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Wie Poe durch Dupin die literarische Welt für immer veränderte

Olivia Rutigliano ist die stellvertretende CrimeReads-Redakteurin bei Lit Hub. Ihre Arbeiten erscheinen darüber hinaus auf vielen anderen Plattformen. Sie ist Doktorandin und Marion E. Ponsford-Stipendiatin an der Columbia University, wo sie sich auf Literatur und Unterhaltung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts spezialisiert hat. Wir danken für ihre Bereitschaft, bei uns mitzuwirken. —M.E.P.

Obwohl es in der Literatur seit Jahrhunderten nur so von cleveren Problemlösern wimmelt, von Trickbetrügern über geläuterte Diebe bis hin zu weisen Männern und Polizeipräfekten, versetzte Edgar Allan Poes Detektivgeschichte “Die Morde in der Rue Morgue”, als sie 1841 erschien, die literarische Welt in Erstaunen. In einem Haus in der Rue Morgue (einer fiktiven Straße in Paris) ist ein grausamer Doppelmord geschehen. Mehrere Zeugen bestätigen, dass sie mehrere Stimmen gehört haben, aber niemand kann sich darauf einigen, welche Sprache einer der Sprecher verwendet haben könnte. Es gibt mehrere Hinweise, von denen einer rätselhafter ist als der andere. Die Polizei ist ratlos. Doch C. Auguste Dupin, ein Liebhaber seltener Bücher, löst das Rätsel zu Hause, nachdem er die Details in der Zeitung gelesen hat, und wird so zur ersten echten Detektivfigur der Literatur und löst damit eine Revolution aus, in dem er ein Genres definiert. Er taucht in zwei weiteren Geschichten auf: “Das Geheimnis der Marie Rogêt”,  und “Der entwendete Brief” von 1844.

Wie der Literaturkritiker A. E. Murch schreibt, handelt es sich bei der Detektivgeschichte um eine Erzählung, bei der “das Hauptinteresse in der methodischen Entdeckung der genauen Umstände eines mysteriösen Ereignisses oder einer Reihe von Ereignissen mithilfe rationaler Mittel liegt“. Der Kritiker Peter Thoms führt dies weiter aus und definiert den Kriminalroman als “Chronik einer Suche nach Erklärung und Lösung” und fügt hinzu:

“Eine solche Fiktion gestaltet sich typischerweise als eine Art Rätsel oder Spiel, als ein Ort des Spiels und des Vergnügens sowohl für den Detektiv als auch für den Leser.”

Der wohlhabende Dupin ist ein Sesseldetektiv, der Rätsel löst, weil er es kann, indem er eine Methode  der “Folgerung” anwendet, bei der er im Grunde “über den Tellerrand hinausschaut” (und es ist gut, dass er das tut, sonst würde niemand diese Verbrechen lösen; der Mörder in “Die Morde in der Rue Morgue” entpuppt sich als entlaufener Orang-Utan. Man kann wohl mit Sicherheit sagen, dass niemand sonst darauf kommen würde). Er teilt seine Schlussfolgerungen seinem guten Freund, dem anonymen und oft verblüfften Ich-Erzähler mit.

Hätte Poe nicht die Konventionen festgelegt, die wir als Kennzeichen der modernen Detektivgeschichte kennen, hätten andere wahrscheinlich nicht lange danach das Gleiche getan. Die Literatur war auf dem Weg zu dieser Entdeckung; sicherlich gab es eine lange Reihe von Figuren, die ähnlich vorgingen, gestohlene Gegenstände aufspürten und unmögliche Rätsel knackten, und wie Dupin taten sie dies als Privatleute und nicht als Angestellte des Staates. Voltaire schrieb 1747 die philosophische Novelle Zadig oder das Schicksal zum Thema Problemlösung, in der es um einen weisen jungen Mann in Babylonien geht, dessen Wissen ihn zwar in Schwierigkeiten bringt, ihn aber letztlich oft rettet. In William Godwins 1794 erschienenem Roman Die Abenteuer des Caleb Williams oder: Die Dinge wie sie sind, einer vernichtenden Anklage gegen die Fähigkeit des so genannten Justizsystems, Leben zu ruinieren, werden staatlich sanktionierte Ermittler zugunsten von nicht-traditionellen Problemlösern desavouiert. 1819 schrieb der deutsche Schriftsteller E. T. A. Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, wo eine neugierige Frau namens Madeleine von Scuderi (die man als Vorläuferin von Miss Marple betrachten könnte) eine gestohlene Perlenkette findet.

Diese Aufzählung wäre unvollständig ohne Eugène-François Vidocq, einen Kriminellen, der sich zum Kriminologen wandelte und von 1775 bis 1857 lebte. Er gründete und leitete die erste nationale Polizei Frankreichs, die Sûreté nationale, sowie die erste private Detektei Frankreichs. Sein Leben inspirierte zahllose (verwegene) Adaptionen, darunter auch eine amerikanische, die 1828 in Burton’s Gentleman’s Magazine unter dem Titel “Unpublished passages in the Life of Vidocq, the French Minister of Police” veröffentlicht wurde und die Poe sehr wohl gelesen haben könnte. Interessanterweise gibt es in dieser Geschichte eine Figur namens “Dupin”.

Der berühmte Drehbuchautor Brander Matthews schrieb:

“Die wahre Detektivgeschichte, wie Poe sie sich vorstellte, hat nicht das Rätsel selbst zum Ziel, sondern die aufeinanderfolgenden Schritte, die den analytischen Beobachter in die Lage versetzen, das Problem zu lösen, das als jenseits menschlicher Möglichkeit abgetan werden könnte.”

In der Tat könnte Dupins größter Einfluss außerhalb des Kriminalromans und innerhalb des breiteren, späteren Feldes der Literaturkritik liegen. Dupins Fähigkeit, Hinweisen eine außergewöhnliche Bedeutung zu entlocken, macht ihn zum ersten Semiotiker, der mehr als ein Jahrhundert vor Ferdinand de Saussure, der 1966 sein Werk zu diesem Thema veröffentlichte, die Beziehung zwischen Zeichen, Signifikanten und Signifikaten aufklärte – vor allem, weil Dupin seine Hinweise eher über die Linguistik als über physische Objekte findet. In “Die Morde in der Rue Morgue” zum Beispiel leitet er die gesamte Lösung aus zwei Worten ab, die angeblich während des Verbrechens gesprochen wurden. (“Auf diese beiden Worte [‘mon Dieu!’]… habe ich hauptsächlich meine Hoffnungen auf eine vollständige Lösung des Rätsels gebaut.”)

Dupins Einfluss auf die Geschichte des Kriminalromans kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er schuf unter anderem den Archetyp des Gentleman-Detektivs, der im Goldenen Zeitalter des Kriminalromans in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so allgegenwärtig werden sollte. Jahre später schrieb Arthur Conan Doyle:

“Jede [von Poes Detektivgeschichten] ist eine Quelle, aus der sich eine ganze Literatur entwickelt hat… Wo war die Detektivgeschichte, bevor Poe ihr Leben einhauchte?”

In der Tat konstruierte Doyle seinen Detektiv Sherlock Holmes als einen intellektuellen Nachfahren von Dupin, indem er Watson (der ebenfalls direkt von den Dupin-Geschichten als Freund/Erzähler/Chronist abgeleitet werden kann, Dupin zitieren ließ, als er zum ersten Mal Zeuge von Holmes’ deduktivem Genie wurde.

»Klingt kinderleicht, wie Sie es erklären«, sagt Watson1887 zu Sherlock Holmes in der ersten gemeinsamen Novelle “Eine Studie in Scharlachrot”. »Sie erinnern mich an Edgar Allan Poes Dupin. Und ich habe immer geglaubt, dass solche Menschen nur in Geschichten vorkommen.«

Holmes äußert sich abfällig über dieses Lob: »Ihr Vergleich mit Dupin ist bestimmt als Kompliment gemeint«, erwiderte er. »Aber in meinen Augen war der Mann eine Flasche. Angeblich hat er nach fünfzehnminütigem Schweigen durch eine spontane Bemerkung herausgefunden, was in den Köpfen seiner Freunde vorging – ein angeberischer und billiger Trick. Er besaß zweifellos ein gewisses analytisches Genie, war aber keineswegs so phänomenal, wie Poe glaubte.«

Nun… bis auf die Tatsache, dass er es doch war. Holmes weiß es nicht, aber ohne Dupin hätte es ihn nicht gegeben.

Charlie Lovett: Das Buch der Fälscher

»Wales konnte kalt sein im Februar …« Das spürt auch Peter Byerly, Buchhändler und Antiquar, der sich nach dem tragischen Tod seiner geliebten Frau in ein Cottage in einem verschlafenen walisischen Dorf zurückgezogen hat. Als ihm durch Zufall ein Manuskript mit handschriftlichen Randnotizen von William Shakespeare in die Hände fällt, scheint ein Traum wahr zu werden, etwas Aufregenderes kann es für einen begeisterten Bibliophilen kaum geben. Aber ist es wirklich echt? Oder doch nur eine geschickte Fälschung? Gemeinsam mit der lebenslustigen Liz, die den schüchternen Peter aus seinem Schneckenhaus locken will, versucht er, die Wahrheit herauszufinden. Als sich die Ereignisse überschlagen und ein brutaler Mord geschieht, wird den beiden klar, dass es nicht bloß um eine literarische Sensation geht, sondern tatsächlich um Leben und Tod.

In seinem mitreißenden Roman erzählt Charlie Lovett die atemberaubende Geschichte eines Manuskripts, das ein jahrhundertealtes Geheimnis birgt, und zugleich eine bewegende Liebesgeschichte.

Das Buch der Fälscher bei Suhrkamp

Das Leben eines Antiquars

Charlie Lovetts Roman “Das Buch der Fälscher” erzählt eine Geschichte, die Buchliebhaber direkt ansprechen wird. Die fesselnde Handlung ist eine Art geisterhafte Liebesgeschichte, die nicht nur durch die schmerzhaften Neurosen ihres Protagonisten Peter Byerly bereichert wird, eines Mannes, der – als wir ihm begegnen – tief in der Trauer über den Tod seiner Frau Amanda etwa neun Monate zuvor steckt.

Der Protagonist ist ein Antiquar und fühlt sich mit Büchern wohler als mit Menschen. Wenn er mit den Sondersammlungen der Ridgefield University arbeitet, befindet er sich in dieser Welt der seltenen Bücher in allerbester Gesellschaft. Dort lernt er das knifflige Handwerk der Buchrestauration und auch einiges über das Fälschen von Büchern. Nach dem Tod seiner geliebten Frau führt er noch mehr das Leben eines Einsiedlers in England. Beim Versuch, sein Leben zurückzugewinnen, stößt er auf ein jahrhundertealtes Aquarell-Porträt in einem Buch über Shakespeare-Fälschungen, das seiner Frau Amanda verblüffend ähnlich sieht. Als Byerly nach dem Künstler des Gemäldes sucht, stolpert er über ein Buch, das – wenn es echt wäre – nicht weniger als ein literarisches Erdbeben auslösen könnte – den “Pandosto”, jenem Buch von Robert Greene, in dem sich eine der wenigen Zeugnisse, die wir von William Shakespeare haben, finden und das dem großen Dramatiker als Vorlage seines “Wintermärchens” diente. Dieser Fund könnte den ewigen Streit zwischen Stratfordianern (jene, die glauben, der ungebildete Shakespeare habe diese Werke wirklich alle selbst geschrieben) und Oxfordianern (jene, die glauben, ein anderer hätte diese Werke geschrieben und Shakespeare wäre nur ein “Strohmann” gewesen) für immer begraben, so es denn echt wäre, denn Shakespeare hat es mit unzähligen Randnotizen versehen, als er sein eigenes Stück daraus machte. Byerly versucht also zwanghaft, die Authetizität des Buches zu klären. Wie es aber bei einer Rätselgeschichte so ist, ist nichts wie es zunächst scheint.

Der Hauch des Übernatürlichen

Peter ist als Charakter durchaus sympathisch, ebenso wie Amanda, die wir in Rückblenden kennen lernen, während sich die Geschichte in Zeit und Raum vor und zurück bewegt. Natürlich ist dies ein Roman über Liebe und Verlust, aber vielleicht noch mehr als das dreht sich der Roman um Peters tiefe Liebe zu Büchern, die er durch seinen Job als Antiquar und Buchrestaurator entwickelt hat. Es ist diese Liebe, die den Roman zu einem Mysterium macht, nicht nur über Amandas Bildnis, sondern über eines der dauerhaftesten und interessantesten literarischen Mysterien aller Zeiten: ob Shakespeare wirklich der Autor jener Werke war, die ihm zugeschrieben werden.

Der Hauch des Übernatürlichen, der durch die Seiten weht, wird sehr geschickt gehandhabt, ebenso wie die Struktur, die sich zwischen dem Schauplatz des 17. Jahrhunderts zur Zeit Shakespeares, zwischen Peters erstem Treffen mit Amanda und seiner “Gegenwart” im Jahre 1995 bewegt. Im Laufe der Geschichte treffen wir auf eine Reihe berühmter historischer Figuren, darunter der große Mann selbst, aber auch Christopher Marlowe und William Henry Smith, die allesamt farbenfroh gezeichnet sind. Es gibt allerlei schöne Parallelen zwischen den Zeitebenen, insbesondere zwischen den drei verschiedenen Buchhändlern, deren Verhalten letztlich die Handlung beeinflusst und entwickelt. Lovetts offensichtliche Liebe zu Büchern und sein tiefes Verständnis für die Welt des antiquarischen Buchhandels und der Restaurierung bereichern nicht nur Peters Charakter, sondern sind auch für jeden interessant, der sich für den Aufbau und die Reparatur von Büchern interessiert.

Unterschiedliche Genres

“Das Buch der Fälscher” ist tief in der Literaturwissenschaft verwurzelt, voll von lustigem Klatsch und historischem Spiel, die die kurzen Kapitel sehr schnell und leicht lesbar machen.

Peters Aufrichtigkeit, mit der er versucht, das Richtige zu tun, selbst wenn er von seinem Kummer oder dem Hunger seiner Besessenheit geplagt wird, treibt die Geschichte voran und bietet einen ausgezeichneten Kontrast zu den weniger ehrlichen Machenschaften derjenigen, die ihn umgeben, insbesondere derjenigen, die eine Rolle im Geheimnis des “Pandosto” gespielt haben. Peters Heilung entwickelt sich im Laufe der Kapitel auf natürliche Weise und macht den Roman letztlich zu einer ungemein befriedigenden und vergnüglichen Lektüre, die eine Reihe von Genres miteinander verbindet und vor allem die Schönheit und das Wunder des literarischen Wortes zelebriert.

Lovett führt hier mehr als geschickt drei Handlungsstränge zu einem perfekten Ende. Tatsächlich werden hier alle Fragen beantwortet (einschließlich die nach dem mysteriösen Gemälde), was bei den vielen Wendungen, den überraschenden Enthüllungen und den Geschichten innerhalb der Geschichte nicht einfach ist. Man hat schon größere Männer daran scheitern sehen. Und tatsächlich finden wir hier auf engstem Raum alles vor: Das Abenteuer der Suche, eine von Hass geschürte Familiengeschichte, eine komplexe Fälschung, Mord und dramatische Entdeckungen.

Der Anfang des Romans aber wendet sich an Sentimentalisten mit einem Hang zur Nostalgie, an Menschen, die die Restaurierung von Büchern faszinierend finden und die wissen wollen, wie der “Pandosto” jahrhundertelang versteckt überleben konnten. Der letzte Teil des Romans ist dann für die Abenteuerlustigen, die eine gute Spannungsgeschichte lieben.

Da Lovett selbst ein ehemaliger Antiquar ist, sind die Abschnitte, in denen Peter Byerlys Arbeit behandelt wird, ausgefeilt und maßgebend.

