Brouillon

Hottingers Gespenster

Endlich habe ich mit den Analysen zu verschiedenen Gespenstergeschichten beginnen können. Es ist auch diesmal so, dass ich das Thema interessant für ein eigenständiges Weblog halte, allein schon, um bei Interessierten keine Verwirrung zu stiften. Das ergeht mir bei den meisten Themen so, aber die Vergangenheit hat gezeigt, dass all diese Versuche sinnlos waren, das heißt, einer falschen Prämisse folgten, die dann natürlich hinaus ins Nichts flog (gut, es gibt gar kein „Nichts“, aber als Metapher taugt der Vergleich allemal).

Die einst verlustig gegangenen Hottinger-Gespenster sind wieder in der Bibliothek.
Einer der ersten „early morning’s dawn“ in diesem Jahr.
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Darsteller

Man könnte sich mit der Natur verbinden, und wann immer ich – selten genug – einmal umringt bin vom Rauschen des Wassers, von Vogelstimmen und Bäumen – klärt sich mein Blick für ein Damals, das ich zur Gänze hinter mir weiß. Obwohl ich nicht mehr obsessiv an einer Erinnerungskunst festhalte, die für mein eigenes Schreiben essenziell war, bin ich weiterhin nur an der Vergangenheit interessiert. Und das, obwohl gerade jetzt die spannenden Dinge geschehen, wo die Wissenschaft am Boden liegt und zugeben muss, nichts erreicht zu haben. Gut, sie haben Schlaftabletten erfunden … und die professionelle Zahnreinigung.

Eine interessante Passage bei Paula Hawkins‘ „Die blaue Stunde“ (die ich jetzt am Morgen fertig gelesen haben werde), erinnert mich daran, wie ich von einem offensichtlich fremden Mann aus der geheiligten Schulstraße 5a geholt wurde, von dem man behauptete, er sei mein Vater. Das stimmte zwar, aber ich war die ersten drei (vielleicht nur zwei) Jahre nicht mit ihm konfrontiert gewesen.

Hawkins schreibt:

Als ihre Eltern sie am nächsten Morgen abholen wollten, bekam sie eine Riesenpanik. Sie wollte nicht mit ihnen mitgehen und klammerte sich heulend an die Stationsschwester. Sie war davon überzeugt, dass das nicht ihre wahren Eltern waren, dass ihre echten Eltern sie im Stich gelassen hatten, dass sie sie nicht mehr wollten und an ihrer Stelle diese Eltern-Darsteller gekommen waren.

Das Verhältnis zu meinem Vater war immer dies: er war nicht mein Freund, hätte vielleicht nicht einmal mein Vater sein sollen. Etwas ist schief gelaufen, ich selbst nahm einen falschen Platz ein. In einer Parallelwelt hatte meine Mutter überlebt, weil sie einen anderen geheiratet hatte. Einen Vater, den ich als solchen damals womöglich erkannt hätte.

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Gedankenpaläste

Es ist die Gewissheit des Antiquarischen, des Vergangenen, das mich bei Laune hält. Es gibt ein unbestimmtes Gefühl, das im Jetzt schon seit Jahrzehnten nicht mehr existiert, eine Art Vertraulichkeit, die nicht aus der ersten Instanz abzuleiten ist (denn zum Beispiel zur Zeit der großen englischen Geistergeschichte habe ich nicht gelebt), sondern eher aus der später daraus resultierenden Form des Rezipierens (oder bereits des Präsentierens). Nehmen wir die drei Anthologien „Gespenster“, Mehr Gespenster“ und “ Noch mehr Gespenster“ – allesamt beim Schweizer Diogenes-Verlag erschienen (natürlich hat sie dort auch andere Anthologien hinterlegt). Der erste Band erschien in Übersetzung 1982 und deckte sich zu dieser Zeit auf denkwürdige Weise mit meinen Interessen. Je nachdem, wo man sich befand, hatte diese Zeit einen besonderen Charme. Für mich war zu jener Zeit alles geisterhaft, selbst die alten Micky-Maus-Hefte aus den 50er und 60er Jahren, die sich bei meinem Onkel in einer Truhe stapelten. Schon damals hatte alles Existierende einen Hauch des Vergänglichen und es war vielmehr das Abenteuer des Entdeckens. Es war mir ein Leichtes, den „Geist“ (eben das Geisterhafte“) in der Präsenz von Büchern, Hörspielen oder Comics (und selbst in den damals uns Kindern angedachten TV-Serien), zu erfühlen. Die Aufregung einer anderen Welt schwang da immer mit. Der wirklichen Welt, nicht der, von der wir ständig lauteren Unsinn erzählt bekamen. Ich glaubte zwar damals schon nichts, was man in der Schule erzählte, aber ich weiß eben erst jetzt, dass der Besuch einer solchen Institution (abgesehen von schreiben und rechnen) völliger Nonsense ist. Sicher, das macht einen gehörigen Teil meiner Wut aus. Man fügt sich und gibt wieder, was andere hören wollen, damit man sich keine Steine in den Weg legt (nun, in meinem Fall waren diese ganzen Geröllhalden dennoch präsent, aber das ist eine andere Geschichte). Aber die Gedankenpaläste!

