Flamboyant: 9 Mädchen aus Ebenholz

Die Berge bewegten sich, Nachtgeräusche drangen aus tiefen Falten, hingen im Gebüsch, in jedem Gesträuch. Kälte und Schmutz krochen durch die Röhren der Hemdsärmel und Hosenbeine. Flöhe, die einzigen Tiere weit und breit, degustierten Haut und Haar. Lichter sangen im Gebirge, manchmal ganz unverständliche Rufe aus der Ferne, dort, wo die Sauer uns begleitete. So viele einsame Seelen schweiften nach Hause, nach dem holzsatten Ofen, der dort ansässigen Katze, dem lieben, wirkenden Herzen, der Schwester, dem Bruder. Tagsüber leuchtete uns die Maisonne – gerade für dieses Wetter hatte man den Feldzug gegen Frankreich neunundzwanzig Mal verschoben – aber die Nächte in diesem hohen Wald fanden wir frisch. Davon abgesehen plagte uns die Müdigkeit mehr als die Gegenwehr der Gallier. Drei Tage schaufelten wir Pervetin in uns hinein, halluzinierten den Schlaf als eine Göttin im wallenden Kleid, die uns aus den Lüften winkte, mörderselig am dritten Tag. Aber fremder Boden ist jener, der dich verschlingt, der eine Grube auftut, dich einlädt, in seinen Sumpf zu steigen. Du steigst dann auch hinein und wartest, hältst Wache, weißt vor dir Dörfer, in denen man deine Sprache nicht versteht; dort sind sie jetzt aufgebracht, weil du vor ihren Türen liegst.

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Flamboyant: 8 Der flammende Bert

Place des Innocents: In der Rue Pierre-Lescot stand ein Koloss, eine griechische Skulptur aus Daidalus’ Werkstatt. Wuchtige Feuerstöße forderten das Staunen der Menge ein. Hier stand Babylons Sirrusch, einst abgebildet auf dem Ishtar-Tor, jetzt frei und gewaltige Hitze freisetzend. Warum hast du so große Hände, warum hast du so einen großen Mund?

Ein ganzes Bestiarium tanzte zähnebleckend. Pudel befanden sich auf ihren Hinterpfoten, aufgehübscht mit selbstgestrickten Pullovern in grellen Farben, Zwerge trommelten auf Bärenköpfen herum. Zunächst trat der Riese mit einer struppigen, großmäuligen Teufelsmaske auf. Die Schellenklingeln an den Füßen der Harlekin-Leute überschlugen sich. Dann legte er seinen grellroten Kapuzenmantel ab, während die Harlekins ihr Charivari durch die Gassen trugen.

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Flamboyant: 7 Madeleine Ledoyen

Beinahe hätte er es Ella gestanden, ihr von der Blumentapete neben seinem Bett erzählt, die dafür verantwortlich war, dass er an allem zweifelte, was als gegeben hingenommen wurde. Er stellte sich vor, wie er sagte : »Die Muster verändern sich, die Tapete ist organisch. Ich weiß nicht, ob andere es können, aber ich kann durch sie hindurch gehen, ich schlüpfe einfach durch den Wirrwarr der Blumen. Manchmal bin ich gar nicht weit von der uns bekannten Welt entfernt, nur ein bisschen nebenan. Es hängt von der Musik ab, die ich höre, glaube ich. In der Ferne steht eine Stadt, das ist die einzige Konstante. Ich weiß, dass sie sehr weit entfernt ist, eigentlich unerreichbar. Aber die Luft ist so über alle Maßen klar, dass man ihre Mauern sehen kann.«

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Flamboyant: 6 Zurück im Paradies

1967 fiel es Willi Kreutzmann nicht schwer, das ganze Leben als eine Folge von Zufällen zu betrachten, die schließlich auch den Reiz eines Glücksspiels ausmachten. Er fühlte sich ganz und gar wohl in seiner Zeit. Mit seinen langsam aber stetig wachsenden Haaren, den unmöglichen Koteletten, brachte er zwar die anständigen Bürger gegen sich und seine Familie auf, aber niemand versuchte, ihn zu steinigen oder an einem Ast aufzuknüpfen. Der ein oder andere mochte sich fragen, was er denn daran fand, ein Gammler zu sein, wo es doch keine Veranlassung dazu gab. Soweit er wusste, hatte sich nur Wilme Penning, die unter ihnen im Parterre mit zwei plüschähnlichen Hunden lebte, dazu durchringen können, sich zumindest darüber zu informieren, ob es denn nicht strafbar sei, sich … nun, eben … wie ein Gammler herumzulaufen, ob es denn nicht ein Gesetz gegen diese Zumutung gab. Selbstmord sei ja schließlich auch nicht erlaubt, argumentierte sie, fand aber kein Gehör, obdoch sie ihr Anliegen recht sachlich hervorzubringen wusste. Als sie bei der Polizei abgeblitzt war, versuchte sie es beim Gesundheitsamt. Läuse und Ungeziefer wollte sie aus der Kreutzmann-Wohnung herauskrabbeln gesehen haben und selbst ihre Strick-und Häkelfreundin Lore könne bestätigen, dass es neuerdings Mäuse im Haus gab, was ja nicht von ungefähr kommen könne. Sie bedaure es bisweilen, keine Katze halten zu können, wegen der Hunde doch!