Der dritte Strang erzählt die tragische Liebesgeschichte zwischen Peter und Amanda, die sich hervorragend mit den anderen Erzählfeldern verträgt und das ganze zu einem vollmundigen Lesererlebnis macht. Natürlich richtet sich das Buch nicht an die gewöhnliche Thriller-Fraktion, das muss von vorneherein klar sein. Jemand, der in Büchern nur den Text sucht und der sich nicht in eine Existenz der Einsiedelei und Panikattacken einfühlen kann, der von Nostalgie nicht eben viel wissen will und alles, was mit einer romantischen Liebesgeschichte zusammenhängt, verachtet, sollte die Finger davon lassen.

Sweeney Todd (Der teuflische Barbier)

Basiert Sweeney Todd auf einer wahren Geschichte oder ist er nur eine Figur, die sich ein Schriftsteller ausgedacht hat? Mit dieser Frage begrüße ich euch zum diesjährigen Halloween-Special, nachdem wir im letzten Jahr bereits die Legende des kopflosen Reiters und die Herkunft des herbstlichen Festes Halloween im Programm hatten.

Ich bin sicher, ihr habt alle schon einmal von ihm gehört. Sweeney Todd, der teuflische Barbier der Fleet Street. Sein Friseurstuhl war auf geniale Weise präpariert, denn nachdem Todd einem Kunden die Kehle durchgeschnitten hatte, bediente er einen Bolzen, der die Leiche rückwärts durch eine Falltür schickte, die in den Keller führte. Dort wurden die Opfer zu Fleischpastete verarbeitet, die in der angrenzenden Konditorei verkauft werden sollte. Geleitet wurde das Geschäft von einer Mrs Lovett, deren Vorname – je nachdem, wer die Geschichte erzählt – variiert.

Seinen ersten Auftritt hatte Sweeney Todd in “The String of Pearls” im Jahre 1846. Autor und Herausgeber: Edward Lloyd, auch wenn man hier und da etwas anderes liest. Etwa zur gleichen Zeit war bereits ein Bühnenstück aufgeführt worden, und das mit großem Erfolg. Die Bühnenversion hatte Dibdin Pitt verfasst und im Britannia Theatre in London aufgeführt. Seit der Konzeption von Sweeney Todd gibt es jedoch Stimmen, die behaupten, dass der Mann auf die ein oder andere Weise tatsächlich gelebt haben könnte. Einige sagen, dass die Figur auf einem historischen Psychokiller basiert, und wieder andere behaupten, dass er genau unter diesem Namen existiert hat. All diese Menschen betrachten Sweeney Todd als die Geschichte wahrer Begebenheiten. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. Heute werden wir also versuchen, alle Beweise, die es da draußen gibt, zu präsentieren und so viel wie möglich über die Wahrheit herauszufinden.

Zu Beginn wollen wir Folgendes klarstellen: Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass es jemals einen Menschen namens Sweeney Todd gab, der Verbrechen in der ihm zugeschriebenen Weise begangen hat. Die urbane Legende von Todd wurde schon in der viktorianischen Ära erzählt und ausgeschmückt. So wie man die Geschichte kennt, ist sie jedoch falsch, zumindest so lange, bis Historiker einen Anhaltspunkt dafür finden. Was sehr unwahrscheinlich ist. Es besteht jedoch immer noch die Möglichkeit, dass Sweeney Todd nach dem Vorbild eines echten Mörders, eines Verbrechers oder einer Legende geschaffen wurde; und genau das werden wir in dieser Folge untersuchen.

Aber bevor wir zu den interessanteren Dingen kommen, lasst uns kurz ein paar einfache Optionen besprechen. Die erste ist sehr prosaisch und wird von Michael Anglo in seinem Buch über Penny Dreadfuls – den viktorianischen Horror-Groschenheften – erwähnt, das heute etwas schwer zu finden ist. Er behauptet, dass ein Forscher nach einer gründlichen Suche in den Londoner Verzeichnissen von 1768 – 1850 entdeckte – es ist bezeichnend, dass der Name des Forschers nicht genannt wird – dass ein gewisser Samuel Todd, dessen Geschäft die Herstellung von Perlenketten war, in den 1830er Jahren in der Nähe der Fleet Street lebte. Anglo kommt zu dem Schluss, dass der Autor, während er über die Handlung einer neuen Penny Dreadful-Geschichte nachdachte, von diesem Namen inspiriert wurde und ihn einfach benutzte.

Die zweite Variante ist noch alltäglicher. Sie bezieht sich auf ein Fragment aus Charles Dickens Roman “Leben und Abenteuer des Martin Chuzzlewit”, der zwischen 1843 und 1844, also kurz bevor “The String Of Pearls” veröffentlicht wurde, in Fortsetzungen erschien. Es lautet so:

“Toms böses Genie führte ihn allerdings nicht in die Buden eines jener Hersteller von Kannibalengebäck, das in vielen gängigen ländlichen Legenden als gutgehendes Einzelhandelsgeschäft in der Großstadt dargestellt wird.”

Das soll nicht heißen, dass der Autor von “The String Of Pearls” genau dieses Fragment gelesen und als Grundlage für seine Geschichte verwendet hat, obwohl es eine interessante Hypothese ist, da eine große Anzahl von Dickens Werken sofort nach ihrer Veröffentlichung von Autoren der Groschenromane plagiiert wurde. Vielmehr war es im damaligen London eine ziemlich bekannte urbane Legende.

Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Geschichte über Sweeney Todd auf einen echten Mörder zurückzuführen ist, oder zumindest auf einen bestimmten Fall, der in den Zeitungen erwähnt wurde. Besagter Vorfall, der im Jahresregister gefunden wurde, weist einige Ähnlichkeiten mit der Legende auf. Hier der betreffende Ausschnitt vom Dezember 1784, Seite 208:

“Ein bemerkenswerter Mord wurde auf folgende Weise von einem Barbiergesellen begangen, der in der Nähe der Hyde Park Corner lebt. Lange Zeit war er Eifersüchtig auf seine Frau gewesen, aber es gelang ihm doch nie, ihr eine Verfehlung nachzuweisen. Zufällig kam ein junger Herr in den Salon seines Meisters, um sich rasieren und kleiden zu lassen, und als er redselig wurde, erwähnte er, einem feinen Mädchen in der Hamilton Street wiederbegegnet zu sein, von der er in der Nacht zuvor gewisse Gefälligkeiten erhalten hatte, und beschrieb gleichzeitig ihre Person. Der Friseur, der sie als seine Frau erkannte, schnitt dem Herrn, völlig wahnsinnig geworden, die Kehle von einem Ohr zum anderen auf und entwischte.”

Einige Verbinden die Geschichte von Sweeney Todd auch mit dem schrecklichen Fall von Sawney Bean, eines berüchtigten schottischen Kannibalen aus dem 16ten Jahrhundert. Meiner Meinung nach gibt es nichts, was Bean überzeugend mit unserem Barbier verbindet, außer vielleicht einer leichten Ähnlichkeit der Vornamen. Wenn Bean also tatsächlich der Mörder war, auf dem unsere Geschichte basiert, könnten wir Sweeney Todd überhaupt nicht als wahre Geschichte betrachten. Historiker haben die Legende von Sawney Bean längst entlarvt – was wir uns allerdings in einer anderen Folge etwas genauer ansehen werden.

War Sweeney Todd vielleicht ein Franzose?

Dies ist eine der Hypothesen, die aus mehreren Quellen gespeist wird. Es wurde vermutet, dass der Schriftsteller, der die Figur geschaffen hat, die Idee dazu bekam, als er mehrere ältere Ausgaben des Tell-Tale von 1824 durchging, wo er eine Geschichte über mehrere Verbrechen fand, die in der Rue de la Harpe (arp) in Paris begangen wurden. Diese Geschichte basiert auf einem früheren Bericht, der im Archiv der Pariser Polizei abgelegt wurde. Ich recherchierte selbst und ich fand tatsächlich ein Buch mit dem Namen “The Terrific Register: Or, Record of Crimes, Judgments, Providences, and Calamities”, das die gleiche Geschichte enthält wie das Tell-Tale, sozusagen Wort für Wort. Sie wurde 1925 veröffentlicht und enthält eine vollständige Darstellung der Verbrechen in der Rue de la Harpe, die ich im Folgenden zusammenfasse:

Zwei opulente Männer, begleitet von einem Hund, gingen in die Rue de la Harpe und betraten den Laden eines Frisörs, um sich rasieren zu lassen. Sie waren in Eile, also trennten sie sich, nachdem der erste Mann fertig war, der daraufhin einige Geschäfte in der Nachbarschaft erledigte, und danach zurückkommen wollte, bevor der Frisör mit seinem Freund fertig war. Als er jedoch zurückkam, informierte ihn der Frisör, dass sein Freund bereits gegangen sei. Dennoch blieb der Hund vor der Tür sitzen, also dachte der Mann, dass sein Freund nur für einen Moment weggegangen sein musste und bald zurückkehren würde. Das tat er nicht. Dann fing der Hund an zu jaulen und der Frisör bat den Mann, ihn zu entfernen. Er versuchte es, der Hund aber blieb hartnäckig. Mittlerweile hatte sich eine kleine Menge vor dem Laden versammelt und die Leute schlugen vor, hineinzugehen und nach dem verschwundenen Mann zu suchen. Als sie schließlich hineinstürmten, fanden sie niemanden. Der Frisör behauptete, er sei unschuldig, und in diesem Moment sprang ihm der Hund an die Kehle. Der Frisör wurde ohnmächtig, und er wäre gestorben, wenn man den Hund nicht angeleint hätte. Jemand schlug vor, das Tier freizulassen, um zu sehen, ob es seinen Besitzer finden könnte. Der Hund stürmte in den Keller. Bei näherer Untersuchung wurde eine Öffnung zum Nachbarhaus entdeckt, wo eine Konditorei lag. Und dort fanden sie die Leiche des vermissten Mannes. Während des Prozesses, bei dem auch die Besitzerin der Konditorei angeklagt wurde, gab der Barbier zu, dass er seine reichsten Kunden ermordete, um sie auszurauben. Die schreckliche Wahrheit wurde enthüllt.

Die Besitzerin der Konditorei, deren Laden so berühmt für herzhafte Pasteten war, dass die Leute aus den entferntesten Teilen von Paris in die Rue de la Harpe strömten, war die Komplizin dieses Halsabschneiders, und diejenigen, die vom Rasiermesser des einen ermordet wurden, wurden durch das Messer der anderen zu diesen Pasteten verarbeitet, mit denen sie – unabhängig von diesen Raubmorden – ein Vermögen verdient hatte.

Diese Geschichte wurde fast zwanzig Jahre vor der angeblich ersten Version von “The String of Pearls” auf englisch veröffentlicht. Daher müssen wir aufgrund der auffallenden Ähnlichkeit zu dem Schluss kommen, dass die Geschichte des teuflischen Barbiers aus der Fleet Street auf diesem oder einem ähnlichen Bericht basiert. Wenn die Fakten aus diesem Buch korrekt sind, hätten wir eine starke Basis, um Sweeney Todd als eine wahre Geschichte zu betrachten.

Aber – sind die Ereignisse in der Rue de la Harpe wirklich passiert? Ist Sweeney Todd eine wahre Geschichte, die zumindest teilweise auf diesen Verbrechen beruht? Es ist unwahrscheinlich, und ich habe noch keinen endgültigen Beweis dafür gefunden. Manche haben die Wahrhaftigkeit der Geschichte verteidigt, weil sie in den Memoiren aus den Archiven der Pariser Polizei von Fouché erschien, dem ersten Polizeipräsidenten der Stadt. Aber das Problem ist, dass kein anderes Dokument oder Register existiert, was angesichts der Art des Falles verdächtig erscheint.

Einige Quellen behaupten sogar, dass die Darstellung der Rue de la Harpe einer alten französischen Volkserzählung sehr ähnlich ist, die als “Geschichte des Barbiers und der blutigen Pastetenverkäuferin” aus dem Mittelalter bekannt ist. Theoretisch ist die Geschichte in einer alten Ballade nachweisbar, die folgendermaßen lautet:

Gegen Ende des 14. Jahrhunderts, das wissen wir,
da lebte dieser teuflische Barbier,
an einer Ecke in der Rue de Marmosette.
Er führte dieses schreckliche Handwerk fort
und niemand hielt ihn auf bei seinem Mord.
In seinem Keller machte er sie dann
bereit für die Arbeit nebenan.

Chor. Mit einem Kuchen, mit einem Wein, mit einem Gesang,
mit einem Kuchen, Wein, Gesang – Haha!

Die Geschichte erzählt uns auch genau
von seiner Komplizin, einer üblen Frau,
Kaltherziger als der schlimmste Landvogt.
Und all die armen Teufel, die er getötet hat
verwandelte sie in Fleischpasteten.

Und er sagte von seinen Kunden, als sie tot darniederlagen:
“Fort sind nun diese Schweinekreaturen”.

Obwohl viele Artikel im Internet sich auf diese Übersetzung beziehen, konnte ich die originale französische Ballade nirgendwo finden und niemand bietet eine seriöse Quelle dafür. Mir erscheint es auch seltsam, dass der Begriff “teuflischer Barbier” bereits in einer so frühen Version verwendet wird, und auch der Stil der Ballade ist mehr als ungewöhnlich.

In einem der Kapitel von Paul Févals “Le Vampire” wird die Rue de Marmosette vom Schriftsteller kurz erwähnt:

Paris hat schon immer Märchen geliebt, die ihr das köstliche Gefühl von Gänsehaut geben konnten. Als Paris noch sehr jung war, hatte es bereits viele Geschichten zu erzählen; von der schuldhaften Komplizenschaft zwischen dem Frisör in der Rue de Marmosette, vom Blutstrom der feinen Herren bis hin zu der galanten Metzgerei des Hauses in der Sackgasse Saint-Bernard, dessen abgerissene Mauern mehr menschliche Knochen als Steine beinhalten.

Le Vampire stammt jedoch aus dem Jahre 1865, als der Bericht über die Verbrechen in der Rue de la Harpe bereits veröffentlicht war, und hilft uns daher nicht viel.

Einer Quelle am nächsten kommt das, was in einem Buch über Sweeney Todd von Peter Haining enthalten ist. Dort heißt es, dass er ein Lied in einem Buch mit alten französischen Balladen, das 1845 veröffentlicht wurde, gefunden hat. Er nennt sogar den Namen des Herausgebers, einen gewissen M. Lurin, aber ich konnte keine Notiz über ihn oder über sein Werk finden. Angesicht der Kritik, die Hainings Buch – zumindest teilweise – für eine Erfindung ohne historische Fakten hält, ziehe ich es vor, vorsichtig zu bleiben.

Und zusammengefasst kommen wir zu dem Schluss, dass jedes Argument, das für Sweeney Todd als eine wahre Geschichte sprechen könnte, keine Berechtigung hat. Festzustellen ist, dass seit der viktorianischen Ära eine Tradition existiert, die dieses Geheimnis gerne lüften möchte. Ich schätze, dass viele Webseiten, die sich mit diesem Thema befassen, nur auf den Zug aufspringen möchten. Doch wer weiß, ob eines Tages nicht neue Beweise auftauchen werden. In der Zwischenzeit können wir noch das Penny-Dreadful-Original “The String of Pearls” und das Musical über Sweeney Todd von Steven Sondheim genießen, auf dem der Film von Tim Burton basiert. Schließlich ist jede einzelne Geschichte auf eine bestimmte Weise wahr.

Robert Arthur: Das Gespensterschloss (Drei ??? #1)

Cover von Aiga Rasch

Es mag manche erstaunen, dass ich noch einmal auf die für Kinder geschriebene Serie zurückkommen, nachdem ich bereits eine kleine Sendung über den Erfinder der drei Fragezeichen – Robert Arthur – gemacht habe. Aber es war eine verdammt gute Serie in ihren Anfängen und neben Miss Marple und Sherlock Holmes sicher eine Reihe, die mich grundsätzlich zum Krimi gebracht hat. Insgesamt gibt es 43 Originalbücher, die von 1964 bis 1987 erschienen, bevor die drei Detektive zu einer rein deutschen Angelegenheit wurden, die mich tatsächlich nicht interessiert.

Die Grundidee, die Mitte der 60er Jahre das Licht der Welt erblickte, bestand darin, dass drei Jugendliche eine Detektivagentur gründen. Namentlich Jupiter Jones, Bob Andrews und Peter Crenshaw. Ihr Hauptquartier befindet sich auf dem Schrottplatz von Jupiters Onkel Titus in Rocky Beach.

