einfach verschwunden sind.« Richard wechselte offensichtlich das Thema. »Ich meine, interessiert das überhaupt jemanden? Das hier ist schlimm. Sehr schlimm. Aber wir regeln das eben auf unsere Weise.«

Hohenner sah ein paar Minuten nachdenklich drein, hielt sein Kinn mit der rechten Hand fest und stakte, scheinbar tief in sich versunken, auf der Lichtung herum. Richard und Ludwig sahen sich an. Es war kaum zu merken, dass sich die beiden Männer spinnefeind waren. Der Arzt blieb abrupt stehen, richtete sich auf, klatschte in die Hände und sagte: »Also gut. Ich will die Augen!«

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Ich bin die Nacht: 11 Wendenschuchs Mühle

»Meine Fresse, was sollen wir jetzt nur machen! Wir müssen doch irgendwas unternehmen!« Erich Wendler sprang um den zu Stein erstarrten Richard Finner herum. Ludwig Pikid und Manfred Bergmann standen gemeinsam etwas abseits, denn man wusste nie, wie dieser unberechenbare Kerl reagieren würde. (Seit dem letzten Maifeuer, in das er laut brüllend seinen halben Hausrat geworfen hatte, weil keine Eier im Kartoffelsalat seiner Frau zu finden waren, blieb man lieber auf Armlänge von ihm weg. Das war das Mindeste!) Roland hatte sich nicht mehr auf die Lichtung gewagt, stand umständlich hinter einem Baum, obwohl er Bäumen im Moment nicht sehr nahe kommen mochte. Er wollte natürlich trotzdem sehen, was jetzt geschehen würde, aber eigentlich war er da, um sicher zu gehen, dass die Münze nicht irgendwo dort herumlag, wo Helmuts Überreste alles durcheinanderbrachten.

Das Odeln, wie man das Übergießen mit Jauche nannte, war bis zu diesem Tag, zu dieser Nacht, immer gut verlaufen. Es war eine dem Regelwerk entsprechende Strafe, natürlich eine Demütigung für jene, die sich gegen die Gemeinschaft versündigt hatten. War aber die Nacht an diesem Baum (und es war immer dieser Baum, es war nie ein anderer) überstanden, galt man als geläutert. Das Vergehen fand nie wieder Erwähnung, es war nicht mehr existent. Ungeschehen gemacht. Vorher jedoch wurde man an die Esche gebunden, bekam einen Kübel Gülle über den Kopf geleert und hing vierundzwanzig Stunden allein im Wald. Am Schlimmsten war die Kälte, nur am Anfang beeindruckten auch der fürchterliche Gestank und der Gedanke, dass man nicht nur in seiner eigenen Scheiße badete, sondern in der von allen. Essensreste, Blut – da war einfach alles vertreten. Es ging um die Gemeinschaft, also ging es auch um deren Produkte. Das hier war nicht mit einem Pranger zu vergleichen, man wurde nicht wie früher zur Schau gestellt und mit brennenden Scheiten traktiert, man blieb für sich allein und hatte Zeit zum Nachdenken. Die bekam man gratis obendrein. Nur im Winter verzichtete man auf die Prozedur, man sparte das Odeln auf, bis es wieder Frühling wurde – und es hatte schon einige gegeben, die sich sogar darauf freuten, einmal hier hängen zu dürfen, die temperierte Jauche auf der Haut. Die gab es, und es waren dieselben, die dabei in äußerste Erregung gerieten. Das musste anfangs sehr irritierend gewirkt haben. Irgendwann aber, da wurde man aus der Erfahrung klug, wurde das Schauspiel für eine ganz normale körperliche Reaktion gehalten. Beim Sterben, erklärte Dr. Hohenner, der einzige Arzt weit und breit, ergossen sich die Delinquenten sogar, wenn sie stranguliert wurden. Er faselte noch etwas von Alraunen, bevor er fließend zum Thema Gartenbau, vor allem zu seinen Kürbissen überging, die tatsächlich eine Größe erreichten, wie man sie nirgends noch gesehen hatte.

Der Baum wuchs aus dem Rachen Alfons Wendenschuchs, der hier begraben lag, und dem einst das Samenkorn unter die Zunge gelegt wurde. Um ihn rankten sich zu Lebzeiten nicht wenige Legenden. Eine davon besagte, dass er mit dem Teufel im Bunde stand, dem er in den einsamen und weiten Wäldern begegnet war. Andere sagten, dass er der Teufel selbst sei, der hier mit den Hammermühlen ein neues Spielzeug der Grausamkeiten erfand, dass die Schwerter, die aus seiner Schmiede kamen, bereits bei leichter Berührung der Klinge den Tod brachten. Man sagte, dass der Müller Kinheckl, der die Hammermühle, die heute als Wendenschuchs Mühle bekannt ist, zusammen mit seinen beiden Söhnen erbaut hatte. Als nun dieser Fremde auftauchte, der sich Wendenschuch nannte und eine Offerte zum Kauf der Mühle machte, lehnte Kinheckl ab. Kurz darauf geschahen diese beiden sonderbaren Unfälle mit den gewaltigen Hämmern, die Kinheckls beiden Söhnen das Leben kostete. Das erzählte man sich hier, um sich etwas zu gruseln. Schließlich war niemand dabei gewesen im Jahre 1499, als noch nicht einmal das Schloss in Kaiserhammer stand, selbst ein rätselhafter Bau, der nach außen hin nur Gleichgültigkeit verströmte.

An den Ufern der Eger entlang glühten die Essen bis tief in die Nacht – die wasserbetriebenen Hämmer rumorten wie der Höllendonner. Es musste ein Mordsspektakel gewesen sein. So konnte man sich leicht den Hades vorstellen. Wo Erze gewonnen, oder in Salinen gegraben wurde, da zog es auch die Alchimisten bald hin, die stets auf der Suche nach dem Urstoff, dem Weltgeist und den Stein der Weisen waren. Vielleicht war Alfons Wendenschuch einer von ihnen, aber wer wollte das heute noch wissen? Manchmal flüstert der Wind Zaubersprüche, die jeder schon gehört hatte, der hier längere Zeit lebte. Manche erzählten sich, der Wind gäbe in chronologischer Reihenfolge die Ereignisse wieder, wie es früher die fahrenden Sänger taten, aber die Worte seien unverständlich, weil keiner die Sprache verstand und weil der Wind an verschiedenen Orten immer nur ein Wort oder einen Satz murmelte. Wieder andere schworen, dass der Wind Namen preisgab; wenn man Pech hatte sogar den eigenen, und man erläge dann dem Gesetzt der mystischen Schmiede, die über Leben und Tod wachte.

So gab es also viele sich widerstreitende Geschichten, wie sie überall auf der Welt in den abgelegenen Regionen zu finden sind, aber eines wusste man ganz genau zu bestimmen: Hier, unter diesem Baum, der sich nach oben hin zweiteilte, und der aus der Ferne aussah wie eine übergroße Zwiesel, lag der Stammhalter der Wendenmühle.

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