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Flamboyant: 5 Zeitschaltung

»Was machst du da? Du durchwühlst doch nicht etwa Schubladen?« Ella stand an der Tür und hatte festgestellt, dass sie verschlossen war, dass Maltes Eisenbahner-Wohnung einer Festung glich, denn auch die kleinen Fenster ließen sich nicht dazu bewegen, eine Verbindung nach draußen herzustellen.

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Maurizio De Giovanni: Der Winter des Commissario Ricciardi / Maurizio De Giovanni

„Ich will Blut, mein Zorn soll wirken, im Hass wird all meine Liebe enden.“

Das sind die letzten Worte, die der 31-jährige Luigi Ricciardi, Kommissar der Questura im faschistischen Neapel des Jahres 1931, von dem großen Tenor Arnaldo Vezzi hört. Sie stammen aus der Oper Pagliacci. Das wesentliche Detail, das die Fälle des Commissario Ricciardi seit Jahren in Italien zu einem großen Erfolg gemacht haben, besteht darin, dass der Tenor bereits tot ist, als Ricciardi diese Worte vernimmt, vorgetragen vom blutüberströmten und betäubten Geist des Opfers, der im Augenblick seiner Ermordung wie in einem Spuk gefangen ist. Ricciardi hat diese beunruhigende und unerwünschte Gabe seit seiner Kindheit: Die gespenstischen Bilder der Toten zu sehen. Nicht alle – nur die gewaltsam Verstorbenen, und nicht lange – nur in der Zeitspanne der extremsten Emotionen, in der die plötzliche Energie ihre letzten Gedanken offenbart.

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Das Schnarren der Feuerglocke

Als sie zum ersten Mal beobachtete, wie sich ein Vogel in vollem Flug über dem Haus in ein Skelett verwandelte, nahm sie sich noch nicht vor, das Haus selbst einmal zu inspizieren. Das kam erst, als sich das Phänomen wiederholte und als es einem ganzen Schwarm passierte. Sie blieb stehen, starrte über die ausgefransten Bäume in den Himmel, hörte noch die munteren Töne über das Tal springen und dann nichts mehr. Die skelettierten Segler fielen senkrecht herunter, auf das Dach, vermutete sie, oder vor die Haustür. Sie stellte sich vor, wie die zarten Knochen durch den Kamin flitzten und in der alten Asche einen Haufen bildeten, wie sich der Staub in diesem leeren Raum verteilte, zu einem Gesicht wurde, das sich dort zwar immer aufhielt, aber nie zu sehen war, weil seine Substanz vor langer Zeit schon niemanden mehr hatte, der sich an sie erinnerte.

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Wolf aus Erz: 4 Er hatte die Welt verlassen

Erneut stieg Adam in seinen Kaninchenbau hinab. Dazu brauchte es nicht viel. Einfach den Blick auf ein Farbpigment gerichtet, und schon sah er sich und seinen Bruder zurück in ihre Betten schlüpfen, obwohl das gar nicht zur Dramaturgie der Fotografie gehörte. Noch war nichts geschehen, Helmut noch nicht gefressen worden. Nur der Wolf war schon da. Er forderte durch seine Existenz, ab jetzt aufmerksam zu sein, denn bald würde alles aus den Fugen geraten. Adam war verblüfft, wie frei er sich bewegen konnte. Er schlich an Lumpi vorbei – das war eigentlich ausgeschlossen. Wie ein Seismograph reagierte der nämlich auf jede kleine Veränderung. Der Kettenhund bemerkte ihn nicht und schlummerte mit der Schnauze auf seinen schwärenden, vom Kot verklebten Pfoten. Er winselte leise im Schlaf. Adam dachte darüber nach, ob er ihn befreien sollte, sozusagen als Test, ob er wirklich in der Vergangenheit vorhanden war. Er spürte sich gleichzeitig da oben auf der Couch sitzen (von einem Kaninchenbau aus gesehen, musste es oben sein) und hier neben dem elendig aussehenden Hund stehen. Er hob eine Hand vor sein Gesicht, um sie zu betrachten, hatte das Gefühl, den Arm zu heben, aber vergeblich. Er war unsichtbar, nur ein Gedanke, der durch längst vergangene Erinnerungen strolchte. Sein Körper saß in diesem Hotelzimmer und starrte ein Bild an, das sein Vater einst geschossen hatte. Trotzdem dachte Adam darüber nach, warum er nicht fror und keinen Schnee sah, wo doch das Bild ein Weihnachtsbankett zeigte. Oder irrte er sich? Befand er sich in der falschen Zeit, oder konnte er gar gehen, wohin er wollte?