Rocky Beach liegt in einer Ebene, begrenzt vom Meer auf der einen und einer Bergkette auf der anderen Seite, nicht weit von Los Angeles entfernt. Die Stadt selbst ist fiktiv, obwohl es ein tatsächliches Rocky Beach im Indischen Ozean gibt, das heute allerdings Gilchrist Beach genannt wird. Und natürlich heißen die drei Detektive in der Übersetzung Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews. Die Hörspiele mit den drei Fragezeichen sind natürlich Kult, obwohl sie nur eine rudimentäre Fassung der Bücher beinhalten, und nicht alle Bücher sind gleich gut, lohnen aber eine neuerliche Entdeckungsreise durchaus. Die Abenteuer begannen mit dem Gespensterschloss, das 1964 im Original und vier Jahre später bei uns erschien. Es ist nicht gerade das beste Buch über die drei Detektive, aber es ist nun einmal das erste. Natürlich geht es hier um ihre blutigen Anfänge. Sie drucken ihre berühmten Visitenkarten und haben zu Beginn noch gar nichts mit Alfred Hitchcock zu tun, der ihnen später immer wieder Fälle zukommen lässt. Anfangs ist er jedoch nicht allzu begeistert, als sich die drei in sein abgeschirmtes Studio mogeln, um für ihn ein Spukhaus für einen seiner Filme suchen zu dürfen.

The Secret of Terror Castle – Endseite; von Harry Kane

Gleich von Beginn an hat man es hier mit einem köstlichen, trashigen Spaß zu tun. Ein Clubhaus mit geheimen Eingängen und allen möglichen Gadgets, die sie aus allem möglichen Schrott zusammengebaut haben. Außerdem steht ihnen sogar ein vergoldeter Rolls Royce zur Verfügung, weil Justus bei einem Wettbewerb im Bohnenzählen die richtige Anzahl nennen konnte, inklusive Chauffeur, der im Original Worthington, bei uns aber Morton heißt, was sicherlich etwas mit der Aussprache zu tun hat. Morton fungiert hier als der ausgewählte Erwachsene, wenn ein Erwachsener von Nöten ist, was im vorliegenden Fall dann auch gleich zur Anwendung kommt.

Das Haus, das sie finden, trägt den ominösen Namen “Terror Castle” und ist das ehemalige Schloss eines Stummfilmstars, der viele Jahre zuvor bei einem mysteriösen Unfall ums Leben kam. In der deutschen Übersetzung ist der Name in “Schloss Terrill” umbenannt worden.

Originalausgabe; Harry Kane

Das Haus scheint jeden zu beunruhigen, der es nach Einbruch der Dunkelheit betritt, was das Trio nur bestätigen kann, als ihre erste nächtliche Expedition scheitert und sie vor Angst fliehen müssen. Entschlossen, nicht zu scheitern, drängt Justus, der mit einem verstauchten Knöchel außer Gefecht gesetzt ist, seine Freunde, das Schloss noch einmal von oben bis unten zu erkunden und ihm jede Kleinigkeit zu berichten. Justus ist die herausragende Intelligenzbestie der drei. Er besitzt eine viel stärkere Persönlichkeit als die beiden anderen Jungen, die sich im Wesentlichen durch ihre Rolle definieren. Bob ist der Bücherwurm, Peter der Sportler. Justus hingegen bekommt eine deutlich größere Hintergrundgeschichte, um einige seiner Fähigkeiten zu rechtfertigen, wie z. B. sein Talent zur Nachahmung anderer Leute, das schon früh in der Geschichte recht amüsant eingesetzt wird. Tatsächlich kommen auch die anderen beiden im Laufe der Abenteuer etwas besser weg, aber das war beim ersten Band natürlich nicht absehbar.

Es gibt hier sogar schon die Andeutung der Rivalität mit Skinny Norris, einem anderen Jungen aus der Schule, die später in der Geschichte schön aufgegriffen wird.

Trotz all des Vergnügens und der Tatsache, dass dieser Roman ordentlich geschrieben wurde, ist die Prämisse für das erste Abenteuer ziemlich schwach. Zunächst stellt sich natürlich die ganz nüchterne Frage, warum Hitchcock nichts von einem Haus in seiner unmittelbaren Umgebung weiß, das den Anforderungen seiner geplanten Produktion entspricht, und warum er ausgerechnet ein Haus sucht, in dem es wirklich spukt. Hitchcock hat ja nie wirkliche Gruselfilme gedreht, wie es etwas missverständlich dargestellt wird.

Glücklicherweise ist das titelgebende Gespensterschloss ansprechend und faszinierend genug, um über den problematischen Aufbau hinwegzusehen. Das Argument, dass wir es hier mit einem Buch für Kinder zu tun haben, sticht zu keiner Zeit. Man sehe sich nur die hohe Qualität an, mit der viele Jugendbücher geschrieben wurden und geschrieben werden.

Die Antwort auf Frage, warum das Haus in der Lage ist, bei denjenigen, die sich darin aufhalten, ein Gefühl der Panik hervorzurufen, ist faszinierend, und die Erklärung ist sicher akzeptabel, allerdings ist sie nicht wirklich überzeugend.

Auf dem Weg dorthin können wir einige recht solide Ermittlungsarbeiten der Jungs verfolgen, die einige ziemlich gute Hinweise liefern. Eine Begegnung mit einem Nachbarn bietet einige besonders starke Beispiele dafür, und während die erwachsenen Leser wahrscheinlich zu keiner Zeit beunruhigt sein werden, trifft diese Geschichte genau das Thema, das noch in meiner Kindheit jeden angesprochen hat und auch jetzt noch einen gewissen Reiz hat.

Obwohl es sich um einen einfachen Krimi nach Erwachsenenmaßstäben handelt und der Aufbau einige kindliche Aspekte aufweist, spricht Arthur nie von oben herab mit seinen Lesern. Wir sollen auch nicht glauben, dass seine kindlichen Protagonisten unnatürliche Fähigkeiten (oder Glück) haben – stattdessen nutzen sie Beobachtungen und Schlussfolgerungen, um herauszufinden, was hier vor sich geht.

Auch wenn “Das Gespensterschloss” nicht zu den besten Krimis der drei Detektive gehört, ist es doch eine wirklich unterhaltsame, fesselnde Lektüre, die – was noch wichtiger ist – eine wunderbare Vorbereitung auf die folgenden Abenteuer darstellt.

Jim Butcher: Wolfsjagd (Die dunklen Fälle des Harry Dresden Nr. 2)

Dieser Artikel ist Teil 2 von 2 der Reihe Dresden-Files

Hallo Freunde draußen an den Radiogeräten. Wir kommen heute zum zweiten Teil der beliebtesten und wahrscheinlich besten Urban Fantasy-Serie der Welt. Es geht um die dunklen Fälle des Harry Dresden, im Original Dresden-Files. Der Titel: Full Moon, bei uns: Wolfsjagd. Blanvalet legt die Bände, die bei uns nie vollständig erschienen, wieder neu auf – und das ist ein echter Glücksfall. Auch wenn man ganz leicht in die Serie reinkommt, empfiehlt es sich doch, am Anfang anzufangen. Und wer sich dafür interessiert, der kann sich hier im Phantastikon bereits die Sendung zu Sturmfront anhören.

Bevor wir ins Geschehen hüpfen – möglichst Spoilerfrei, obwohl sich das nicht gänzlich vermeiden lässt – noch ein kleiner Nachtrag zum Autor selbst. Wer ist Jim Butcher überhaupt?

Am 26. Oktober 1971 in Missouri geboren, wurde sein Interesse an Science Fiction und Fantasy schon früh geweckt, als er sich nämlich von einer Halsentzündung erholen musste. Seine ältere Schwester versorgte ihn während seiner Genesung mit J.R.R. Tolkiens “Herr der Ringe” und Brian Daleys “Han Solos Abenteuer”. Das beflügelte seine Fantasie und er begann nach Geschichten zu suchen, die keiner zu dieser Zeit schrieb. Also machte er es selbst.

1995 machte Butcher seinen Abschluss an der University of Oklahoma in den Fächern Englisch und kreatives Schreiben. Außerdem absolvierte er ein Journalismus-Studium. Laut Butcher wurde das Schreibprogramm dort von bereits etablierten Autoren unterrichtet. Deborah Chester, die in den Genres Science Fiction und Liebesromane schrieb, war dort seine Lehrerin und wurde schließlich zu seiner Mentorin. Während dieses Journalismus-Studiums schuf Butcher also Harry Dresden. Jahrelang hatte seine Mentorin versucht, ihm beizubringen, wie man ein professioneller Schriftsteller wird, aber Jim, der immerhin einen Abschluss in Englisch hatte, hörte ihr einfach nicht zu. Um ihr zu beweisen, dass ihre Ideen Mist sind, entschloss er sich allerdings dazu, all das zu tun, was sie ihm sagte. Und zu seiner Verblüffung hatte sie völlig recht gehabt.

Butcher schrieb das, was schließlich Storm Front, das erste Buch der Dresden Files, werden sollte, aber er hatte größere Pläne. Statt mit dem Entwurf des restlichen Buches, kam er mit einem Entwurf für eine zwanzigbändige Serie.

Das Publikum jedoch mochte die Idee einer langfristig angelegten Geschichte. Bei der Erschaffung von Dresden hat Butcher die klassischen Zauberer Merlin und Gandalf aus Herr der Ringe (LOTR) und Privatdetektive wie Sam Spade von Dashiell Hammett “zerhackt” und zu Harry Dresden “zusammengeschustert”. Auch Spider-Man hatte einen Einfluss. Tatsächlich schrieb Butcher 2006 den Spider-Man-Roman The Darkest Hours.

Ursprünglich wollte Butcher die Dresden Files in Kansas City spielen lassen, aber Chester riet ihm davon ab und sagte ihm, er würde damit Laurell K. Hamilton auf die Füße treten. Zur Erinnerung: Hamilton ist die Autorin der Anita-Blake-Serie, die bei uns leider im Bastei-Verlag erschien, ein Verlag, der dafür bekannt ist, Serien einfach mittendrin abzubrechen.

Die titelgebende Protagonistin ist Nekromantin und Vampirjägerin. Und auch diese Serie verbindet hartgesottene Krimis mit Elementen des Übernatürlichen; die Ähnlichkeit liegt zwar auf der Hand, aber Anita Blake ist mehr eine Erotik-Thriller-Serie als irgendetwas anderes, Vampire hin oder her.

Für Butcher kamen vier andere amerikanische Großstädte infrage. Da war einmal Washington DC. Allerdings wollte er Harry nicht dort spielen lassen, weil die Hauptstadt der Nation ein Synonym für Politik ist und wenn man über Politik schreibt, verliert man unweigerlich einen Teil seines Publikums.

Das nächste Ziel war New York City. Aber auch das schied aus, weil alle Redakteure in New York leben. Und dann war da noch Los Angeles. Das schied wiederum aus, weil alle Geschichten im Fernsehen und im Film dort spielen. Und dann war da noch Chicago, eine Gangsterstadt.

Laut Butcher stellte sich diese Wahl als großes Glück heraus, als er anfing, sich mit der Geschichte und der Folklore von Chicago zu beschäftigen, mit den Geistern, die Spukgeschichten, die Serienmörder und die großen Tragödien. Ganz offensichtlich war das die richtige Entscheidung, wie immer sie auch zustande gekommen sein mag.

Stephen King wird 75

Stephen King wird 75

Seit Carrie, seinem ersten Roman, stellt Stephen King eine Gewissheit auf, die ihn durch sein gesamtes Werk begleiten wird: Wahrer Horror ist in der Realität verankert. Das Übernatürliche – Telekinese, das Monströse, das Unheimliche, das Außerirdische – fungiert oft als eine Art Ruhepol in einer stets klaustrophobischen Handlung. Der wahre Horror erscheint dann in Form von Alkoholismus, häuslicher Gewalt, Ehrgeiz, Obsessionen, Trauer, religiösem Fanatismus.

Von Anfang an hatte es King darauf angelegt, den großen amerikanischen Roman zu schreiben. Das ist der Traum eines jeden Schriftstellers seit dem 19ten Jahrhundert. Daran versuchten sich Autoren wie Philip Roth, Ernest Hemingway oder William Faulkner und natürlich viele mehr. Aber es ist Stephen King, der dieses ehrgeizige Ziel wirklich erreicht hat. Der Grund ist relativ simpel: Der Horror ist das Genre, das alles Tun der Menschheit am besten erklärt.

In Kings Romanen finden wir das Grauen auf die schrecklichste Art und Weise dargestellt. Es sind jene Dinge, die ihn selbst erschrecken. Betrachtet man das von der Basis seiner Autorenschaft her, macht ihn das zum interessantesten Autor überhaupt. Nehmen wir als Vergleich Mary Shelly, die mit ihrem Frankenstein-Roman den eigentlichen Horror-Boom auslöste. Sie spricht da über den Schrecken jener Zeit, über den Fortschritt der Wissenschaft; aber das Erschreckende in diesem Roman ist nicht das grüne Monster, das im Billigkino über die Leinwand flimmerte, sondern das, was mit den Menschen geschieht. Und genau das tut Stephen King in seinem Werk, in dem er selbst auch immer präsent ist. Wenn er über Schriftsteller mit Alkoholproblemen schreibt, erkennt man immer den großen Erzähler aus Maine. In vielen seiner Geschichten. In “Misery” gibt es einen Bestseller-Autor und einen fanatischen Fan, eine ehemalige Krankenschwester, die ihn entführt. Es gibt häufig eine King-ähnliche Figur in seinen Romanen. Er schrieb einen sehr schönen Roman mit dem Titel “Lisey’s Story” (dt. “Love”), in dem wir lesen, was mit der Witwe eines Horrorschriftstellers passieren kann. Diese Witwe ist natürlich Tabitha, seine Frau. Jemand, der in seinem Werk ebenfalls sehr präsent ist.

Merkwürdigerweise wird King nach wie vor von Leuten in die Horror-Schublade gesteckt, die sehr wenig von Literatur verstehen, und wahrscheinlicher noch weniger von King selbst. Bedenkt man, dass César Aira, also jemand, der immer wieder für den Nobelpreis nominiert ist, King ins argentinische Spanisch übersetzt hat, wird diese Kluft erstaunlich offenbar.

King baut mit jedem einzelnen Roman an einem Kanon. Das gelingt ihm, weil er nicht nur ein großer Schriftsteller, sondern auch ein großer Leser ist, ein Kulturkonsument. Er interessiert sich für Serien, Filme und Musik und referiert fleißig auf all diese Dinge. Er macht Musik, spricht über Musik, und bezieht Musik auf sehr interessante Weise in seine Erzählungen ein.

Viele seiner Geschichten drehen sich um das Erwachsenwerden. Es gibt eine Geschichte, die später verfilmt wurde und an die wir uns alle erinnern. “Stand by me” ist ein Initiationsfilm, in dem es um eine Gruppe von Jungen geht, die sich auf ein Abenteuer begeben, um die Leiche eines Toten zu suchen. Die Geschichte heißt natürlich “Die Leiche”, und darin geht es auch um eine andere, introspektive Reise. Erzählt wird sie von einem erwachsenen Schriftsteller, der sich an den Moment des Erwachsenwerdens erinnert. Im Grunde geht es um die Traurigkeit, die Unschuld zu verlieren. Stephen King ist heute 75 Jahre alt geworden und wie jeder große Geist immer noch ein Kind. In vielen seiner Bücher sind Kinder die wahren Protagonisten.

Der Phantastikon-Podcast widmet sich auch in Zukunft dem Gesamtwerk, beginnend bei Carrie, einem Roman, der über Mobbing spricht, lange bevor Mobbing überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt wurde, über religiösen Fanatismus in der Figur der Mutter, über Ignoranz und darüber, wie man aus der Norm ausbricht, die Gewalt gegenüber demjenigen erzeugt, der sich outet, der aber später so erzählt wird, als wäre das Opfer die eigentliche Gewalttätige. Alles begann 1974 mit Carrie und es ist ein unglaublicher Roman mit Rekonstruktionen von Zeitungen, Nachrichten, Fragmenten von Gerichtsakten. Das Erschreckende an dem Roman ist nicht das telepathische Mädchen, sondern alles, was sie diesem armen Mädchen antun. Er macht uns mit der Gewissheit vertraut, dass wir alle irgendwann für andere das Monster sind. Darum geht es in Kings Werken.