Heute ignoriere ich die meisten Neuheiten, damals waren sie ein Vademecum. Es hat sich etwas daraus entwickelt, das mich heute auf die Suche gehen lässt. Und so habe ich die drei Hottinger-Bände neu entdeckt.

Journal

Die Engelmacherin

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Unvorhersehbares

Ich weiß nicht, wann ich den Kurs aus den Augen verloren habe. Natürlich war und ist der Weg auf kein Ziel aus (vielleicht, die Verdammnis abzustreifen), er schlängelt und mäandert (was in etwa dasselbe ist), aber was wäre die Sprache ohne mich? Sie scheint eine Göttin zu sein, nicht nur eine Muse. Dass die Welt aus den Fugen geraten wird, war mir bereits bei meiner Ankunft klar. Es war notwendig, ein Bein hier und ein Bein dort zu haben, aber ich war auf das Ende der Welt nicht gut vorbereitet. Ich kann weitere Zauber folgen lassen, denn sie sind alles, worum sich mein Leben dreht. Es gibt zwei Schreiber in mir: einen, der billig vor sich hin brütet (wie jetzt gerade), und einen, der die Sprache als Treppe nutzt – nicht hinaus, nicht hinab, sondern überallhin. Vielleicht haben mich die Exzesse verlassen; was wollen sie auch von einem alternden Dichter. Wohin ging mein Protagonist, nachdem er Raha erreicht hatte, und vor allem: was ist Raha überhaupt. Natürlich geraten die Sumerer wieder in den Fokus, weil sie schließlich die Wiege unserer Neuzeit sind.

Die Gedanken sind gut – sie sind wie Wasser und sie müssen vollendetes Chaos sein. Kommen und gehen. Unvorhersehbar.

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Abweichungen

Warum weicht meine Arbeit so sehr von dem ab, was ich lese? Es ist eine einfach zu beantwortende Frage: Ich benutze Sprache als ein Instrument der Wahrnehmung und der Magie. Diese Zeiten sind für den Mainstream aber längst passè. Wenn ich lese, interessieren mich andere Dinge, zum Beispiel, wie mein Unterbewusstsein auf die dargebotene Erzählung reagiert und was sich daraus ableiten lässt. Literatur ist eine völlig persönliche Entscheidung (oder eine völlig individuelle Suche), weshalb auch kein Zweiter jemals die gleichen Bücher lesen wird. Eine Bibliothek ist wie ein Abdruck des eigenen Geistes in der Matrize des Universums. Manches gleicht ihm, manches kommt ihm nahe, aber nichts wird ihm ganz entsprechen können.

Bis auf wenige Ausnahmen interessiere ich mich nicht für moderne Bücher; die Ausnahme sind eben jene, die zurückgreifen und die Erzählung dort ansiedeln, wo es noch Zeit gab, also vor dem Jahr 2000. Nun, das (angebliche) Fließen der Zeit ist nicht der Punkt, sondern die Substanz der Jahrzehnte.