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Wolf aus Erz: 3 Gefällt dir das Wort?

Adam bewegte sich in die Küche, lauschte dem murrenden Kühlschrank und dem tropfenden Wasserhahn, bevor er zum Fenster ging, so als hätte er eine Verabredung. Und die hatte er, nicht wahr? Zunächst suchte er das hohe Gras vor dem Fenster ab. Er versprach sich davon nichts Bestimmtes, folgte lediglich seinem Nichts an Gedanken. Vielleicht würde Lumpi, der an der Kette vor sich hin kümmerte, spüren, dass sich ihm jemand näherte und losblaffen, vielleicht würde Fridolin einen kleinen weißen Fleck neben dem Apfelbaum bilden und Adam damit zu verstehen geben, dass er ihn so schnell nicht losbekam. Wenn er darüber nachdachte, war es genau das, was er suchte. Eine Spur der philosophisch begabten Ratte. Aber er entdeckte statt dessen den Wolf. Zunächst war der Wolf kein Wolf, sondern ein blauschwarzer Baumstumpf, der vor dem Waldrand aus der Erde ragte. Wie ihre Form verändernde Wolken veränderte sich auch der Baumstumpf nach einer Weile und wurde zu seinem sitzenden Wolf, der das Haus beobachtete. Adam kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Der Baumstumpf blieb ein Wolf. Wenn er sich wenigstens bewegen würde, könnte er sich sicher sein. Aber nichts bewegte sich. In diesem Augenblick schlich Claus hinter ihn, seine zerknüllte Stoffwindel in der Hand, die er Lilly nannte. Beide hatten sie Pussy-Bären und konnten sie nicht ausstehen, sie imaginierten lieber in Kissen, Decken, Handtücher oder Windeln.

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Wolf auf Erz: 2 The Golden Trumpet

Adam betrachtet angestrengt das Foto in seiner Hand, das mit einer Instamatic, die nur zwei Belichtungseinstellungen kannte, aufgenommen wurde. Die Farben darauf wirkten rau und surreal – die Gesichter seiner Familie nicht weniger. Wie Geister blickten sie in die Kamera. Rückt zusammen, sonst bekomme ich euch nicht alle drauf! Geister, die sie damals noch nicht waren. Er hatte schon andere Bilder aus dieser Zeit gesehen, aber der Verdacht, dass es diese Vergangenheit überhaupt nie gegeben hatte, war dadurch nicht verflogen. Ganz im Gegenteil. Er konnte sich bedenkenlos Schwarzweißbilder ansehen, die seinen Vater beim Kartenspielen mit seinen Brüdern zeigten. Dabei bekam er nie dieses Gefühl eines verrückten Traumes. Fotografien bewiesen niemals die Gegenwart ihrer Objekte, war es nicht so? Es könnte also gut sein, dass er hier etwas in Händen hielt, das es nur in seiner Phantasie gab. Es war ja nicht so, dass er diesen Zustand nicht zur Genüge kannte. Hier wurde seine Erinnerung mit den abgebildeten Formen konfrontiert. Die Wartebank des Todes; schließlich waren alle in genau der Reihenfolge gestorben, in der sie an diesem festlich gedeckten Tisch saßen. Meine Güte, dachte er, wann war das? 1975, 76? Der Anlass war ein Weihnachtsfest, daran konnte er sich erinnern. Die Reste des fetten braunen Bratens standen noch in Anrichten auf dem Tisch herum, der, übersät mit Bierhumpen und Sektkelchen, die weiße Tischdecke kaum durchscheinen ließ. Adam wusste noch ganz genau, wie dieser Braten geschmeckt hatte. Das hatte sich ihm für alle Zeiten eingeprägt, und es war so ziemlich das Einzige, das er aus seiner Vergangenheit noch bei sich trug. Immer wenn er später den Braten selbst zubereitete, den Carisma – an diesem Tag mit Sebastiana gemeinsam wie in einer Alchemistenküche vorbereitete –, kam das einem Ritual gleich, das nahezu religiöse Züge annahm. Dabei hatte er das Rezept nie wirklich gekannt. Er erinnerte sich lediglich an den Geschmack, diesen satten, waldig-fleischigen und deftig-süßen Geschmack. Die Geister tanzten nicht nur auf seiner Zunge herum, sie spukten durch seinen ganzen Körper und beeinträchtigten seine Wahrnehmung, angesteckt von Gefühlen, die gar nicht die seinen waren.

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