Ich gratuliere dem King aufs herzlichste und in jahrzehntelanger Verbundenheit

Cujo

Stephen King Re-Read: Cujo

Das Buch, das King nach Firestarter angehen sollte, bekam den Namen Cujo, und es handelte nicht von Gespenstern oder übernatürlichen Machenschaften. Ähnlich wie damals, als er nach Colorado zog, um Shining und Das letzte Gefecht zu schreiben, war er auf der Suche nach Inspiration. Im Herbst 1977 besuchte er zu diesem Zweck England und schrieb dort einen experimentellen Thriller, der bis heute seines gleichen sucht. Und obwohl er in einem Interview sagte, dass er verrückt würde, wenn er ständig über Maine schriebe, siedelte er Cujo in Maine an, in einem Sommer, der äußerst heiß daher kam.

Obwohl die internationalen Cover hier auch nicht immer solide waren, schoss Heyne – wie man den Verlag eben kennt – wieder einmal den Vogel ab.

England war jedoch nicht das, was King erwartet hatte. Seine ganze Familie hatte dort keine gute Zeit, und er selbst brachte kein Wort zu Papier. Er fühlte sich ausgebrannt und uninspiriert. Das Haus, in dem sie lebten, war nicht warm zu bekommen, und so brachen sie ihren Aufenthalt, der ein ganzes Jahr dauern sollte, ab und kehrten nach bereits drei Monaten nach Hause zurück. Allerdings hatte King das entscheidende Detail zu Cujo in England erhalten. Dort nämlich las er einen Artikel in der Zeitung, der davon handelte, wie ein Kind in Portland von einem Bernhardiner getötet wurde. King war schon immer ein Meister darin gewesen, die Dinge miteinander zu verknüpfen, und so dachte er an seinen Motorradausflug, den er im Jahr davor unternommen hatte, als sein Motorrad im Nirgendwo plötzlich stehen blieb. Ihm gelang es gerade noch, das Bike zu einem Mechaniker in der Nähe zu bewegen, bevor es endgültig den Geist aufgab. Von der anderen Straßenseite hörte er ein unheimliches Knurren und sah einen riesigen Bernhardiner, der sich gerade bereit machte, ihn anzugreifen. Der Hund gab nur nach, weil der Mechaniker zu ihm hinüberschlenderte und ihm einen Schlag mit dem Steckschlüssel gegen die Hüfte verpasste.

Als nächstes dachte King an den zerschundenen alten Pinto, den er und Tabitha sich von seinem Vorschuss für Carrie gekauft hatten. King fragte sich, was wäre, wenn diese alte Karre im Nirgendwo den Geist aufgegeben hätte? Was, wenn seine Frau den Pinto gefahren hätte? Was, wenn sie eines ihrer Kinder dabei gehabt hätte, und wenn niemand gekommen wäre, um den Bernhardiner zu besänftigen? Tja, und was wäre, wenn der Bernhardiner tollwütig gewesen wäre?

Relativ schnell spielte King das Szenario durch: die Mutter sollte gebissen werden und sich mit Tollwut anstecken. Dann sollte sie darum kämpfen, nicht ihrerseits ihren Sohn anzugreifen. Er hatte bereits die ersten siebzig Seiten geschrieben, als er herausfand, dass die Inkubationszeit für Tollwut bei dieser Idee nicht ganz mitspielte. Aber King brannte förmlich, und ehe er sich versah, hatte er die ersten hundert Seiten seines neuen Buches vor sich liegen, das heute als das „Suffbuch“ bekannt ist.

In Das Leben und das Schreiben verewigt er Cujo mit folgenden Worten:

„Am Ende meiner Abenteuer trank ich einen Kasten Bier am Abend, und daran, Cujo geschrieben zu haben, kann ich mich gar nicht erinnern. Ich mag das Buch, ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, wie ich die guten Stellen schrieb.“

Was Schriftsteller trinken ist manchmal denkwürdiger als das, was sie schreiben – und diese Aussage hat die Virtuosität des Romans vielleicht für immer überschattet. King hat eine Menge hineingepackt in dieses für ihn schlanke Buch.

Jeder kennt das Hauptthema – eine Frau und ein Kind, in einem liegen gebliebenen Auto gefangen von einem tollwütigen Bernhardiner – aber das Buch selbst hat eine sehr seltsame Unterströmung. Viele Thriller arbeiten mit zwei oder drei Handlungssträngen, die sich dann irgendwo treffen. Cujo hat drei Handlungsstränge, und in jedem von ihnen unterschiedliches Personal, und keiner von ihnen hat etwas mit dem anderen zu tun.

Im Mittelpunkt stehen Donna Trenton und ihr vierjähriger Sohn Tad, die gemeinsam zu Joe Camber hinausfahren wollen, um den alten Pinto reparieren zu lassen. Als sie an der Werkstatt ankommen, ist bereits das halbe Buch rum, und als der Pinto mit letzten Zuckungen in der Einfahrt stehen bleibt, kennen wir Donna ziemlich gut. Sie ist selbständig, nicht all zu pfiffig, und verhält sich passiv innerhalb ihrer Beziehungskrise mit Tad.

Tad selbst ist ein Kind, das in sich eine Menge Wut angestaut hat und Angst vor seinem eigenen Schatten hat. In einer langen Beschreibung zeigt King, dass Tads Bewältigungsstrategien aus sinnlosen Tätigkeiten bestehen, weil er sich nur allzu bewusst über die Probleme seiner Eltern ist. King hat hier wieder einmal seine Parademomente, denn wenn man ihm eins nicht absprechen kann, dann ist es sein fast schon unheimliches Verständnis gegenüber seinen Figuren und deren Innenleben.

Der kleine Pinto wird zum Schauplatz einer psychologischen Studie, in dem sich Donna in eine Kriegerin verwandelt, für die es allerdings zu spät ist, jemanden außer sich selbst zu retten.

Handlung Nummer zwei erzählt die Geschichte von Donnas Ehemann Vic, dessen kleine Werbefirma gerade seinen größten Kunden dank verunreinigter Frühstücksflocken verloren hat. Vics Werbeagentur wird zum Sündenbock im folgenden PR-Desaster. Er und sein Partner Roger müssen nach New York fliegen, um zu retten, was noch zu retten ist. In der Nacht, bevor er fliegt, entdeckt er, dass Donna eine Affäre mit einem lokalen Tennisprofi hatte.

Der dritte Handlungsstrang gehört Joe Camber, dem Besitzer Cujos, selbst. Camber ist ein übler Hinterwäldler, der seine Frau mit einem Gürtel schlägt und für den es das Größe ist, am Wochenende nach Boston zu fahren, um dort die Zeit mit Nutten, Schnaps und Baseball zu verbringen. Er hat ein Händchen für Maschinen, aber das ist auch das einzig Gute an ihm. Die wirklich eindrucksvolle Figur jedoch ist seine Frau Charity. Sparsam, fromm, sittsam und gerecht. Normalerweise wäre sie eine von Kings bösartigen Christinnen, aber hier versetzt sich King in ihre Lage und schafft nach Cujo selbst den charismatischsten Charakter.

Nichts an diesen Plots ist neu, aber King wäre ja nicht einer der besten Erzähler aller Zeiten, wenn er nicht einige Kühnheiten in der Hand hätte. Hier besteht sie aus Parallelmontagen. Im Augenblick der höchsten Spannung im alten Pinto, als es so aussieht, als würde Tad an Dehydrierung sterben, schwenkt King auf eine Szene mit Charity und ihrem Sohn Brett, die bei Charitys Schwester gemeinsam frühstücken. Oder er zeigt uns, wie Vic und Roger sich überlegen, wie sie ihre Firma retten können. Außerdem ist es bemerkenswert, dass sich die Handlungsfäden nicht berühren. Trotzdem sind überall Spannungsmomente erster Güte eingebaut, und alles zusammen ergibt das Gesamtbild.

Seltsamerweise sind die beiden anderen Plots zwingender als der eigentliche Hauptteil, obwohl darin Donna und Tad um ihr Leben kämpfen. Vielleicht liegt das an der vorzüglichen Kontrastierung der Figuren. Charity ist da aktiv, wo Donna passiv ist, stark dort, wo sie schwach ist. Alle Figuren stehen vor überwältigenden Problemen, aber Donna hat keine Wünsche über den Tag hinaus. Vic und Charity wollen beide ihre Umstände ändern – und das führt sie in unerwartete Situationen.

King teilte Cujo ursprünglich in Kapitel ein, aber er wollte, dass sich das Buch anfühlt wie „ein Ziegelstein, den jemand durch die Scheibe wirft, wie ein wirklicher Angriff. Es ist anarchisch, wie eine Punkrock-Scheibe.“ Das Ergebnis ist ein Buch, in dem die Worte ununterbrochen dahinfließen, und sich einen Weg bahnen, den physischen Schmerz bei Lesen spüren zu können.

Was wir von der Geschichte um Donna und Tad bekommen sind lange innere Monologe Donnas. Ihre Handlungsabschnitte im Buch werden immer weniger, während sich der Text in ihrem Kopf mehr und mehr entwirrt und auf etwas – irgendetwas – wartet. Man eilt schneller und schneller durch ihre Absätze, King verzögert die Spannungsmomente so stark, dass man sich fast persönlich in Bedrängnis fühlt. Als Cujo dann seine Attacken startet, scheinen sie in Zeitlupe abzulaufen, weil endlich die Spannung der vorherigen Passagen abfällt. Das ist eine Filmtechnik – und King hat diese schon immer unbewusst benutzt.

Cujo selbst ist der tragische Held, ein guter Hund, der nichts dafür kann, dass er aufgrund der Tollwut durchdreht. Es ist diese Hilflosigkeit, die das ganze Buch durchzieht. Aufwand wird nicht belohnt, stattdessen kommen die Belohnungen zufällig.

Urban Fantasy (2) – Die Geburt eines Genres

Dieser Artikel ist Teil 12 von 17 der Reihe Fantasy-Literatur

Im vorigen Beitrag sprachen wir über die Definition der urbanen Fantasy und ihren Ursprüngen. Nun wollen wir mal sehen, wie dieses Genre entstanden ist und warum es so populär wurde.

Charles de Lint, der Pionier der urbanen Fantasy

Das allererste Werk der Urban Fantasy war wahrscheinlich der 1984 erschienene Roman “Moonheart: A Romance” von Charles de Lint. Den Begriff Urban Fantasy gab es damals allerdings noch nicht. Urban Fantasy wurde 1997 von John Clute und John Grant in ihrer Encyclopedia of Fantasy als Texte definiert,

„in denen die phantastische und die herkömmliche Welt interagieren, sich kreuzen und zu einer Geschichte verschränken, die sich signifikant um eine reale Stadt dreht.“

Ironischerweise war die Serie, die das Genre begründete, nicht in einer realen Stadt angesiedelt, sondern in einer imaginären. Newford, das von Charles de Lint erfunden wurde, stellt eine typisch amerikanische Stadt dar, mit seinen wohlhabenden Wohngebieten und Slums, seinen Stränden und Brachflächen und natürlich seinem ausgedehnten Netz von unterirdischen Tunneln. Die Newford-Serie begann mit der Kurzgeschichte “Uncle Dobbin’s Parrot Fair”, die 1987 zum ersten Mal in Isaac Asimovs Science Fiction Magazin erschien. 1993 wurden mehrere Kurzgeschichten von Charles de Lint, alle in Newford angesiedelt, von Terri Windling zusammengestellt und unter dem Titel “Dreams Underfoot” veröffentlicht.

“Dreams Underfoot” ist eine denkwürdige Lektüre. Wir treffen auf farbenfrohe Charaktere, lernen sie lieben und erforschen die Geheimnisse Newfords und ihrer Gesellschaft. Manche Geschichten grenzen an den Magischen Realismus oder den Surrealismus, zum Beispiel “Freewheeling”, wo ein Straßenkind Fahrräder klaut, um ihnen die Freiheit zu schenken. Für den Protagonisten haben selbst unbelebte Objekte eine Seele, einen eigenen Geist und verdienen es daher, frei zu sein. Ist er wahnsinnig, oder nimmt er etwas Reales wahr, eine Magie, die in weltlichen Objekten versteckt ist? Wir werden es nie erfahren. Während des gesamten Buches verflechten sich Realität, Mythos und Magie so eng miteinander, dass es manchmal unmöglich ist zu sagen, was real und was eingebildet ist. Ob die Magie echt ist oder nicht, ändert aber nichts an der Bedeutung der Geschichten. Wichtig ist, woran die Menschen glauben. Das ist die Theorie der einvernehmlichen Realität: Dinge existieren, weil wir wollen, dass sie existieren.

“Dreams Underfoot” wurde mit Werken literarischer Fantasy wie “Little, Big” (1981) von John Crowley und Mark Helprins “Wintermärchen” (1983) verglichen. In Übersetzung liegt kaum etwas von de Lint vor und schon gar nicht seine wichtigsten Werke.

Sex, das Übersinnliche und Rock and Roll!

Einige würden sagen, dass der erste urbane Fantasy-Roman “War for the Oaks” (1987) von Emma Bull war. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem zustimme, aber lasst uns über dieses Buch reden. Es erzählt die Geschichte von Eddi McCandry, einer jungen Sängerin, die in Minneapolis lebt. Sie hat einen schlechten Tag, oder besser gesagt, eine schlechte Nacht. Sie hat sich von ihrem Freund getrennt und verließ seine Band, und später begegnet sie einem finsteren Mann und einem riesigen Hund. Die beiden Geschöpfe sind ein und dasselbe: ein Phouka, ein Feenwesen, das Eddi zum Bauernopfer im jahrhundertealten Krieg zwischen den Höfen von Seelies und Unseelies auserkoren hat.

“War for the Oaks” ist nicht der passendste Titel für diesen Roman, da der Krieg der Feenhöfe nicht im Mittelpunkt der Geschichte steht. Rockmusik schon. Ein guter Titel für dieses Buch wäre “Eddi and the Fey “(der Name von Eddis Band) oder noch besser “Sex & Fey & Rock & Roll!” Emma Bull war Musikerin; sie spielte Gitarre und sang bei den Flash Girls, einem Goth-Folk-Duo, und war Mitglied von Cats Laughing, einer psychedelischen Folk-Jazz-Band. Zweifellos hat ihre Leidenschaft für die Musik den Krieg um die Eichen inspiriert.

Dieser Roman würde eher als paranormale Romanze denn als urbane Fantasy durchgehen. Die Handlung dreht sich um Eddi und ihr Liebesleben (und ihr Sexualleben, obwohl es keine expliziten Sexszenen gibt). Es gibt sogar eine Dreiecksbeziehung zwischen Eddi und zwei übernatürlichen Wesen, ein Erzählmuster, das später zu einem Markenzeichen paranormaler Romantik werden wird.

Insgesamt gibt es in diesem Buch nicht viel Action. Das meiste davon (vor allem der mittlere Teil) ist gefüllt mit Dialogen zwischen Eddi und dem Phouka oder anderen Mitgliedern ihrer Band. Obwohl es einige gute Ideen enthält, werden sie in diesem Roman nicht ausgenutzt. Auf der positiven Seite ist der Schreibstil begeisternd, und die Geschichte ist sehr einfallsreich, aber die Charaktere sind klischeehaft (der Preis des Tapferen, die edle Königin, die böse Hexe, usw.). Der Phouka ist eine Ausnahme, da er subtiler zu sein scheint als die anderen.

Ich erwähnte dieses Buch aus historischen Gründen, weil es die Voraussetzungen für jene erfolgreicheren Romane und Serien schafft, die urbane Fantasy mit paranormaler Romantik verbinden.