Im Sinne von Brian Greene wird das so ausgedrückt:

„Wenn ich meine Teekanne bewege, ist dieses Gefühl absolut real. Aber das ist auch alles, was es ist. Es ist eine Empfindung.“

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Verdrehte Nacht

Heute Nacht schlief ich zum Beispiel erst ein, als ich bereits wieder aufstehen wollte, gegen vier Uhr. Das sind ziemlich extreme Verlagerungen, und dementsprechend bin ich heute auf den Beinen. Aber die Sonne scheint gerade zum ersten Mal auf diese Weise durch die Fenster und kündigen den baldigen Frühling an. Zumindest ist das der Plan.

Verblüfft bin ich gegenwärtig von der baskischen Schriftstellerin Eva García Sáenz, deren „Stille des Todes“ von 2016 ich gerade lese, aber dazu werde ich gesondert noch kommen.

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Neuer Aktionismus

Now spinning: Herbie Hancock / Inventions & Dimensions. Zwar habe ich das Vinyl, aber die CD im nachhinein in einer Box noch einmal nachgekauft. Man kommt so wenig zum Plattendrehen.

Mein Aktionismus, täglich um 4 Uhr von der Matratze zu springen wurde auch heute wieder um zwei Stunden verlängert. Es scheint mir nur jeden zweiten Tag zu gelingen. Indes halte ich all meine Tätigkeiten mittlerweile für absurd. Aber mein Wesen ist natürlich auch völlig zerfetzt und verteilt über andere Seiten und Podcasts. Überall tauchen die gleichen Unzulänglichkeiten auf: das zersplittern in Themenfragmente, die ich nicht zusammenbekommen kann (oder will). Die Veranda war einst ein Hort, an dem sich alles fügte, aber mit der Zeit wurde die Themenpalette zu einem unkontrollierbaren Monster. Trotzdem bin ich versucht, das Ur wieder zu erreichen, aus dem dann folglich alles entspringt (oder wieder zurückkehrt). Da ich niemand bin, der mit seinen Inhalten Massen begeistert (dieser Kelch ist an mir vorübergezogen), dürfte es mir an und für sich (als Kind verstand ich immer „an und Pfirsich“, sobald meine Großmama diese Trope bemühte) egal sein, und ich bin bis heute nicht dahintergestiegen, warum es mir im Innern dann doch zu widerstreben scheint.

In den letzten Jahren habe ich mich (abgesehen von einigen Erzählungen für Magazine oder Bücher) mehr und mehr dem Essai verpflichtet gefühlt als meiner originären Arbeit, die gegenwärtig für mich abgeschlossen scheint. Es entstand vor in paar Tagen noch das „Tollhaus“, aber auch das war eher der Versuch, die Ebene hinter einem Essai zu erfassen und sie mit meiner Stilistik zu verknüpfen, als ein persönliches Werk der Wahrnehmung. Das ist vielleicht das, worauf ich mein Augenmerk künftig richten sollte: von Innen nach außen zu gelangen. Und das Journaling wieder aufzunehmen.

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Kein Jammer

In den letzten Monaten waren hier viele Anomalien am Nachthimmel zu beobachten gewesen. Seltsam scheint es mir, dass dieses weltweite Phänomen hierzulande nicht wahrgenommen wurde; wobei: was man nicht wahrnimmt, darüber kann man schwerlich sprechen. Gerade die Deutschen sind ein sehr dummes Volk. Das Mond tat ebenfalls, was er wollte, obwohl das nicht stimmen kann, weil sonst alle Wasser aus der Büchse geschwemmt wären, unser eigenes hätte uns wohl das Gehirn zertrümmert. Kein Jammer.

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Kein Kontakt

Die Zeit wird knapp, in aller Welt werden Bunker geschaufelt. Was aber hat das zu bedeuten? Der Brei der Massen vegetiert in aller Dummheit vor sich hin. Nie war die Welt uninformierter wie jetzt, was selbstverständlich ein Paradox ist, das wir uns selbst zuzuschreiben haben. Ich selbst bin mir noch nicht einig mit mir selbst, was ich von alldem zu halten habe. Natürlich ist es mir ein striktes Anliegen, keine persönlichen Kontakte zu pflegen. Keine. Gar keine. Die Gesellschaft in ihrem Primatendasein stört mich. Aber sie weiß nichts von mir, und das ist ein Segen. Dennoch suche ich die Anderen, und ich höre ihnen zu, so weit sie auch entfernt sein mögen (und sie sind tatsächlich weit entfernt). Aber wir werden uns nie begegnen, so wie ich den Toten nie begegnen werde, deren Bücher ich lese. Nun, ich lese auch manche, die noch am Leben sind, aber nur, um mich mit den Toten über sie zu unterhalten. Sie finden das witzig, wie ich selbst. Aus einer selbstgewählten Isolation heraus darf man hingreifen, wohin man möchte. Alles ist Zeichen, die Werte unterschiedlich. Weder oben noch unten.