Der Vollständigkeit halber erwähne ich auch Bedlam’s Bard (1998) von Mercedes Lackey, das Ähnlichkeiten mit dem Krieg um die Eichen hat. Auch hier handelt es sich um eine Geschichte über Musik und Elfen in einer zeitgenössischen Umgebung. Es ist interessant zu sehen, wie urbane Fantasy-Autoren Folk- und Rockmusik in ihre Erzählungen integriert haben. Charles de Lint erzählt in seinen Geschichten oft von Musik, und das ist kein Zufall. In den 70er Jahren beeinflusste die Fantasy- und Horrorliteratur die Populärmusik in hohem Maße, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass die Musik in den 80er und 90er Jahren sozusagen diese Gunst erwiderte, indem sie eine neue Generation von Fantasy-Geschichten inspirierte. Dieses riesige Thema verdient allerdings einen gesonderten Beitrag; denn nun wollen wir wieder zur Sache kommen und über Vampire sprechen!

Hier sind Vampire!

Heute sind Vampire aus der urbanen Fantasy nicht mehr wegzudenken. Sie sind überall. Anfang der 90er Jahre war dies jedoch nicht der Fall. Der Roman, der Vampire in die urbane Fantasy einführte, war 1993 “Bittersüße Tode” von Laurell K. Hamilton, der erste Teil der Anita Blake-Serie.

Wie ich bereits im Artikel über die Ursprünge der urbanen Fantasy erwähnt habe, ist es schwierig, die Grenzen zwischen Vampir-Fantasy (einem Subgenre der Horrorliteratur) und urbaner Fantasy zu ziehen. Meiner Meinung nach besteht der Unterschied zwischen Horror und Fantasy darin, dass ersteres eher introvertiert und letzteres eher extrovertiert ist. Horrorliteratur konzentriert sich oft auf das, was die Charaktere fühlen, mit einem Schwerpunkt auf starke negative Emotionen wie Ärger, Angst, Trauer, etc.. Fantasy stützt sich mehr auf den Sinn für das Wunder, und beinhaltet in der Regel einen umfangreichen Weltenbau, um diese Wirkung zu erzielen. Das ist keineswegs eine absolute Regel, aber sie gilt doch recht häufig.

“Bittersüße Tode” ist schwer zu kategorisieren, da es sich gleichermaßen an Horror-, Thriller- und Fantasy-Genres anlehnt. Der Roman spielt in einer Welt, in der Vampire den Lebenden ihre Existenz offenbarten. Wie zu erwarten war, sorgte eine solche Offenbarung für Aufregung, wenn nicht gar Panik. Schließlich sind Vampire für Menschen keine Opfer. Was sollte also der rechtliche Status eines Vampirs in unserer Gesellschaft sein? Sollten sie die gleichen Rechte wie die Lebenden haben?

Die Autorin überspringt gerne die sozialen und rechtlichen Aspekte dieses Problems, um sich auf die Handlung zu konzentrieren. Anita Blake hat einen ungewöhnlichen Beruf: Sie ist Animatorin und arbeitet für die Polizei. Sie erweckt die Toten, damit die Polizei sie verhören kann. Praktisch für die Polizei, nicht wahr? Ihre Hauptzeugen sind tot? Keine Sorge, Anita Blake wird sie für Sie wiederbeleben!

Ihr anderer Job ist noch gefährlicher: Sie richtet Vampire hin. Wenn sie einen Gerichtsbeschluss zur Hinrichtung hat, kann sie einen Vampir in aller Legalität töten. Wenn sie keinen Gerichtsbeschluss hat … Nun, sie tötet diese Blutsauger sowieso. Nicht alle Vampire werden im Roman als blutrünstige Monster dargestellt, aber es wird angedeutet, dass die meisten von ihnen genau das sind. Wir sind nicht weit von der TV-Serie Buffy – Im Bann der Dämonen (1997-2003) entfernt. Kurz gesagt, Anita Blake ist eine selbsternannte Agentin 007 mit einer Lizenz zum Töten, und sie benutzt diese Lizenz recht großzügig und eliminiert die bösen Jungs, ob sie nun leben oder untot sind. Mit „Jungs“ meine ich sowohl Männer als auch Frauen, denn der Hauptschurke des Romans ist ein weiblicher Vampir. Kein Sexismus hier.

“Bittersüße Tode” ist ein Roman, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite beschäftigt. Hamilton zeichnet sich durch die Kunst aus, Spannung zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Ihr Stil ist voller starker Empfindungen. Es wäre jedoch unfair zu sagen, dass der Roman nur sensationslüstern ist. Unter einer relativ flachen Vampirjägergeschichte kann man einige interessante Beobachtungen über die menschliche Psychologie ausmachen.

Hamilton ist wahrscheinlich die erste urbane Fantasy-Autorin, die sich in das Reich der weiblichen Fantasien vorwagt. Im folgenden Jahrzehnt werden wir vielen Schriftsteller/innen auf diesem Weg folgen. Diese Fantasien sind nicht so unschuldig, wie es sich männliche Autoren vielleicht vorgestellt haben. Zum Beispiel werden viele Frauen von Männern mit starken Persönlichkeiten angezogen. Das wussten wir spätestens seit Byron und seinen Gedichten über charismatische, aber gefährliche Männer. Seit Anfang der 40er Jahre beschäftigt sich das Kino mit diesem Thema. Gefahr und Romantik – eine gewinnbringende Kombination! Humphrey Bogarts Verkörperungen mögen hart, manchmal sogar gefährlich gewesen sein, aber keine von ihnen konnte sich in Raffinesse und Wildheit mit Anne Rices Lestat oder Hamiltons Jean-Claude messen.

Raffinesse, Wildheit und Sexappeal – das ist die siegreiche Kombination für einen Vampir in einem urbanen Fantasy-Roman. Hamilton verstand das und stellte Vampire als die Verkörperung der tiefsten weiblichen Wünsche dar. Obwohl diese Ansicht zunächst schockierend erscheinen kann, ist sie angesichts der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse überraschend aufschlussreich. (Für wissenschaftliche Informationen zu diesem Thema empfehle ich das Handbuch der Evolutionären Psychologie von D. M. Buss. Siehe insbesondere das Kapitel Sexuelle Interessen von Frauen über den gesamten Ovulationszyklus hinweg: Funktion und Phylogenie von S. W. Gangestad, R. Thornhill und C. E. Garver-Apgar.)

Sprechen wir nun über einen anderen urbanen Fantasy-Autor, der das Genre mitgestaltet hat. Er braucht keine besondere Vorstellung; meine Damen und Herren, hier ist Neil Gaiman!

Niemalsland von Neil Gaiman

“Niemalsland” begann als Fernsehserie, die erstmals 1996 auf BBC Two ausgestrahlt wurde. Sie wurde von Neil Gaiman und Lenny Henry geschrieben und von Dewi Humphreys inszeniert. Im selben Jahr adaptierte Gaiman die Serie zu einem Roman. Und was für ein einflussreicher Roman das war!

Niemalsland ist eine Parallelwelt, die neben der unseren existiert, aber normalerweise von uns nicht gesehen werden kann. Manchmal fallen Menschen aus unerklärlichen Gründen „durch die Ritzen“ und werden Teil dieses unsichtbaren Universums. Gaiman benutzt dies als Metapher für soziale Ausgrenzung; diese Menschen sind nicht mehr Teil der zivilisierten Gesellschaft, verloren alles, was sie besaßen, sind obdachlos und müssen den rücksichtslosen Regeln der Unterwelt gehorchen. Doch so grimmig dieser Ort auch erscheint, er ist voller Abenteuer und Magie, was ihn für eine romantische Seele attraktiver macht als unsere scheinbar sichere und berechenbare technologische Welt.

Es gibt keine Vampire oder Werwölfe in Niemalsland, aber es gibt alle möglichen fantastischen Kreaturen, einige von ihnen sind dabei fremdartiger als andere. In diesem Roman entdeckt der Protagonist die Existenz eines unsichtbaren London, eines unterirdischen London. Hinter jeder Londoner U-Bahn-Station verbirgt sich eine geheime Welt, die an die mittelalterliche Vergangenheit der Stadt erinnert. Es gibt ein Kloster unter Blackfriars, am Earl’s Court lebt ein echter Graf mit seinem Hof, und unter Angel versteckt sich … na ja, ein Engel! Interessanterweise gibt es in Niemalsland keine paranormale Romanze, nicht einmal einen Hinweis darauf – das ist urbane Fantasy in ihrer reinsten Form.

Ich glaube, Niemalsland ist einer der besten urbanen Fantasy-Romane überhaupt. Witzig, fantasievoll, aber auch zum Nachdenken anregend – so sollte das Genre sein. Im Mittelpunkt einer urbanen Fantasy-Geschichte sollte die Stadt stehen, das urbane Leben mit seinen Gegensätzen und Paradoxien.

Urbane Fantasy mag ein eskapistisches Genre sein, aber dies ist ein zweideutiger Eskapismus, der uns immer wieder in die Realität zurückführt. In Niemalsland wird dieser zweideutige Eskapismus durch die Konflikte, die der Protagonist im oberen und auch im unterirdischen London hat, aufgezeigt. Ersteres repräsentiert die Realität, zweites die Fantasie.

Gaiman produzierte weitere bemerkenswerte Werke, insbesondere die Comic-Serie “Sandman” und den Roman “American Gods” (2001), für die er mehrere Preise erhielt, darunter Hugo, Nebula, Locus und Bram Stoker Awards.

Im nächsten Beitrag zur urbanen Fantasy werden wir über die Entwicklung des Genres im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sprechen, beginnend mit Jim Butcher und Kelley Armstrong.

Elizabeth C. Bunce: Mord im Gewächshaus (Myrtle Hardcastle #1)

Ich wage mich bestimmt nicht zu weit aus dem Fenster wenn ich behaupte, dass ich eher nicht zum typischen Zielpublikum für ein Kinder- oder zumindest Jugendbuch gehöre, in dem ein zwölfjähriges Mädchen als Ermittlerin fungiert. Wenn man allerdings bedenkt, dass ich jeder guten Geschichte hinterher jage, die es verdient, gelesen zu werden, ein Faible für den englischen Krimi habe – für das Englische überhaupt -, und mich am liebsten im Zeitalter der viktorianischen Gaslaternen herumtreibe, dann wird vermutlich klar, warum ich mich auch für die Ermittlungsarbeit der Myrtle Hardcastle interessieren könnte, einer brillanten jungen Dame aus gutem Hause, ins Leben gerufen von der amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth C. Bunce.

Natürlich ist Myrtle nicht die erste jugendliche Detektivin, das war “New York Nell”, die in den 1880er Jahren ihre Fälle als Junge verkleidet löste. Es folgte Nancy Drew, die in den 30ern von Edward Stretemeyer erschaffen wurde. 1948 kam dann Trixie Belden hinzu, und nicht vergessen werden darf Enola Holmes, die jüngere Schwester von Sherlock Holmes, die seit 2006 von sich reden macht. (Diese Reihe ist übrigens auch beim Verlag Knesebeck erhältlich). Es gibt noch zahlreiche andere sogenannte Mädchendetektive, wobei mir das Wort nicht gefällt. Es sind Detektivinnen mit einer feinen Spürnase und einer erfrischenden Intelligenz. Tatsächlich sind sie immer die klügsten Personen im Raum, und ihre waghalsigen Heldentaten haben es Mädchen ermöglicht, Identitäten zu erforschen, die im wirklichen Leben kaum erreichbar sind.

Myrtle Hardcastle, Detektivin im viktorianischen England

Und auch wenn Myrtle Hardcastle nicht die erste und einzige Detektivin ist, ist sie etwas Besonderes, was gleich der erste Teil der Serie mit dem Titel “Mord im Gewächshaus” beweist. Während ich dies hier erzähle hat Elizabeth C. Bunce bereits den fünften Roman fertiggestellt und der dritte erscheint bei uns im Oktober. Hier war es unmöglich, die Titel auch nur halbwegs beizubehalten, weil Bunce den Namen ihrer Heldin in Wortspiele einbindet wie “How to Get Away with Myrtle” oder “Cold-Blooded Myrtle”. Die klassische deutsche Titelei wie “Mord im Gewächshaus” oder “Mord im Handgepäck” sind da die richtige Wahl. Auch die Covergestaltung geht in Ordnung, obwohl sie natürlich nicht so schön ist wie das Original, aber das ist ohnehin selten der Fall.

Myrtle Hardcastle

Grundsätzlich sind in Kinderbüchern die Erwachsenen nur Beiwerk, damit die kindliche Hauptfigur die Handlung anführen kann. Bunce hat diesen Grundsatz auf nette Weise umgedreht, und so fühlt sich Myrtle in der Gesellschaft von Erwachsenen viel wohler als in der von Menschen ihres Alters.

Das liegt nicht nur daran, dass sie frühreif ist, sondern auch daran, dass sie Probleme mit sozialen Kontakten hat. Die Erwachsenen in ihrem Leben verzeihen ihr das eher als die “idealen” jungen Damen, mit denen sie verkehrt, oder – ginge es nach ihrem Vater – verkehren sollte. Das ist gut zu lesen, denn wäre Sherlock Holmes ein geselliger Mann gewesen, wäre er wohl nie zu dem geworden, was er ist. Es ist gut, jemandem zu sagen, dass es im Grunde klug ist, sich nicht mit der Masse gleichzusetzen. Wie wir wissen, ist Intelligenz nicht gern gesehen, schon gar nicht bei Mädchen im viktorianischen England.

Mord im Gewächshaus

Wir schreiben also das Jahr 1893, als wir Myrtle Hardcastle zum ersten Mal begegnen. Die Erwartungen, die an eine junge Dame aus gutem Hause gestellt werden, nimmt sie nicht besonders ernst. Schließlich gibt es Wichtigeres zu tun. Sie ist geradezu besessen von Verbrechen, Kriminalistik und Toxikologie – Interessen also, die angesichts der Tatsache, dass sie die Tochter eines Staatsanwalts und einer (inzwischen verstorbenen) Medizinstudentin ist, nicht überraschen dürften, aber zumindest unziemlich sind.

Peony (borg.com)

Myrtles ultimativer Traum ist es, eine Ermittlerin wie Sherlock Holmes zu werden (tatsächlich wird sie später auch einen Deerstalker-Hut auf ihrem Kopf tragen); und als sie ihrer täglichen Routine nachgeht – nämlich mit einem Teleskop die Nachbarschaft observieren, anstatt den Sternenhimmel zu betrachten – bemerkt sie, dass im Nachbarhaus bei Miss Wodehouse etwas nicht stimmt, weil sich dort nichts rührt, und auch die Katze Peony ist nirgendwo zu sehen. Myrtle verständigt die Polizei und tatsächlich wird Miss Wodehouse tot in ihrer Badewanne gefunden. Sofort ernennt sich Myrtle zur Chefermittlerin. Oder besser gesagt, zur einzigen Ermittlerin, denn abgesehen von ihrer Gouvernante, Miss Ada Judson, ist die einhellige Meinung der Beamten (einschließlich ihres Vaters) die, dass die exzentrische Blumenzüchterin an einem Herzinfarkt gestorben sei.

Myrtle weiß es jedoch besser. Und Miss Judson vertraut auf Myrtles forschenden sechsten Sinn, denn für die seltenen Lilien, die Miss Wodehouse züchtete, würden viele Menschen alles tun. Sogar einen Mord begehen.

Als ein Duo hinterhältiger Erben auf den Plan tritt, ist Myrtle davon überzeugt, dass es ihre öffentliche Pflicht ist, deren Hintergedanken und mögliche Beteiligung an Miss Wodehouses vorzeitigem Tod gründlich zu untersuchen; doch damit bringt sie sich und ihre Lieben in große Gefahr.

Grundlagen der Detektion

Man könnte dem Buch vielleicht vorwerfen, etwas zu lang geraten zu sein, obwohl es das mit 334 Seiten gar nicht ist. Liest man – abgesehen von Jugendbüchern – andere Cozy Crime Mystery, d.h. sogenannte “gemütliche Krimis”, fällt schnell auf, dass “Mord im Gewächshaus” im Ton und in der Konzeption mit der Erwachsenenliteratur locker mithalten kann. Eine gewisse Alterslosigkeit unterscheidet dann auch ein gutes Jugendbuch von einem sehr guten Jugendbuch. Jedes Kapitel beginnt mit einem Auszug aus Myrtels eigenem Handbuch “Die Grundlagen der Detektion”, und Fachbegriffe oder besondere Accessoires ihrer Zeit erläutert sie auf ihre besondere prägnante Art in Form einiger Fußnoten.

Und natürlich befinden wir uns hier nicht im Sündenpfuhl von London. Wir bekommen dafür aber eine liebevolle Figurenzeichnung, die zwar die viktorianische Großkulisse außen vor lässt, aber genug Eigenheiten und Spezifikationen aufbietet, damit wir wissen, mit welchen Gesellschaftskonventionen wir es zu tun haben.

Da ist natürlich die Hauptfigur Myrtle selbst, die sowohl klug als auch witzig ist.

Sie studiert Toxikologie-Lehrbücher, verhört Verdächtige und tut das Einzige, was eine junge Dame von Format niemals tun sollte: Sie geht nach Einbruch der Dunkelheit allein nach draußen. Myrtle Hardcastle mag zwar nur ein zwölfjähriges Mädchen sein, aber sie ist nicht der Typ, der tatenlos zusieht, wie erwachsene Männer eine Mordermittlung verpfuschen.

Dann ist da noch die stets geduldige und ermutigende Ada Judson, die stark an Ole Golly aus Louise Fitzhughs zeitlosem Klassiker “Harriet – Spionage aller Art” erinnert. Besondere Erwähnung verdienen auch Mr. Blakeney, ein unterhaltsamer Anwalt in der Ausbildung, und “Köchin” (tatsächlich ist ihr Beruf auch gleichzeitig der Name, mit dem sie von jedem bedacht wird), die im Laufe der Geschichte immer wieder ihre Stärke unter Beweis stellt. Und es wäre falsch, die eigenwillige Katze Peony (der englische Begriff für Pfingstrose) nicht zu erwähnen, die inzwischen von Myrtle adoptiert wurde und bei den Ermittlungen tatkräftig mithilft. Sie liefert sogar den entscheidenden Hinweis, wenn man es recht bedenkt.

Elizabeth C. Bunce gewann 2021 mit diesem Buch den Edgar der Mystery Writers of America im Sektor “Bestes Jugendbuch”. Das sollte Anreiz genug sein, sich ins Abenteuer zu stürzen.

Der “Edgar” für das beste Jugendbuch 2021

Erschienen sind die Abenteuer von Myrtle im Verlag Knesebeck, von dem ich hier das Rezensionsexemplar vorliegen habe, um schnell aufzuschließen, wenn im Oktober der dritte Band “Das Geheimnis des Glockenturms” erscheint.

Elizabeth C. Bunce
Mord im Gewächshaus
Ein Myrtle Hardcastle Krimi
Gebunden, 320 Seiten,
aus dem Englischen von Nadine Mannchen
Preis € 16,- [D] 16,50 [A]
ISBN 978-3-95728-486-0

Geschichte der Fantasy – Teil 3

Wir haben uns in den ersten beiden Artikeln (Die 4 Merkmale einer unabhängigen Welt / Weltentwürfe) die Frage gestellt, wer denn der erste Autor war, der eine unabhängige Anderswelt beschrieb. Dort haben wir nach Hinweisen oder Regeln gesucht, die eine unabhängige Anderswelt definieren könnten. In unserem dritten Teil werden wir uns einige Marksteine ansehen, die in der Vergangenheit dazu benutzt wurden, um eine Fantasiewelt von der Realität zu unterscheiden.

Zur Erinnerung: Üblicherweise wird William Morris zugeschrieben, der erste gewesen zu sein, der seine Geschichten in einer reinen Fantasiewelt ansiedelte. Das bedeutet, die Handlung in eine Welt zu verlegen, die nichts mit unserer gemeinsam hat. So zumindest wurde es von Lin Carter und L. Sprague de Camp behauptet. Allerdings gibt es jemanden, der lange vor Morris eine eigenständige Welt erschuf. Wir sollten uns dennoch die Frage stellen, warum es überhaupt so lange dauerte, bis jemand auf diese Idee kam.

Denken wir daran: Morris’ Die Zauberin jenseits der Welt erschien im Original 1894. Und auch wenn es einen Schriftsteller gab, der vielleicht ein paar Jahrzehnte früher eine Anderswelt erfand, bleibt es dennoch bei der Tatsche, dass man Tausende von Jahren benötigte, um auf die Idee einer unabhängigen Welt zu kommen. Warum?

Es wird kaum daran liegen, dass die Künstler früher weniger Fantasie besaßen. Schaut man sich nämlich die alten Werke an, ist darin eine Menge phantastisches Material enthalten – ziemlich nahe dran an dem, was wir heute High Fantasy nennen. Vielleicht sind die dort zu beobachtenden, stets wiederkehrenden Motive dann auch dafür verantwortlich, dass man davon ausging, es bräuchte gar keine erfundene, eigenständige Welt. Wir finden Geschichten, die vor dem Jahre 1800 entstanden sind, die zwei und sogar drei der (im ersten Teil dieses Artikels) aufgeführten vier Merkmale enthalten, und dennoch ist in ihnen immer einen Bezug zu unserer realen Welt vorhanden.

Im Wesentlichen basieren viele dieser älteren Werke auf einer Allegorie, die zwar die Fantasie beflügeln kann und soll, aber stets mit den gleichen Bausteinen arbeitet, die den Bezug zur realen Welt nicht verwerfen. Denken wir an E.R. Eddison, der seinen Roman “Der Wurm Ouroboros” mit einer Figur aus unserer Welt beginnt, um sie dann durch ein Out-of-Body-Erlebnis nach Merkurien zu versetzen. Auch wenn der Rest des Buches völlig wild daherkommt, ist dies doch ein Beispiel, wie er den Faden zur Realität nicht gänzlich aufzugeben bereit war.

Viele der frühen Versuche, von einer „glaubhaften“ Anderswelt zu sprechen, fanden ihr fantastisches Ziel im Jenseits, aber auch hier wird der Rahmen zeitgenössischer Vorstellungen nicht verlassen. Abgesehen davon, dass man hier durchaus seine Ideen unterbringen konnte, wird die Verbindung zur realen Welt stets durch ein vorangegangenes Leben beibehalten. Oder besser: auch ein fantastisches Jenseits definiert sich durch ein reales Diesseits.

Das bringt uns die Frage wieder ins Gedächtnis: Wer war wirklich der erste Schriftsteller, der die Notwendigkeit einer völlig eigenständigen, unabhängigen Welt erkannte und eine solche erfand?

Begriffe wie „Jenseits“, „Fantasy“, und ganz besonders „High Fantasy“ bedeuten für viele Leser nicht das gleiche. Es gibt unzählige Variationen der Deutung. Werden wir diesbezüglich etwas genauer: Fantasy meint jede Geschichte, die mit Elementen der Magie oder des Übernatürlichen einhergeht. Ja, das umfasst Teile des Horrors, und ja, es umfasst auch Teile der Science Fiction. In der High Fantasy treten diese phantastischen Elemente so dominierend auf, dass sie ihren eigenen Gesetzen in ihrer eigenen Welt folgen. Jenseitsfantasien spielen sich in einer Welt ab, die nicht die unsere ist, in der es keinen Bezug mehr zu unserer Realität gibt. Von diesem Standpunkt her sind diese Jenseitsfantasien also ein Unterkapitel der High Fantasy, so wie High Fantasy ein Subgenre der Fantasy ist.

Trotz dieser Definition müssen wir dennoch einen Grund nennen, warum wir nicht einfach eine Jenseitsfantasie wie “Die Pilgerreise” von John Bunyan (1628 – 1688) als High Fantasy etikettieren können. Worin liegt der Unterschied zu “Der Herr der Ringe“?

Ob man nun Morris als ersten Fantasy-Autor akzeptiert oder nicht, fest steht, dass der Herr der Ringe lange nachdem es bereits Jenseits- oder Anderswelt-Fantasien gab geschrieben wurde. Man kann den Unterschied, wie Tolkien seine Welt mit der realen Welt verband, durchaus erkennen. Er tat das nämlich in einer Weise, wie kein Autor vor ihm. High Fantasy kam also später aufs Parkett als besagte Jenseitsfantasien. Traditionelle Fantasy aber gab es bereits vorher. Wie fühlt sich diese traditionelle Fantasy dem Realen verpflichtet? Und wie hat sich die Fantasy dann von der Realität und dem Altbekannten abgesondert, bis sie schließlich ihr eigenes Reich in Anspruch nehmen konnte?

Wir sollten uns zunächst fragen: Was, wenn es diese Verschiebung eigentlich gar nicht gab? Was, wenn eine reale Welt anders dargestellt werden soll, wenn sie also ein Ort ist, an dem nicht nur phantastische Ereignisse geschehen, sondern dort grundsätzlich phantastische Ereignisse dominieren, sie aber das gleiche Recht für sich in Anspruch nimmt, wahr und plausibel zu sein, wie es der Weltenbau einer realistischen oder engagierten Literatur ebenfalls von sich behauptet?

Das hört sich zunächst natürlich paradox an. In Wirklichkeit spreche ich hier von Mythen. Mythen beschreiben Ereignisse (auch historische) jenseits gewöhnlicher Erfahrungen. Der Punkt ist aber, dass sie ebenfalls dazu gedacht sind (oder waren), die reale Welt zu beleuchten.

Ein Mythos, der erklärt, wie die Welt entstanden ist, beinhaltet notwendigerweise auch die reale Welt. Ein Mythos, der erklärt, wie die Jahreszeiten entstanden sind, hat den Zweck, uns zu erklären, wie sich die Welt, wie wir sie kennen, ausgebildet hat. Die Entwicklung der Mythen geht also in erster Linie den Weg vom Phantastischen zum Realistischen. Und Mythen beinhalten stets die uns bekannte Welt, erklären sie, geben ihr Sinn, beschreiben ihre Geschichte.

Gleichzeitig geben uns Mythen zu verstehen, dass unsere Welt in ihrem Ursprung und in ihrem Sein bereits überaus phantastisch ist. Ein Geschichtenerzähler, der einen Mythos nacherzählt, besitzt daher bereits genügend phantastisches Material. Aber die Struktur des Mythos begreift sich dahingehend, dass seine phantastischen Elemente stets darauf bedacht sind, die reale Welt und  das in ihr Bekannte abzubilden.

Betrachten wir das anhand des Gilgamesh-Epos oder der Odyssee. In beiden Epen geht es um die Reise in alle möglichen Gebiete einer unbekannten – und dann um die Fahrt zurück in die reale Welt. Hier gibt es eine eigene Logik, die abhängig ist von den Gesellschaftsformen und den kulturellen Normen ihrer Protagonisten. Hier wird uns von wunderlichen und unglaublichen Dingen erzählt; und es gibt eine eigenständige Geographie. Außerdem gibt es eine abweichende geschichtliche Entwicklung, die mit dieser Geographie Hand in Hand geht. Gilgamesh trifft den Überlebenden der Sintflut am Ende der Zeit, und Odysseus wird vom Trojanischen Krieg heimgesucht, der bereits zu Ende war, als seine eigentliche Geschichte begann. Beide Geschichten erzählen uns jedoch mehr darüber, was nach ihrer Rückkehr geschah, als über das, was sie in der Ferne vorfanden.

Man kann also sagen, dass Mythen in sich geschlossen erscheinen. Die Geschichte des Kampfes von Marduk gegen Tiamat erscheint ziemlich weit hergeholt, um einen Bezug zur Realität zu haben. Aber die Schlussfolgerung der Geschichte, nämlich dass Marduk die Welt aus Tiamats Leichnam geschaffen hat, zeigt, dass dieser Kampf die Existenz der realen Welt zum Ziel hatte. Es scheint so, als ob die menschliche Erfahrung durch einen Mythos mit phantastische Elementen dargestellt und subsumiert werden soll, immer aber sind diese Fantasien mit der realen Welt verbunden.

An dieser Stelle sollten wir ebenfalls über jene Werke reden, die keine traditionellen Mythen sind, allerdings die Aufgaben von Mythen übernehmen. “Die göttliche Komödie” (Dante) oder “Das verlorene Paradies” (John Milton). Insbesondere auch (oder gerade) die Arbeit von William Blake, der über Götter schrieb. Auch hier wird der Versuch unternommen, die Welt zu erklären und wie sie entstanden ist. Obwohl er eine phantastische Geographie entwarf, blieben seine Geschichten literarisch wie symbolisch  auf der Plattform dieser Welt.

Es geht hier nicht darum, den erwähnten Arbeiten ihre Qualität abzusprechen, oder das damit verbundene Wunderbare zu schmälern, es geht lediglich darum, zu betonen, dass Mythen keine vollständigen Fantasy-Gebilde sind, weil sie keine völlig eigenständige Welt zu bieten haben. Im Gegenteil, sie wollen die unsrige sogar damit erklären. Die Struktur des Mythos ist jedoch dazu geschaffen, mit Fantasy-Elementen zu arbeiten. Wie ich oben bereits sagte, ist hier eine Verschiebung zu erkennen, die im Grunde nicht stattfindet. Das ist die erste Technik, um eine phantastische Anderswelt an unsere reale Welt zu binden. Gibt es noch andere?

Die einleuchtende Strategie der Verlagerung (oder Verschiebung) von Schauplätzen ist eine wörtliche: es geht darum, eine phantastische Welt in einem unbekannten Teil der realen Welt anzusiedeln, über den niemand etwas weiß. Mit anderen Worten, hier wird etwas erfunden (meist eine Geographie), die überhaupt erst erfunden werden kann, weil sie unbekannt ist. Das war zu einer Zeit, als es auf der Welt tatsächlich noch mehr als genug unbekannte Territorien gab, natürlich nützlich. Die Menschen hatten so wenig wissen über ihre Welt, dass dies allein schon ausreichte, ihre Fantasie anzuregen. Es gab zum Beispiel Wolfram von Eschenbach, der in seinem Parzival behauptete, man könne von der Bretagne nach England reiten, oder Shakespeare, der behauptete, Böhmen besäße eine Küste.

Oft wurden phantastische Welten an isolierte Orte verfrachtet, Inseln zum Beispiel sind diesbezüglich ein Dauerbrenner. Aber unterirdische Reiche haben ebenfalls nie an Popularität verloren.

Den letzten richtigen Gebrauch von dieser Strategie machten wohl die Autoren der Sword and Planet-Fraktion – in der Art von Burroughs’ Mars-Abenteuer, C.S. Lewis’ Perelandra-Trilogie, oder E.R. Eddisons Merkurien. Die phantastische Anderswelt wird hier zu einer SciFi-Anderswelt, die Idee dahinter ist jedoch immer noch jene, über die wir bereits gesprochen haben.

Wenn das Versetzen einer Anderswelt traditionell geographisch vonstatten geht, dann steht dem die historische Verschiebung in nichts nach. Gerade in der traditionellen Fantasy spielt sich die Geschichte meist in einer Epoche ab, die anfällig war für Magie und Legendenbildung. Denken wir dabei an die Tafelrunde des König Artus, oder an die Legenden um Karl den Großen.

Die wildesten dieser Fantasien wurden – und das ist auffällig – von Autoren geschrieben, die nicht dem Kulturkreis der jeweiligen Legenden angehörten. Französische und deutsche Autoren schrieben viele der seltsamsten Artus-Geschichten (vor allem über die Suche nach dem Heiligen Gral), während italienische Autoren bevorzugt über die Abenteuer Karls des Großen und seiner Ritter fabulierten, die zum Mond aufbrachen oder gegen Riesen und Zauberer kämpften.

Diese Autoren interessierten sich nicht für Geschichte; sie schrieben Fantasy und benutzten die Figuren bereits bekannter Abenteuer, um sie so zu erzählen, wie sie es wollten. Möglicherweise hatten die dabei weniger Skrupel, sich in anderen Kulturkreisen umzusehen, weil dadurch die Flickschusterei weniger ins Gewicht fiel, als hätten sie ihre eigenen Sagen derart verwurstet.