No Contact

Time is running out, bunkers are being dug all over the world. But what does it mean? The masses are vegetating in stupidity. The world has never been as uninformed as it is now, which is of course a paradox that we have only ourselves to blame. I myself am not yet sure what to make of all this. Of course, I’m very careful not to cultivate any personal contacts. None. None at all. Society in its primacy bothers me. But it knows nothing about me, and that is a blessing. Nevertheless, I look for others and I listen to them, however far away they may be (and they are indeed far away). But we will never meet, just as I will never meet the dead whose books I read. Well, I read some who are still alive, but only to talk about them with the dead. They find it funny, as I do. From a self-imposed isolation you can go wherever you want. Everything is a sign, the values are different. Neither above nor below.

Bouquinist

Kurzformen. Babylon, Borges, Buenos Aires / Ricardo Piglia

Ricardo Piglias Essay „Kurzformen. Babylon, Borges, Buenos Aires“ – im Original Formas Breves -, ist ein Schlüsseltext, der die Kraft und den Reiz der Kurzform in der Literatur untersucht. Piglia, einer der bedeutendsten Schriftsteller der lateinamerikanischen Literatur, beherrscht die Kunst, komplexe Gefühle und Botschaften auf engstem Raum zu verdichten. Seine Analyse konzentriert sich auf die literarischen Techniken, die in Kurzgeschichten, Mikrogeschichten und Essays zum Einsatz kommen, und zeigt, wie diese Formen ein reichhaltiges und tiefgründiges literarisches Werk ermöglichen.

Kurzformen in der Literatur sind ein wirkungsvolles Mittel, um auf knappem Raum intensive emotionale und intellektuelle Eindrücke zu erzeugen. Piglia sieht in diesen Formen nicht nur ein Instrument der Verdichtung, sondern auch ein Medium, um komplexe Themen wie Identität, Erinnerung und Politik zu erforschen. Seine Kurzgeschichten und Essays bieten dem Leser literarische und kulturelle Bezüge, die trotz ihrer Tiefe zugänglich und spannungsgeladen bleiben.

Piglia argumentiert, dass große Kurzgeschichten immer zwei Geschichten enthalten: eine sichtbare und eine verborgene, die erst durch die Interpretation des Lesers zum Vorschein kommt. Diese narrative Struktur macht die Kurzgeschichte zu einem idealen Medium, um dichte Bedeutungsschichten zu erzeugen, wie es auch Jorge Luis Borges meisterhaft demonstriert hat.

Dabei handelt es sich bei der Theorie der „zwei Geschichten“ um ein zentrales Konzept, um die narrative Struktur zu beschrieben, bei der zwei Geschichten gleichzeitig erzählt werden:

a. Die sichtbare Geschichte

Die erste Geschichte liegt an der Oberfläche der Erzählung. Sie ist direkt wahrnehmbar, weil sie explizit erzählt wird. Diese sichtbare Geschichte dient oft als eine Art Rahmen oder Kulisse, die den Leser in die Erzählung hineinzieht. Sie ist in der Regel einfach, handlungsorientiert und leicht verständlich.

Beispiel: In einer klassischen Detektivgeschichte könnte die sichtbare Geschichte die Suche eines Detektivs nach dem Täter sein. Sie gibt der Erzählung eine klare Struktur und vermittelt einen offensichtlichen Handlungsverlauf.

b. Die verdeckte Geschichte

Die zweite Geschichte ist subtiler und liegt unter der Oberfläche. Sie wird nicht direkt erzählt, sondern entsteht durch Anspielungen, Symbole und Leerstellen im Text. Diese verborgene Geschichte erfordert die aktive Beteiligung des Lesers, der die verschiedenen Hinweise zusammensetzen muss, um die tiefere Bedeutung oder den subversiven Inhalt der Erzählung zu entschlüsseln.