Die Nachahmungen der Arabischen Nächte sind ein gutes Beispiel. Relativ wenige englische Schriftsteller haben sich davon beeinflussen lassen, aber einer davon, William Beckford, schrieb seinen “Vathek” 1782 in französischer Sprache nieder. Allerdings schrieben nicht wenige französische Phantasten arabische Geschichten, vor allem im 18. Jahrhundert. Man fragt sich, ob für diese Autoren das ferne Arabien nicht die gleiche Funktion erfüllte, wie für uns eine Anderswelt.

So viel zu Zeit und Raum. Gibt es noch weitere Techniken der Verlagerung? Sicher. Die vielleicht einfachste Art, eine Fantasywelt mit unserer Realität zu verknüpfen, ist der Traum. In einem Traum kann naturgemäß alles geschehen, vor allem Phantastisches. Es ist gar nicht so sehr überraschend, dass traditionelle Arbeiten der Fantasy, die den Rahmen eines Traumes für sich nutzen, sich nicht wie Träume verhalten – sie weisen nicht den surrealen, chaotischen Sinn eines Traumes auf, sondern bemühen sich um eine narrative Struktur.

Der Traum war ein sehr beliebter Rahmen für allegorische Arbeiten für Schriftsteller, die etwas über die Welt aussagen wollten, indem sie einer Figur durch eine symbolische Erzählung führten. Diese Figur wirkte dadurch nicht selten wie eine überdimensionierte Karikatur. Jedes Detail einer solchen Erzählung, jeder Charakter präsentiert ein spezielles Thema oder verkörpert eine bestimmte Idee. Die Folge war oft ein surreales Bild, das entstand, weil ein Element der Erzählung für etwas ganz anderes stehen konnte; durch diese Dualität schoben sich zwei Dinge, die eigentlich nicht zusammen gehörten, wie ein Teleskop ineinander, eine Vorgehensweise also, die den Traum imitiert.

Die besten Allegorien funktionieren trotz dieser ganz speziellen Logik trotzdem wie eine Erzählung. Eines der beste Beispiele ist die bereits erwähnte “Pilgerreise” vom John Bunyan, eine symbolische Geschichte über eine Seele, die einer Versuchung widersteht, um in den Himmel zu gelangen. Das Buch folgt dem Hauptcharakter (im Original Christian) auf dem Weg in die himmlische Stadt. Dabei kommt er an Orte wie den Sumpf der Verzagtheit, oder dem Palast Prachtvoll, kämpft gegen Monster wie den Riesen Verzweiflung. Seiner Form nach handelt es sich hier um eine Abenteuergeschichte in einer phantastischen Welt – aber das Unternehmen ist ganz klar als Traum kenntlich gemacht.

Eine andere Möglichkeit der Realitätsverschiebung ist die Geschichte in einer Geschichte, wo eine erfundene Figur die Geschichte einer anderen erfundenen Figur erzählt. Auf diese Weise gelingt es, eine phantastische Welt als reale Fiktion in Erscheinung treten zu lassen.

Das hört sich nach einer sehr modernen strukturalistischen Technik an, aber einige der großen mittelalterlichen Sammlungen, wie die “Canterbury Tales “oder “Das Dekameron” tun genau das. Hier gibt es eine Rahmenerzählung, die den Eindruck erwecken soll, dass eine einzelne Person die Geschichte einer anderen Person erzählt.

Im Englischen gibt es etwas, das „Club-Story“ genannt wird, die angeblich auf Lord Dunsany zurückzuführen ist. Das Konzept ist einfach: ein Gentleman in einem Gentleman’s Club erzählt eine Geschichte, die ihm angeblich selbst widerfahren ist, oder von der er gehört hat, einem anderen Club-Mitglied. Auf diese Weise lässt sich ein phantastisches Erlebnis als etwas wiedergeben, das man von jemanden gehört hat, um die offensichtliche Lüge zu umgehen. Es gibt sehr viele frühere Phantasten, die diese Technik angewandt haben, um Unerhörtes in aller Glaubhaftigkeit zu erzählen.

Das ist also eine wirksame und umfassende Art, ein Fantasy-Setting zu verschleiern, wie immer es auch geartet sein mag.

Im 19. Jahrhundert scheinen die Ideen von einer phantastischen Anderswelt zu einem literarischen Konzept zu werden. Die Methode, die dabei gerne angewandt wird, ist, einer Figur ein Portal zur Verfügung zu stellen, durch das sie in eine andere Welt gelangen kann. Denken wir an das Kaninchenloch bei Alice usw. George McDonalds Roman Lilith von 1895 beschreibt, wie die Hauptfigur durch einen Spiegel in eine andere Welt gelangt.

Natürlich können auch alle erwähnten Techniken zusammen angewendet werden, um einen interessanten Effekt zu erzielen. Ein Schriftsteller kann mit der Realität spielen, ungewöhnliche Perspektiven einnehmen, und zwischen Traum, Erzählung und Anderswelt balancieren.

Betrachten wir einmal E.T.A. Hoffmanns kompliziertes Märchen “Nussknacker und Mausekönig”. Ein kleines Mädchen beobachtet einige seltsame Ereignisse und fällt in Ohnmacht; sie erwacht und denkt, dass alles nur ein Traum gewesen sei. Dann erzählt ihr Patenonkel ihr eine Geschichte, die eine Verbindung zu dem, was sie gesehen hat, aufweist. Das führt zu immer weiteren merkwürdigen Ereignissen; am Ende schläft sie ein, wacht wieder auf, und diesmal sind es die Eltern, die ihr erklären, dass alles nur ein Traum gewesen sei. Am Ende taucht der Neffe des Patenonkels, dem sie im Traum begegnet ist, in ihrem wirklichen Leben auf. Sie heiraten, und die Geschichte schließt, indem wir davon unterrichtet werden, dass Marie die Königin eines Puppenreichs ist, das nur von jenen gesehen werden kann, die auch die Augen dafür haben.

Hier wird die Fantasie erstens dadurch verschleiert, dass sie ins Reich der Träume verwiesen wird, dann ist sie plötzlich Fiktion geworden, am Ende wird sie zu einer Realität. Gleichzeitig nimmt Hoffmann diese „Realität“ wieder zurück, indem er sagt, dass diese Anderswelt nur von jenen gesehen werden kann, die auch Augen dafür haben. Damit deutet er an, dass alles nur eine Frage der Perspektive ist.

Im Allgemeinen wäre es ein Fehler anzunehmen, ein Werk müsse nur eine Strategie der Verlagerung anwenden, um die Realität von einer Fantasywelt zu unterscheiden. Denken wir an die Filmversion von “Der Zauberer von Oz”; in dieser Geschichte wird Dorothy nicht einfach nur von einem Wirbelsturm aus Kansas heraustransportiert, sie erwacht und hält außerdem alles für einen Traum. Auch Alice, die in ein tiefes Loch fällt, erwacht am Ende und denkt, sie habe geträumt.

Sind wir damit schon am Ende angelangt? Sind wir unserer Eingangsfrage etwas näher gekommen? Möglich, aber am Ende sind wir dennoch nicht.

Der Thriller – Die reine Sensation

Das uns allen vertraute Genre des Thrillers zeichnet sich durch seine Ungewissheit und die ständige Erregung der Sinne aus, die zusammen ein gemischtes Gefühl von Beklemmung und Verwunderung erzeugen, durchsetzt mit Furcht und sogar Angst. Diese Bandbreite an Gefühlen und Erfahrungen wird durch eine unvorhersehbare Handlung erreicht, bei der der Leser (oder Zuschauer) die Folgen eines Ereignisses abschätzt. In der Regel steigert sich die Spannung in einem Thriller, sobald sich die Geschichte dem Höhepunkt nähert, gefolgt von einem unvergesslichen Ende.

Dank der nervenaufreibenden Elemente wie Spannung und Verbrechen, Verschwörung und Rache gehört der Thriller seit jeher zu den kreativen Genres (das betrifft nicht nur die Literatur), die die Aufmerksamkeit des Publikums über viele Jahrhunderte hinweg fesselten. Bei der Erwähnung des Wortes Thriller denken viele wahrscheinlich an Alfred Hitchcock und seine herausragenden Filme, zum Beispiel “Psycho”. Die Geschichte des Genres reicht jedoch weit in die Antike zurück.

Der Begriff “Thriller”

Wenn wir uns zunächst die Herkunft des Wortes “Thriller” ansehen, dann stoßen wir bereits im frühen 14. Jahrhundert auf das altenglische Wort þyrlian, das “durchlöchern” “oder durchstechen” bedeutet. Der Begriff þyrel bedeutete im Mittelenglischen etwa “Nasenloch”. Und dann gibt es noch den Begriff þurh, der “durch” bedeutet, vergleichbar dem mittelhochdeutschen “dürchel”, der ebenfalls “durchbohrt” oder “durchlöchert” bedeutet. Der Begriff “ein zitterndes, erregendes Gefühl geben” ist erstmals in den 1590er Jahren mit dieser Bedeutung belegt, und der Hintergrund ist die metaphorische Vorstellung davon, etwas “mit Gefühl zu durchdringen”.

In erster Linie ist dieses Genre also für das erzeugen emotionaler Intensität bekannt. Das Fehlen von Informationen, die erzeugte Angst, das Geheimnisvolle – all das ist in diesem Genre vorhanden. Die Hauptfigur hat eine schwierige Aufgabe zu erfüllen, die eine heldenhafte Anstrengung oder ein Opfer erfordert, um sie zu vollenden.

Die Spannung kann im Laufe des Buches zunehmen oder den Leser von der ersten Seite an ergreifen. In jedem Fall muss das Werk die meiste Zeit über spannend bleiben. Aber das Hauptmerkmal eines jeden Thrillers ist seine Intensität, die den Leser buchstäblich zu einem wahren Reiten auf den Wellen der Intrigen und Leidenschaften veranlasst.

Oft ist das Versprechen eines ausgezeichneten Thrillers nicht nur das hohe Können des Autors, sondern auch eine gründliche Recherche des Themas und eine verwickelte und fesselnde Handlung, die direkt im Wort selbst steckt: es soll ein zittern und beben im Leser ausgelöst werden.

Dies kann im Grunde als Hauptziel des Thrillers angesehen werden. Darüber hinaus liefert der Thriller aber auch oft recht detaillierte Informationen über sein eigenes Setting, zum Beispiel über das Rechtssystem, das medizinische System, die Geschichte der Spionage usw. Es gibt also Autoren, die auf der Grundlage ihrer medizinischen oder militärischen Erfahrung Romane mit einem komplizierten und faszinierenden Plot erschaffen.

Ein Thriller ist kein Krimi

Sehr oft werden Krimis mit Thrillern verwechselt, aber es gibt einen offensichtlichen Unterschied zwischen diesen beiden Genres. In Krimis stößt die Hauptfigur auf ein Rätsel (z. B. einen Mord) und muss Hinweise finden, um die Lösung zu finden. Im Thriller wird die Hauptfigur mit einer schrecklichen Situation konfrontiert (eine drohende Katastrophe, Serienmörder, unbekannte Viren usw.), deren Lösung in der Entwicklung neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten besteht.

Im Thriller liegen alle Hinweise auf der Hand, so dass der Leser eher steile Wendungen der Handlung erwartet als ungewöhnliche Antworten auf Fragen. Thriller berühren die Gefühle des Publikums in erheblichem Maße, während Detektive die Verbindung mit der intellektuellen Seite des Falles erfordern.

Thriller zeichnen sich durch Spannung aus – ein Gefühl von angenehmer Faszination und Aufregung über das, was als Nächstes kommt, gemischt mit Befürchtungen, Vorfreude und eben manchmal sogar Angst. Diese Gefühle entwickeln sich im Laufe einer Erzählung aus unvorhersehbaren Ereignissen, die den Leser oder Zuschauer dazu bringen, über die Konsequenzen der Handlungen bestimmter Figuren nachzudenken. Die spannungsgeladenen Gefühle steuern auf einen Höhepunkt zu, der mit Sicherheit in Erinnerung bleiben wird.

Dabei ist das Genre keineswegs ein modernes.

Die Evolution der Thriller

Die Odyssee von Homer gilt als einer der frühesten Prototypen des Genres und verwendet ähnliche Techniken wie die modernen Thriller von heute. Der Held dieses Epos, Odysseus, macht sich auf die Heimreise zu seiner Frau Penelope und muss dabei außergewöhnliche Strapazen und Prüfungen bestehen. Er kämpft mit Zyklopen, einem einäugigen Riesen, und den Sirenen, die Seeleute in den Tod singen, während er auf seiner Heimreise aus dem Trojanischen Krieg mit dem Meer selbst kämpft. Diese Begegnungen erzeugen allesamt Spannung und lassen den Leser mit der Frage zurück, ob Odysseus es jemals nach Hause schaffen wird, und wenn ja, wie er es schaffen wird.

Rotkäppchen ist ein frühes Beispiel für das Psycho-Stalker-Thema.

Eine häufige Konvention des Genres ist die Psycho-Stalker-Geschichte. Rotkäppchen ist ein frühes Beispiel für das Psycho-Stalker-Thema. Dieses europäische Märchen lässt sich bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen und erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, das durch den Wald geht, um seiner kranken Großmutter Essen zu bringen. Sie begegnet einem Wolf, in manchen Versionen dem “Großen Bösen Wolf”, und sagt ihm, wohin sie geht. Er kommt ihr zuvor, frisst die Großmutter und wartet verkleidet als eben diese Großmutter auf das Mädchen, während sich der Leser fragt, ob das kleine Mädchen einen solch bösen Feind überleben wird.

Im 19. Jahrhundert wurden den Gebrüdern Grimm zwei verschiedene deutsche Versionen dieses Märchens vorgelegt, und sie haben es dann in die heute geläufige Geschichte verwandelten, über die es unzählige Analysen gibt.

Das Aufkommen des Rachekrimis

Der 1844 von Alexandre Dumas geschriebene Graf von Monte Cristo ist ein gewagter und abenteuerlicher Rachethriller über einen Mann namens Edmond Dantès, der von seinen Freunden verraten wird und zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Dort trifft er auf einen alten Mann, der ihm alles beibringt und ihm das Versteck eines großen Schatzes verrät. Edmond erwirbt dieses Vermögen und rächt sich an denen, die sein Leben zerstört und ihn eingesperrt haben. Dieser Literaturklassiker nimmt die Leser mit auf ein gefährliches und spannendes Abenteuer, das Edmonds Suche nach Rache, Zufriedenheit und schließlich Frieden begleitet.

Das Kernstück eines guten Thrillers war aber von Anfang an die Psychologie. Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, dass der Psychothriller neben dem Spionage- oder Agententhriller und dem Horror-Thriller das Zentrum des Genres bildet.

Der Psychothriller

Wie viele andere revolutionäre Konzepte wie den Schauerroman oder den Krimi, der sich daraus ergeben hat, haben wir auch den Psychothriller den Viktorianern zu verdanken.

Der Monddiamant wird oft als der erste Detektivroman überhaupt angesehen (was er aber nicht ist). Hier die Ausgabe bei dtv.

Wilkie Collins ist der heute wenig bekannte Erfinder der Idee des psychologischen Thrillers. Obwohl er weniger bekannt ist als Dickens oder die Brontë-Schwestern, kann man diesen viktorianischen Innovator als einen der einflussreichsten Romanautoren seiner Zeit bezeichnen.

In den 1860er Jahren veröffentlichte Collins vier Romane, die oft als “Sensationsromane” bezeichnet werden: “Die Frau in Weiß”, “Die Namenlosen”, “Der rote Schal” und “Der Monddiamant” – Romane, die zur Zeit ihres Erscheinens sehr populär waren und das viktorianische Publikum mit ihren düsteren Rätseln, die an gewöhnlichen und vertrauten Schauplätzen spielten, in Erstaunen und Schrecken versetzten.