Beispiel: In derselben Detektivgeschichte könnte die versteckte Geschichte Fragen über Gerechtigkeit, Macht oder die subjektive Natur der Wahrheit aufwerfen. Während der Ermittler den Fall löst, könnte die Erzählung gleichzeitig die gesellschaftlichen Strukturen kritisieren, die solche Verbrechen ermöglichen.

c. Das Zusammenspiel der beiden Geschichten

Piglia argumentiert, dass große Kurzgeschichten von diesem Spannungsverhältnis zwischen sichtbarer und verborgener Geschichte leben. Die sichtbare Geschichte erfüllt eine funktionale Rolle: Sie sorgt für den äußeren Fluss der Handlung und macht die Geschichte für den Leser greifbar. Die verborgene Geschichte hingegen öffnet den Raum für Interpretationen und spiegelt tiefere Themen oder Botschaften wider.

Dieses Konzept lässt sich gut in den Werken von Jorge Luis Borges nachvollziehen. Ein Beispiel ist die Erzählung Das Haus des Asterion (La casa de Asterión), die auf den ersten Blick die Geschichte eines einsamen Wesens erzählt, das durch ein Labyrinth irrt. Erst am Ende wird enthüllt, dass es sich um den Minotaurus handelt – und damit entfaltet sich die verborgene Geschichte, die philosophische Fragen über Isolation, Opferbereitschaft und die Perspektive von Monstern aufwirft.

Borges als Prototyp der Kurzformen

Jorge Luis Borges nimmt in Piglias Essays eine zentrale Stellung ein, denn für Piglia ist er ein Pionier der literarischen Verdichtung, der mit minimalistischen Mitteln universelle Themen wie Unendlichkeit, Zeit und Wissen verhandelt. Werke wie Die Bibliothek von Babel oder Das Aleph sind hierfür Paradebeispiele für Kurzformen, die auf engstem Raum eine immense Bedeutungsfülle entfalten. Die Verbindung von Piglia und Borges ist in Piglias Werken überhaupt ziemlich prominent, was unter anderem auch an Buenos Aires liegt, jene Stadt also, die für Piglia selbst eine wichtige Inspirationsquelle darstellt. Die urbane Komplexität und kulturelle Hybridität der Stadt ist für beide Autoren ein Ort, an der das Lokale und das Universelle miteinander verschmelzen wie in Europa eventuell Paris.

Buenos Aires und die literarische Tradition

Die Stadt Buenos Aires wird von Piglia folgerichtig als literarischer Schmelztiegel und als Metapher für die Erzählkunst selbst beschrieben. Buenos Aires ist für ihn eine Art modernes Babylon, in dem Geschichten, Sprachen und Kulturen aufeinanderprallen und neue Erzählformen hervorbringen. In diesem Zusammenhang hebt Piglia an verschiedenen Stellen die Werke exzentrischer Autoren wie Roberto Arlt und Macedonio Fernández hervor, und sogar den polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz, deren unkonventionelle Texte die literarische Landschaft Argentiniens geprägt haben.

Piglia geht es aber nicht nur um Borges oder andere Dichter, sondern um die grundlegenden Strukturen und Funktionen der Literatur. Seine Analysen zeigen eine tiefe Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der kurzen Form, die er als eine Art „Mikroskop der Literatur“ betrachtet: Sie fokussiert die Essenz von Geschichten, destilliert Bedeutungen und schafft Raum für Reflexion.

Seine Fähigkeit, eine Vielzahl von Themen auf wenigen Seiten zu verdichten, ist ein Kennzeichen seines Stils. Seine Kurzformen laden den Leser ein, die Lücken selbst zu füllen, Bedeutungen zu entschlüsseln und Zusammenhänge herzustellen. Dabei setzt Piglia stets auf einen intertextuellen Ansatz, in dem seine Texte auf ein weites Netz literarischer und kultureller Bezüge zurückgreifen.

Die deutsche Ausgabe von Formas Breves, übersetzt von Elke Wehr, erschien im Jahr 2006 bei Berenberg.