In diesen großartigen Romanen erfand Collins eine Reihe von erzählerischen Tricks und Methoden, auf die Krimiautoren noch heute zurückgreifen. Ein solches Element ist die Idee, dass die Hauptfiguren sich nicht auf ihre eigenen Erinnerungen verlassen oder ihnen zumindest nicht trauen können – und dass sie nicht wissen, ob sie tatsächlich für ein Verbrechen verantwortlich sind. Dieses Konzept des “unzuverlässigen Erzählers” ist heute in der Ich-Erzählung eines Thrillers gang und gäbe, wie in Girl On The Train von Paula Hawkins, mit der Erzählerin Rachel, die unter alkoholbedingtem Gedächtnisverlust leidet.

In Collins’ Roman “Der Monddiamant” ist es das Opium, das für diese Idee der Unzuverlässigkeit sorgt – etwas, das Collins’ enger Freund Charles Dickens so faszinierend fand, dass er dessen Einflüsse in seinen eigenen unvollendeten psychologischen Thriller “Das Geheimnis des Edwin Drood” aufnahm. Der Monddiamant wird oft als der erste Detektivroman überhaupt angesehen, in dem ein unbezahlbarer Mondstein-Diamant gestohlen wird, was zu Anschuldigungen und Verdächtigungen gegen alle Figuren führt. Collins erlebte die Opiumsucht am eigenen Leib und verlieh den Auswirkungen auf seine Erzähler eine realistische Ebene.

Unzuverlässige Erzähler im Thriller

Collins entwickelte auch das immer bekannter werdende Mittel mehrerer Erzähler, die ihre eigene Perspektive präsentieren – einige von ihnen können Personen sein, von denen wir (die Leser) selbst entscheiden müssen, ob wir ihnen vertrauen oder nicht. Im Vorwort zu “Der Monddiamant” drückt Collins diesen revolutionären Schritt in seinen eigenen Worten aus:

“In diesem Roman wird ein Experiment versucht, das (soweit ich weiß) bisher in der Belletristik noch nicht versucht worden ist. Die Geschichte des Buches wird durchgehend von den Figuren des Buches erzählt.”

Das Fehlen eines allwissenden Erzählers versetzt den Leser in eine unangenehme Lage, in der die Erzähler, auf die wir uns verlassen, in Wirklichkeit der Mörder sein könnten, den wir gerne gefasst hätten. Wie in “Gone Girl”, wo die abwechselnden Erzählungen von Nick und Amy dazu dienen, widersprüchliche Standpunkte darzustellen, hält diese Technik den Leser im Ungewissen und lässt ihn die Legitimität der einzelnen Figuren in Frage stellen. Dies hat einen großen Anteil an der fesselnden Lektüre, die wir uns von Psychothrillern erwarten. Auf diese Weise leistete Collins Pionierarbeit für das, was ein früher, aber kluger Kritiker als die Fähigkeit bezeichnete, “sein Publikum in Unbehagen zu versetzen, ohne ihm den Grund dafür zu verraten”.

Seine Bücher besitzen eine Lebendigkeit, die im modernen psychologischen Thriller weiterlebt.

Thriller lassen sich in viele verschiedene Untergenres und Kategorien einteilen, und wir haben hier nur an der Oberfläche gekratzt. Das Genre hat sich im Laufe der Jahre an vielen verschiedenen Orten und in viele verschiedene Settings aufgeteilt. Im Großen und Ganzen hat es James Patterson am besten ausgedrückt, als er in seinem 2016 erschienenen Buch “Thriller: Stories to Keep You Up All Night” sagte:

“Thriller bieten ein so reichhaltiges literarisches Festmahl … diese Offenheit für Erweiterungen ist eine der beständigsten Eigenschaften des Genres. Was bei aller Vielfalt der Thriller jedoch allen gemeinsam ist, ist die Intensität der Gefühle, die sie hervorrufen, insbesondere die der Beklemmung und des Hochgefühls, der Aufregung und der Atemlosigkeit, die alle darauf abzielen, den so wichtigen Nervenkitzel zu erzeugen. Wenn ein Thriller nicht spannend ist, erfüllt er per definitionem nicht seine Aufgabe.”


James Patterson: Thriller – Stories To Keep You Up All Night (Zitat übersetzt von Michael Perkampus).

Stephen King Re-Read: The Stand

Das letzte Gefecht (The Stand) war ein Meilenstein für Stephen King, und das nicht nur, weil die Größe und das Gewicht des Buches einem tatsächlichen Meilenstein in nichts nachsteht. Es war das letzte Buch für den Verlag Doubleday und brachte ihm seinen ersten Agenten ein, der Stephen King von einem reichen Autor zu einem sehr, sehr reichen Autor machte. In schreibspezifischer Hinsicht gibt es jedoch einen anderen Punkt, der das letzte Gefecht über alles stellt, was der Autor bis dahin geschrieben hatte: es ist lang. Sehr lang. Und das ist wichtiger als man zunächst annehmen mag.

Nachdem King seinen Roman Shining beendet hatte, dauerte es einen Monat, bis er mit seinem nächsten Buch begann: The House on Value Street. Darin sollte es um die Entführung der Verleger-Tochter Patty Hearst gehen. King war der Meinung, dass diese Entführung nur für einen Romancier Sinn ergeben könnte. Doch nach sechs Wochen Arbeit schaffte er nur ein paar Zeilen. Was aber noch schlimmer ins Gewicht fiel für einen charakterbasierten Schriftsteller wie King: seine Figuren fühlten sich leblos an und aus anderen Büchern entlehnt. So saß er vor seiner toten Schreibmaschine, umgeben von Recherchematerial und dachte an den Dugway-Vorfall von 1968. In diesem Dugway-Areal kam es zu einem Unfall: die Army hatte bei einem Nervengas-Test zufällig 3000 Schafe getötet. Er dachte auch über George R. Stewards Buch Leben ohne Ende nach, in dem eine Pandemie fast die ganze Menschheit auslöscht. Außerdem erinnerte er sich an etwas, das er vor kurzem bei einem christlichen Radiosender gehört hatte: “Einmal in jeder Generation wird die Plage über sie kommen.”

Diese drei Ideen wirbelten durch seinen Kopf und manifestierten sich in dem Konzept des “Dunklen Mannes” Randall Flagg. Die Figur basierte auf dem Symbionese Liberation Army-Anführer Donald DeFreeze. King begann mit dem, was er selbst Automatisches Schreiben nennt – und zwei Jahre später war The Stand geboren.

King beschrieb Das letzte Gefecht als sein sehr persönliches Vietnam, einen endlosen Konflikt, den er manchmal regelrecht hasste, den er aber – wie es aussah – nie beenden würde können. In der Zwischenzeit galt es noch, seine hungrigen Verleger bei Doubleday mit der Sammlung Nachtschicht zufriedenzustellen, die aber einen neuen Roman von ihm forderten. Als King mit The Stand fertig war, war er außerordentlich stolz darauf. “Das Buch scheint alles zusammenzufassen, was ich zu diesem Zeitpunkt zu sagen hatte”, erklärte er in einem Interview. Es war genau das, was er wollte: ein Epos von epischer Ewigkeit.

“Ich wollte den Herr der Ringe mit einem amerikanischen Hintergrund machen!”

behauptete er später, und er fügte hinzu, dass er sich zu dieser Aussage vorher nicht hatte hinreißen lassen, falls das Buch nämlich zu einem Desaster werden würde. Denn zu Beginn sah alles danach aus.

Das ursprüngliche Buch war nahe an 1200 Seiten, aber die Doubleday Druckwerke konnten nur 800 Seiten drucken. Also stellte ihm der Verleger ein Ultimatum: Doubleday würde das Buch nicht akzeptieren, es sei denn, es würde um ein Drittel gekürzt. Entweder er nähme selbst 400 Seiten raus oder sie würden es machen. King entschloss sich dazu, die Kürzung selbst vorzunehmen, aber das war der sprichwörtliche Tropfen zu viel. The Stand war das letzte Buch, das bei Doubleday erscheinen würde, denn Kings Vertrag lief damit aus. Sofort heuerte King den Agenten Kirby McCauley an und forderte einen Vertrag über 3 Bücher und 3,5 Millionen USD. Doubleday weigerte sich, über 3 Millionen zu gehen, und das war genau das, was King sich erhofft hatte. Er hatte sich schon längst darüber beklagt, dass ihn der Verlag nicht genügend respektierte, obwohl er dessen Taschen füllte. Von McCauley wurde nun Kings “Umzug” zu New American Library, Kings Taschenbuch-Verlag, in die Wege geleitet, die die Hardcover-Lizenz an Viking übergaben. In der Folge feuerte Doubleday den King-Entdecker und Verleger Bill Thompson.

Auf den ersten Blick ist Das letzte Gefecht kein allzu vielversprechendes Buch. Es ist ein Lobgesang auf ein ländliches Amerika und hat eine fast kindisch-schematische Handlung. Versehentlich entfesselt das Militär eine biologische Waffe (mit dem Spitznamen “Captain Trips”) und räumt damit Amerika ab. Der Rest der Welt wird in einem kurzen Kapitel entsorgt. Ein paar tausend Amerikaner sind natürlich immun gegen die Seuche, und das Buch folgt einigen von ihnen, wie sie sich aus den Trümmern graben. Geleitet von prophetischen Träumen versammeln sich die “Guten” auf einer Farm in Boulder, wohin sie von Mutter Abigail, einer heiligen 108-jährigen Afroamerikanerin, geführt werden. In der Zwischenzeit werden die “Bösen” von Randall Flagg angezogen und haben ihr Lager in Las Vegas eingerichtet.

Der Rest des Buches folgt den glaubensbasierten “Guten” der freien Zone Boulder, die zu ihrer mystischen Reise aufbrechen, um das technokratische Las Vegas und deren Gruppe um Randall Flagg zu zerstören. Die hat sich mit Kampfjets und Nuklearwaffen eingedeckt. Am Ende berührt die Hand Gottes eines dieser nuklearen Geräte und jeder vor Ort stirbt. Die letzten 60 Seiten haben wirklich etwas von Tolkiens “Rückkehr des Königs”. Drei der Helden (zwei Männer und ein Hund) kehren nach ihrem Abenteuer nach Boulder zurück. Allerdings finden sie ihr Zuhause so verändert vor (oder sie selbst haben sich durch ihre Erlebnisse so verändert), dass sie dort nicht bleiben können. Um wirklich ihren Frieden zu finden, schlagen sie sich in die Wildnis.

“Ich litt unter einem regelrechten Karriere-Jetlag”, sagte King über die zwei Jahre, in denen er an dem Buch schrieb.

“Vier Jahre zuvor hatte ich noch in einer Wäscherei für 1 Dollar 60 die Stunde Laken zusammengelegt und Carrie im Hinterzimmer eines Wohnwagens geschrieben. Plötzlich dachten all meine Freunde, ich sei reich. Das war schlimm genug; das Schlimmste an der Sache war, dass es vielleicht sogar stimmte. Die Leute begannen mit mir über Investitionen zu sprechen, über Steueroasen, über den Umzug nach Kalifornien. Das wären genug Veränderungen gewesen, die ich zu meistern hätte, aber ganz zuoberst gab es das Problem eines Amerikas, in dem ich aufgewachsen war und das nun unter meinen Füßen zu zerbröckeln schien.”

Bedrängt von finanziellen und lebenstechnischen Komplikationen, von denen er noch nicht einmal zu träumen wagte – angefangen damit, dass er sich überlegen musste, was er mit dem ganzen Geld anfangen wollte, bis zu der Frage, wie er mit den Legionen neuer “Nummer-eins-Fans” umzugehen gedachte – lebte King ja auch in einer Welt mit wachsender Inflation und steigenden Ölpreisen, willkürlichen Terrorakten, dem Aufkommen der Legionärskrankheit, Plünderungen, die es in New York während eines Stromausfalls gab. Es war ein kompliziertes Leben für einen Mann, der vor 5 Jahren noch in einem Wohnwagen hauste. Ein kompliziertes Leben in einer immer komplizierter werdenden Welt. Aber er konnte diese verworrene Welt und ihre Probleme nicht lösen. Also hat er das Nächstbeste getan: Er blendete alles aus und begann von vorne. Man kann den Spaß, den King dabei hatte, alles auszulöschen, förmlich spüren. Die schiere Freude an der ungezügelten Zerstörung zieht sich durch die erste Hälfte des Buches, vor allem in einem langen Kapitel über den pyromanischen “Müllmann”, der darin einige Öltanks abfackelt und eine ganze Stadt in Brand setzt.

Aber es gab da ein Problem mit der Handlung: wenn die ganze Welt endet, wird es noch genügend Ressourcen für die Überlebenden geben? Wie konnte er seine Figuren dazu bringen, etwas Sinnvolles zu tun? Es würde natürlich postapokalyptische Plagen geben, die Bevölkerung wäre völlig verstreut und würde sich möglicherweise mit ein paar kriminellen Mutanten herumärgern müssen. Aber was sollte der große Aufhänger für die Menschen sein, sich zusammenzufinden, um sich an diesem Konflikt zu beteiligen? Das Problem war, dass King nicht wollte, dass alles aussichtslos erschien. Seine Apokalypse sollte eine epische über einen Krieg der Seelen sein. Und die Lösung die er fand, war wohl eine der gebräuchlichsten in der gesamten Literatur: Träume.

Das organisierende Prinzip in der zweiten Hälfte des Buches sind also nicht die Plagen, sondern die Träume, die die “Guten” nach Boulder leiten und die “Bösen” nach Las Vegas. Schließlich musste er seine Figuren in Bewegung setzen, wo sie doch hätten bleiben können, wo sie gerade sind. Immer wenn King Gefahr lief, in dieses Fahrwasser zu geraten, streute er ein quasi-mystisches Erlebnis ein. Ob es sich um das Verschwinden Mutter Abigails handelt, den “Müllmann”, der eine nukleare Waffe entdeckt, Mutter Abigail, die ihre Gefolgschaft auf die Reise schickt, Nadine, die sich dazu entschließt, Boulder zu verlassen, um mit Randall Flagg ein Kind zu haben, Harold, der eine Bombe einsetzt – stets hat man das Gefühl, dass die Hand Gottes die Figuren in Bewegung hält. Sogar das Ende ist ein klassisches Deus ex machina, denn da taucht die Hand Gottes ja tatsächlich auf und greift in das Geschehen ein.

Die unaufhörliche Einmischung “von oben” ist eine der generellen Schwächen des Buches. Eine andere ist die stereotype Einteilung in gut und böse, schwarz und weiß, nett und gemein. Es gibt die guten Jungs in Boulder und die bösen Jungs in Las Vegas. Es gibt Menschen, die an das Gebet glauben und Menschen, die an Technik glauben. Und es hilft auch nicht gerade, dass die Figuren zu Beginn des Buches zweidimensional sind. Fran ist ein nettes, schwangeres Mädchen. Stu Redman denkt, er sei das Salz der Erde. Larry Underwood ist ein egoistischer Rockstar. King gerät hier in Gefahr, die Fehler aus Brennen muss Salem zu wiederholen – er scheint sie nur auszuweiten. Aber das täuscht. Je länger das Buch andauert, desto tiefer wird die Charakterzeichnung, die King ja ohnehin wie kein anderer beherrscht. King gibt seinen Figuren den Raum, den sie brauchen, um ihn selbst zu überraschen. Und damit überraschen sie natürlich auch den Leser. Am Ende ist nichts mehr übrig von den Gestalten, die sie zu Beginn noch waren. Selbst Mutter Abigail verliert ihre Gnade aufgrund ihres Stolzes. Und Larry Underwood wird zum Helden.

Das letzte Gefecht ist schließlich ein Buch, das durch seine epische Länge King in die Hände spielt, und der nutzt diese Länge nicht so sehr für eine eigentliche Handlung, sondern um seine Charaktere altern und reifen zu lassen. Wer das Buch zu früh abbricht, wird kaum in den Genuss kommen, diesen extremen Wandel und diese hervorragende Figurenzeichnung zu erleben. Für den ist das Buch bereits in seinen Anfängen viel zu lang. Doch King benötigt jede Seite seines Romans, um seine Figuren überzeugend in eine dritte Dimension hineinwachsen zu lassen, und um seine Leser von seinem genreübergreifenden Konzept zu überzeugen.

Die deutsche Version ist bei Heyne erhältlich.